Die Krise in der Ukraine und das Dilemma von Joe Biden

Von Dr. Walter Post

Die gegenwärtig erneut aufgeflammte Krise um die Ukraine wird von den deutschen Mainstream-Medien, aber auch von „Tichys Einblick“ und der „Achse des Guten“, falsch und unvollständig dargestellt.

Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine ist seit langem miserabel, das wirtschaftliche System des Landes kann man eigentlich nur noch als „Kleptokratie“ bezeichnen. Wolodymyr Selenskyj, von Beruf eigentlich Komiker und Kabarettist, wurde im Frühjahr 2019 zum Präsidenten der Ukraine gewählt, weil er wirtschaftliche Reformen, Bekämpfung der Korruption und eine Verbesserung des Verhältnisses zur Russischen Föderation versprach. Vor diesen Versprechungen hat Selenskyj kein einziges einhalten können. Jegliche Wirtschaftsreformen und jegliche Korruptionsbekämpfung scheiterten an der ungebrochenen Macht der ukrainischen Oligarchen, der eigentlichen Herrscher des Landes. Eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau wurde von den extremen ukrainischen Nationalisten sabotiert. Diese Kreise haben auch eine Umsetzung des Minsker Abkommens vom Februar 2015, d.h. eine Verständigung zwischen Kiew und den Volksrepubliken Lugansk und Donezk in der Ostukraine verhindert. Selenskyj sah sich im Gegenteil im vergangenen Sommer genötigt, dem Druck der extremen Nationalisten (der „Ukronazis“) nachzugeben und einer Verstärkung der ukrainischen Truppen an der „Kontaktlinie“ (der Grenze zwischen der Ukraine und den Volksrepubliken Lugansk und Donezk) zuzustimmen, obwohl das Minsker Abkommen eigentlich eine Truppenreduzierung und die Schaffung einer neutralen Zone vorsieht. Die Verstärkung der ukrainischen Truppen ab dem März 2021 führte dann irgendwann zu einer deutlichen Zunahme von Feuergefechten mit Handfeuerwaffen, Mörsern und Artillerie die „Kontaktlinie“ hinweg. Selenskyj geriet zunehmend in ein Dilemma, da er sich gegen die „Ukronazis“ nicht durchsetzen kann und die wirtschaftliche Lage sich durch die Corona-Pandemie nochmals drastisch verschlechtert hat.

Zu diesem Zeitpunkt scheint die Regierung in Kiew auch aus Washington grünes Licht für weitere Truppenkonzentrationen in der Ostukraine gegeben zu haben, gleichzeitig informierte die amerikanische die türkische Regierung, daß sie beabsichtige, zwei Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse, die USS „Roosevelt“ und die USS „Donald Cook“ durch den Bosporus ins Schwarze Meer zu verlegen, womit der Ukraine offenbar der Rücken gestärkt werden sollte.

Offenbar hatten Selenskyj und einige seiner ukrainischen und amerikanischen Berater nun die Idee, die Grenzzwischenfälle weiter eskalieren zu lassen, bis es zu einer Neuauflage des offenen Krieges zwischen der Ukraine und den abtrünnigen Volksrepubliken kommen würde. In diesem Krieg könnte nun entweder die ukrainische Armee die Streitkräfte von Donezk und Lugansk schlagen und Kiew sich die beiden Provinzen wieder einverleiben, was die Popularität Selenskyjs enorm erhöht hätte. Oder der Krieg wäre für die Ukraine schlecht gelaufen, was Kiew die Möglichkeit geboten hätte, zusätzliche Hilfe Militär- und Wirtschaftshilfe aus den USA und der EU zu mobilisieren und rasch eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und der EU zu erreichen. Die NATO-Staaten sind aber bisher offiziell gegen eine Mitgliedschaft, da ihnen klar ist, daß sie sich mit der Ukraine eine Reihe von unlösbaren Problemen aufladen würden. Die Tatsache, daß in Washington wieder Joe Biden und die „Neocons“ an der Macht sind, die den Umsturz in der Ukraine 2014 tatkräftig unterstützt haben, schien aber für dieses Vorhaben eine einmalige Gelegenheit zu bieten. Joe Biden war in seiner Zeit als amerikanischer Vizepräsident eine Art „Vizekönig“ der Ukraine. [Alexander Mercouris, Desperate Zelensky Says Ukraine’s NATO Membership Should Be Fast-tracked. NATO Says No, The Duran 7. April 2021; https://theduran.com/desperate-zelensky-says-ukraines-nato-membership-should-be-fast-tracked-nato-says-no/]

Die amerikanischen „Neocons“, die in der Biden-Administration wieder zu Amt und Würden gekommen sind, hofften offenbar, durch eine militärische Eroberung der Ostukraine und neue wirtschaftliche Sanktionen gegen Rußland eine „Farbenrevolution“ und den Sturz Putins herbeiführen zu können. Dieser in Kiew und Washington entwickelte Plan enthielt aber einige grundlegende Schwächen, wenn nicht krasse Fehler.

Russland hat in den vergangenen Jahren die Kampfbereitschaft seiner Streitkräfte erheblich verbessert und seine Truppen an der Ostgrenze der Ukraine und auf der Krim massiv verstärkt. Die ukrainische Armee ist nach Meinung aller Beobachter in einem schlechten Zustand und nicht in der Lage, einer Offensive bzw. Gegenoffensive der Russischen Armee länger als wenige Tage zu widerstehen. Eine schwere militärische Niederlage im Donbass würde aufgrund der trostlosen wirtschaftlichen und finanziellen Situation wahrscheinlich zu einer Auflösung der staatlichen Strukturen der Ukraine führen. Eine Hoffnung auf eine Intervention der Amerikaner und der NATO ist mehr als gewagt, da Rußland in diesem Teil Osteuropas die „Eskalationsdominanz“ besitzt, d.h. Russland ist aufgrund der geographischen Lage militärisch derart überlegen, daß es den Einsatz seiner Kampfmittel bis hin zum Einsatz von taktischen Atomwaffen steigern kann, ohne daß die Amerikaner dagegen viel unternehmen können. Diese Tatsache hat niemand anderer als der frühere US-Präsident Barack Obama eingestanden.

Diese Gegebenheiten sind sowohl in Washington wie auch in Brüssel, London, Paris und Berlin bekannt. Die Zuspitzung der Krise und der gewaltige russische Aufmarsch gegenüber der Ostukraine haben in Berlin und Paris große Besorgnis ausgelöst. Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel haben per Videokonferenz mehrmals mit Präsident Wladimir Putin konferiert und in ihren offiziellen Stellungnahmen deutlich gemacht, daß sie die Verantwortung für die eskalierende Situation nicht bei Moskau sehen. Sie haben gleichzeitig ihren ganzen Einfluß in Kiew aufgeboten, um Selenskyj zum Rückzug und zur Einhaltung des Minsker Abkommens zu bewegen. [Alexander Mercouris, Ukraine War Called Off? Russia Confirms Putin-Zelensky-Merkel-Macron Ceasefire Summit Is Coming, The Duran 12. april 2021; https://theduran.com/ukraine-war-called-off-russia-confirms-putin-zelensky-merkel-macron-ceasefire-summit-is-coming/] Die Regierung in Kiew hat bisher, obwohl sie es unterschrieben hat, jede Umsetzung des Minsker Abkommens verweigert, da dies zumindest eine Teilanerkennung der Regierungen in Lugansk und Donezk bedeuten würde. Dies ist wird aber von den ukrainischen Nationalisten entschieden abgelehnt, und ihr Einfluß auf die ukrainische Regierung ist groß genug, um jeden Fortschritt zu verhindern.

In der vergangenen Woche wurde nun vom russischen Verteidigungsminister Armeegeneral Sergei K. Schoigu das Ausmaß des russischen Aufmarsches an der Grenze zur Ostukraine bekanntgegeben, der alle Schätzungen westlicher „Experten“ weit übertrifft. In den letzten drei Wochen sind zwei Armeen und drei Luftlandedivisionen mit zahllosen Panzern, Transportfahrzeugen, Geschützen und Flugabwehrraketen aufmarschiert, dazu Fliegerverbände mit modernsten Kampfflugzeugen wie der Suchoi SU-34 und SU-35, außerdem ballistische Raketen wie die „Iskander“, insgesamt bis zu 200.000 Mann. [Russian Defence Minister General of the Army Sergei Shoigu holds working meeting in Severomorsk during his trip to the Northern Fleet, Ministry of Defence of the Russian Federation 13. April 2021; https://eng.mil.ru/en/news_page/country/more.htm?id=12354311@egNews; Alexander Mercouris, Russia Confirms Huge Build Up on Ukraine Border. West Pleads With Moscow for Restraint, The Duran 14. April 2021;https://theduran.com/russia-confirms-huge-build-up-on-ukraine-border-west-pleads-with-moscow-for-restraint/] Die russische Führung hat keinen Zweifel daran gelassen, daß ein ukrainischer Angriff auf den Donbass mit zahlreichen zivilen Opfern – viele der dort lebenden Menschen haben die russische Staatsbürgerschaft – sofort zur Intervention der Russischen Armee und zum Ende der Kiewer Regierung führen würde.

Gegen ein derartiges Truppenaufgebot mit modernster Ausrüstung sind sowohl die ukrainische Armee wie auch jede Eingreiftruppe der NATO hoffnungslos unterlegen. Da Ruland außerdem auf der Krim wie an der Schwarzmeerküste eine große Zahl von Batterien und Fliegerverbänden mit Seezielflugkörpern stationiert hat, wären die beiden US-Zerstörer im Schwarzen Meer im Ernstfall nicht mehr als „sitting ducks“ („sitzende Enten“), weshalb Washington inzwischen ihre Umkehr angekündigt hat.

Eine schwere militärische Niederlage Kiews in der Ostukraine sowie folgende Auflösungserscheinungen des ukrainischen Staates würde sowohl für Washington wie die ganze NATO einen empfindlichen Prestigeverlust bedeuten. Das offensichtliche Scheitern der Pläne einer Handvoll von Neocons hat inzwischen in Washington für helle Aufregung gesorgt, die neueste Krise im Ost-West-Verhältnis wird durch die offensichtliche Unzulänglichkeit von Präsident Joe Biden noch erheblich verschlimmert. Nachdem Biden in offiziellen Erklärungen demonstrativ der Ukraine den Rücken gestärkt hatte, was die Krise weiter eskalieren ließ, sah er sich schließlich gezwungen, am 13. April Präsident Wladimir Putin persönlich anzurufen. In dem Telefonat hat Biden alle möglichen und unmöglichen Themen zum amerikanisch-russischen Verhältnis angesprochen, bis er schließlich ein persönliches Treffen mit Putin in einem europäischen Staat vorschlug. Dieses Verhalten zeigt, daß Biden in eine Zwickmühle geraten ist, und er keinen anderen Ausweg mehr sieht, als Putin – den vor kurzem noch öffentlich als „Killer“ bezeichnet hat – auf verklausulierte Weise zu bitten, ihm aus seinem Dilemma heraus zu helfen. [The White House, Readout of President Joseph R. Biden, Jr. Call with President Vladimir Putin of Russia, April 13, 2021; https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2021/04/13/readout-of-president-joseph-r-biden-jr-call-with-president-vladimir-putin-of-russia-4-13/#content]

Moskau reagierte auf den Vorschlag eines Gipfeltreffens zwischen Biden und Putin mit Zurückhaltung. Nun aber zeigte sich aber die ganze Dysfunktionalität der Biden-Administration, denn bereits am nächsten Tag verhängte Präsident Biden gegen die Russische Föderation erneut Sanktionen und kündigte die Ausweisung von zehn russischen Diplomaten an, worauf der Kreml und die russische Presse mit unverhohlener Wut reagierten und Gegenmaßnahmen ankündigten. Dabei geht es den Russen weniger um die Sanktionen, denn die Russische Föderation hat seit 2014 ihre Wirtschaft so umgestaltet, daß westliche Sanktionen kaum noch einen Effekt haben. Was die Russen aber maßlos ärgert, ist das geradezu lächerliche hin und her der amerikanischen Regierung.

Wieder am nächsten Tag, dem 15., gab Präsident Biden eine Pressekonferenz, in der er sich gegenüber der Russischen Regierung sehr konziliant äußerte, die Verantwortung der beiden Mächte für die globale Stabilität betonte, die Sanktionen als angemessen und zurückhaltend bezeichnete und seinen Vorschlag für ein Gipfeltreffen im kommenden Sommer erneuerte. [The White House, Remarks by President Biden on Russia, 15. April 2021; https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/04/15/remarks-by-president-biden-on-russia/; siehe auch Alexander Mercouris, US Sanctions Russia, Begs for Summit, Russia Shrugs Off Sanctions, Shelves Summit, The Duran 17. April 2021; https://theduran.com/us-sanctions-russia-begs-for-summit-russia-shrugs-off-sanctions-shelves-summit/]

Es zeigt sich immer deutlicher, daß es in der Biden-Administration zur Frage der Beziehungen zu Russland verschiedene rivalisierende Fraktionen gibt, die völlig zerstritten sind. Der neue CIA-Chef William J. Burns war amerikanischer Botschafter in Moskau und will aus guten Gründen ein konstruktives Verhältnis zur Russischen Föderation. Die US-Navy sieht ihren Hauptgegner in der Volksrepublik China, und die US-Army ist über die Perspektive eines Landkrieges gegen Russland in der Ukraine schlicht entsetzt. Dagegen üben die ideologiegesteuerten „Neocons“ und Teile der demokratischen Partei auf Biden massiven Druck aus, eine strikt antirussische Politik zu treiben und dabei auch erhebliche Risiken einzugehen. Joe Biden selbst kann sich aufgrund seiner altersbedingten Einschränkungen gegen seine Umgebung allenfalls begrenzt durchsetzen. Das Ergebnis ist ein Chaos, die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

Bild: Konflikt in der Ukraine, Stand Dezember 2019 mit den umkämpften Ostukrainischen Gebieten (rot). Karte von Daniel Peter, Quelle: Wikipedia.)

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