Aus eigenem Aufmarsch rasch losschlagen

Von Dr. Stefan Scheil

Der Generalstabschef der sowjetischen Streitkräfte, Marschall Georgi Schukow, sah nur eine drastische Möglichkeit: „Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein gesamtes Heer einschließlich rückwärtiger Dienste mobilisiert hat, so besteht die Möglichkeit, daß es uns beim Aufmarsch zuvorkommt.“ Zum besseren Verständnis unterstrich er das „zuvorkommen“ und schickte die Nachricht an den Staats- und Parteichef der Sowjet­union, Josef Stalin. Man schrieb den 15. Mai 1941.

Schukow ließ gleich seine Empfehlung für die angemessene Antwort auf diese Situation folgen: Beschleunigung des sowieso schon laufenden Aufmarschs der Roten Armee und dann „das deutsche Heer schon anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet und noch keine Front aufbauen kann“. Dafür legte er einen mehrseitigen, detaillierten Ausführungsplan vor, ergänzt durch Beilagenkarten.

Als dies am 15. Mai 1941 geschrieben wurde, lagen noch gut fünf Wochen vor dem allgemein bekannten Beginn des sowjetisch-deutschen Krieges am 22. Juni 1941 und der letztlichen Kriegseröffnung durch die deutsche Seite. Offiziell wird sie bis heute gern zum „Überfall“ auf ein angeblich unvorbereitetes und laut sowjetischer und russischer Propaganda gar „friedliebendes“ Land stilisiert. Dennoch beschrieb Marschall Schukow hier schon einen Monat vorher die aktuellen Maßnahmen der Roten Armee und seine Pläne zum großen Schlag gegen Deutschland. Der Kontrast zwischen gängigem Geschichtsbild und historischen Fakten könnte größer kaum sein.

Entscheidende Quelle bleibt bis heute unbeachtet

Wenn sich das trotzdem bis heute nicht allgemein herumgesprochen hat, dann liegt das zugleich an der politischen Problematik, die mit der Erkenntnis verknüpft wäre, daß der deutsche Angriff auf die UdSSR einem russischen Angriff auf Deutschland nur knapp zuvorgekommen ist. Das politische Establishment in Berlin will davon nichts wissen und das in anderen Ländern auch nicht. Alle haben sich darin eingerichtet, von deutschen „Überfällen“ auf andere Länder zu sprechen, sie gedenkpolitisch routiniert zu bewältigen und immer wieder einmal als Grund für finanzielle Forderungen vorzuzeigen.

Es liegt aber auch an der schwer beschreibbaren Gleichgültigkeit, mit der die akademische Geschichtsschreibung selbst auf solche Dokumente reagiert. Es ist, als hätten sich die tiefgreifenden Zweifel des Fachs an der schieren Möglichkeit historischer Erkenntnis hier besonders festgesetzt, begünstigt durch eine vielfach zweifelhafte Quellenlage und dem Eindruck, man wisse schon irgendwie, wie es gewesen sei, und genauer gehe es nicht.

Denn wer Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg betreibt, wird immer wieder mit der Dürftigkeit der Überlieferung entscheidender Quellen konfrontiert. Wollte man als Beleg alles streichen, was nur als Schreibmaschinenblatt, ohne Unterschrift, als angebliche Kopie oder Teilabschrift mit ungenauer Provenienz vorliegt, könnte man es manchmal fast bleiben lassen. Für den Schukow-Plan trifft dies nicht zu. Er liegt vollständig urschriftlich vor, verfaßt in den schönen Buchstaben der kyrillischen Handschrift, mit ruhiger Hand eigenhändig unterzeichnet von Marschall Timoschenko, Volkskommissar für die Verteidigung und eben Marschall Schukow.

Kein Historiker hätte vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu träumen gewagt, ein solches Dokument in die Hände zu bekommen. Es bestätigt zweifelsfrei wesentliche Punkte dessen, was spätestens mit dem 22. Juni 1941 offenkundig war und doch immer wieder abgestritten wird. Die Rote Armee war im Frühjahr 1941 im Aufmarsch, sie hatte offensive Ziele, sie hatte auch den deutschen Aufmarsch klar als Bedrohung für die eigenen Pläne erkannt und sie traute sich zu, den deutschen Gegner trotzdem schnell und entscheidend zu schlagen.

In dreißig Tagen wollte Schukow ganz Polen durchquert und Oberschlesien erreicht haben, dann ins böhmische Becken vordringen und zugleich mit einem Schwenk nach Norden die Ostseeküste erreichen, so daß die deutsche Armee in einem riesigen polnischen Kessel versenkt worden wäre. Darüber hinaus beseitigt seine Formulierung, daß Deutschland solchen Plänen „zuvorkommen“ könnte, jeden vernünftigen Zweifel an der Bereitschaft der UdSSR, 1941 einen Angriffskrieg zu führen.

Aufmarsch im Westen als Sommermanöver bezeichnet

Der Schukow-Plan paßt auch sonst ins Bild der innersowjetischen Entscheidungsfindung. Zehn Tage vor seiner Abfassung hatte der bis dahin auf Parteiämter beschränkte Josef Stalin am 5. Mai offiziell die Regierung der UdSSR übernommen. Bei einem Empfang für junge Offiziere verkündete er am gleichen Tag, es sei nun Schluß mit der Friedenspolitik gegenüber Deutschland. Friedenspolitik sei eine gute Sache gewesen: „Jetzt aber, da wir unsere Armee umgestaltet haben, sie reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, da wir stark geworden sind, jetzt muß man von der Verteidigung zum Angriff übergehen.“ Das hieß, zum Angriff auf Deutschland übergehen, wie später mehrere Kriegsgefangene der Roten Armee unabhängig voneinander aussagten. Auf diese Weise erhielt man in Deutschland nach und nach detailliertere Kenntnis von diesem Geschehen, das man wohl erahnte und als „größten Aufmarsch der Geschichte“ (Hitler am 8. Juni 1941) einstufte, dessen ganze Dimension aber erst nach Kriegsbeginn sichtbar wurde.

Letztlich entsprach die Stationierung der am 22. Juni 1941 unmittelbar an den Grenzen stationierten sowjetischen Flugzeuge dem Schukow-Plan, ebenso wie die Zahl der sonstigen Truppen und auch die Formulierungen, mit denen die sowjetische Nachrichtenagentur die Angriffsvorbereitungen kaschieren wollte: Es würden gerade Sommermanöver der Roten Armee abgehalten. Man konnte dafür offenbar keinen anderen Platz finden als die deutsch-sowjetische Grenze, mag sich mancher gedacht haben. Aber auch dies ging auf Schukows Konzept zurück. Er hatte geschrieben: „Unter dem Anschein von Übungsmaßnahmen für Soldaten der Reserve ist eine geheime Mobilmachung der Truppe durchzuführen. Unter dem Anschein, in Ausbildungslager auszurücken, sind die Truppen geheim näher zur Westgrenze zusammenzuziehen. Unter dem Anschein von Ausbildungsmaßnahmen und Übungen für die rückwärtigen Dienste sind diese und die Grundeinrichtungen für die Sanitäter allmählich einzurichten.“

So geschah es denn auch im Rahmen der angeblichen Sommermanöver. Während denen vergaß man nicht, die Rote Armee ab dem 29. Mai auch mit Sprachführern auszustatten. Sie sollten Verhöre im neu eroberten Gebiet erleichtern. Die vorgegebenen deutschen Fragefloskeln, etwa „Wie heißt dieser Fluß?“ oder „Wohin führt dieser Schienenweg?“ zeigen deutlich den erwarteten Vormarsch in unbekanntes, zuvor deutsch besetztes Gelände. Auch sie fielen während des Vormarschs teilweise deutschen Truppen in die Hände, ebenso wie detaillierte Karten deutscher Städte, selbst in Westdeutschland.

All dies jährt sich in diesen Tagen zum achtzigsten Mal, wie das „Unternehmen Barbarossa“ insgesamt in diesem Jahr. Man muß keine prophetischen Gaben anstrengen, um zu diesem Anlaß trotz erdrückender Beweislast des Gegenteils von seiten der offiziellen Stellen erneut die Bemühung der üblichen Floskeln vom deutschen „Überfall“ vorauszusagen. Den Verweis auf Quellen wie den Schukow-Plan wird man sorgfältig aussparen. Nun, dies wird nicht ewig so bleiben, denn eines steht fest: Die deutsche Wehrmacht ist der Roten Armee 1941 zuvorgekommen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Jungen Freiheit Nr. 20/2021, Seite 20.

 

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