Konrad Löw: Deutsche Schuld 1933-1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen
Vor-, Nachwort: Klaus von Dohnanyi, Alfred Grosser
Oktober 2010 (datiert 2011) Olzog Verlag München, 446 Seiten, gebunden, 39,90 Euro
Rezension von Manfred Backerra
Konrad Löw, Emeritus der Politikwissenschaft an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Bayreuth, präsentiert zum Trauma der Schoa vier Jahre nach seinem Buch „Das Volk war ein Trost“ eine noch umfangreichere Dokumentation von Zeitzeugnissen mit Erörterungen der Schuldfrge – eine Arbeit, die Hunderte von Fachhistorikern bis jetzt links liegen gelassen haben. Paßte ihnen die Tatsachen zu wenig in das vom Nürnberger Siegertribunal dekretierte und in Deutschland mit einem „masochistischen Schuldbewußtsein“ (A. Grosser) gepflegte Geschichtsbild – war es deshalb zu karriereschädlich, dies anzufassen?
Deutsche waren nämlich größtenteils frei von Antijudaismus, obschon Juden – nur knapp ein Prozent der Bevölkerung – zur Weimarer Zeit, beruflich und finanziell hervorstechend erfolgreich waren. Bis 1933 empfanden sie Antijüdisches meist als eine der vielen Animositäten, die in Deutschland auch gegen Preußen, Bayern, Sachsen, Katholiken oder Protestanten gepflegt wurden. Kein Zeitzeuge führt Hitlers Erfolg auf seinen Antijudaismus zurück, der in der Wahlpropaganda kaum vorkam, sondern auf seinen Kampf gegen die Erniedrigung und Verelendung Deutschlands durch Versailles.
Der Autor hat 354 Aufzeichnungen von 300 jüdischen oder mit Juden verheirateten Zeitzeugen und rund 270 Zeitzeugnisse von nichtjüdischen Deutschen, besonders in den Deutschlandberichten der Exil-SPD, von ausländischen Diplomaten und Journalisten sowie von Verantwortlichen des NS-Regimes ausgewertet.
Die jüdischen Zeugnisse aus allen Regionen Deutschlands sprechen eindringlich dafür, daß die allermeisten Deutschen die Judenverfolgung vom ersten bis zum letzten Tag durch Verhalten, Wort und Tat, sogar bei Lebensgefahr, verurteilt haben, wie viele Hundert positiver Einzelaussagen belegen. Negativ ist nur knapp jede Zehnte, die aber meist Einzeltaten, wie Verhöhnungen durch Jugendliche oder einige tätliche Angriffe durch Pöbel betreffen. Dagegen umfassen die positiven Zeugnisse meist Zeiträume oder öfter Erlebtes: einen jahrelangen normalen Schulalltag jüdischer Kinder, anständige, sogar zuvorkommende Behandlung von Behörden, Bekundungen von Abscheu der Drangsalierung, von Mitleid und Sympathie, von hilfreichen Hinweisen, Warnungen, Sichern von Eigentum durch „Aufbewarier“, von viel Hilfe mit Lebensmitteln sowie durch Verstecken und Versorgen Einzelner oder ganzer Familien; ein Zeuge spricht von 66 Quartieren, ein anderer von 70 Helfern. Sehr aussagekräftig ist auch, daß selbst die, welche Hilfe verweigerten, nur selten denunzierten, daß Bewohner großer Miethäuser, von Stadtvierteln und Gemeinden die Verborgenen nicht verrieten. Sehr beachtlich ist, daß sogar überzeugte Nationalsozialisten, Beamte, Angehörige von SA, SS und Gestapo anständig bis hilfreich waren. „Arische“ Freundschaften haben sehr oft gehalten, ebenso über neun Zehntel der Mischehen.
Fast alle anderen, nicht betroffenen Zeugen, ebenfalls die amtlichen und persönlichen Aussagen aus Sicht des Regimes bis hin zu Goebbels und Hitler bestätigen: Das Volk blieb bis zuletzt größtenteils judenfreundlich.
Die Zeugnisse und Erläuterungen zeigen, wie sehr die sich von1933 bis 1945 steigernde irrsinnige Judenverfolgung ein „Kulturbruch“ war. Doch sie und Löws Zusätze erzeugen auch den Eindruck, als habe Terror das tägliche Leben in Deutschland bestimmt. Die von Löw nicht angeführte geschichtspsychologische Untersuchung von Fritz Süllwold (2001 Herbig) „Deutsche Normalbürger 1933-1945“ zeigt, daß diese sich überwiegend nicht unter Terror empfanden, was auch für Soldaten gilt: sie kämpfte vorwiegend aus Kameradschaft und Vaterlandsliebe. Ein Soldat der Waffen-SS erregte auch keinen Schauder, wie der Autor im Fall Grass meint. Löw betont das vorherrschende Bild des Holocaust sogar mit einem Foltergeständnis und einer Rede fraglicher Echtheit.. Wer Raul Hilbergs Expertenmeinung kennt, erst 20% der Schoa seien erforscht, wird sich fragen, woher der Autor beispielweise weiß, ob ein Opfer im KZ ermordet wurde oder starb, was ja schon schlimm genug wäre.
Löws intensive und umfassende Auseinandersetzung mit dem Schuldkomplex ist sehr verdienstvoll, auch wenn nebenbei Deutschland Verleumdendes zum Armeniermord und zum Hereroaufstand anklingt. Ausgehend von der „Würde des Menschen“ beweist er, daß es nach dem Sittengesetz wie nach Völker- und deutschem Recht keine kollektive „deutsche Schuld“ gibt, unabhängig davon, wie groß die Zahl der Schuldigen war, weil Schuld nur persönlich sein kann und im Einzelfall nachgewiesen sein muß. Das beträfe nach einer Fußnote rund 200 000 Deutsche und (ausländische) Helfer, mithin von damals 80 Millionen weniger als ein Viertel Prozent. Löw sieht allerdings „Hunderttausende Deutsche“ an NS-Verbrechen beteiligt, obschon er zitiert, daß die über drei Millionen Entnazifizierungsverfahren in den Westzonen nur 25 000 Schuldige oder Hauptschuldige und 250 000 Belastete ergaben, wobei, wie er selbst hinzufügt, von letzteren, die es automatisch wegen einer Mitgliedschaft waren, viele Juden geholfen haben. Da oft schon Nichthelfen als Schuld verurteilt wird, stellt Löw klar: „Unterlassene Hilfe wird erst dann zur Schuld, wenn sie möglich und zumutbar war“, mehr zu verlangen, ist eine moralische Anmaßung. Natürlich kann ein Volk Schuld nicht ererben, auch nicht verschleiert als „immerwährenden Verantwortung“, die ständig von interessierter Seite, von Schuldaposteln und sogar, pflichtwidrig, amtlicherseits verkündet wird.
Löw analysiert maßgebende Bücher zur Schuld „der Deutschen“ mit dem Ergebnis, daß weder die Kriterien gerechten Urteilens, noch viele Aussagen der Zeitzeugen, am wenigsten die der Opfer beachtet, diese sogar verfälscht wurden. Bei Giordano findet sich im eigenen Erleben kein Beweis für seine Pauschalbeschuldigungen. Der Autor geißelt mutig Falschbezeugung und Scheinheiligkeit der Vergangenheitsbewältiger, von den Kirchen bis zu Prominenten, wie unter anderen Richard Weizsäcker und Walter Jens, für die es die Würde des Menschen und das Verbot, falsches Zeugnis abzulegen, für die Vergangenheit offenbar nicht gibt. Hierzu läßt er auch viele Gegner und Opfer des NS-Regimes für Wahrheit und Gerechtigkeit sprechen, die Löws Anliegen sind – berechtigt, wie in seiner Klage gegen Verleumderisches der Bundeszentrale für politische Bildung das Bundesverfassungsgericht jüngst bestätigt hat.
Dieses Buch ist in Bezug auf die Schuld an der Schoa ein einmalig erhellender Tabubrecher.