Ernst Ludwig von Gerlach zum 145. Todestag am 18. Februar 2022 – Erinnerung an einen standhaften preußischen Altkonservativen

von Stephan Ehmke

In einer Zeit, in der überzeugungstreue Politiker – auch im konservativen Bereich – selten geworden sind, lohnt es sich, einen Blick in die Geschichte zu tun. Wir wollen dies heute am Beispiel Ernst Ludwig von Gerlachs anläßlich seines 145. Todestages tun. Gerlach war das Haupt der preußischen Altkonservativen zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die ihre Hochzeit während der Regierung Friedrich Wilhelms IV. Hatten. Gerlach wurde schon damals nicht nur von politischen Feinden als hoffnungsloser Romantiker, nicht selten als Doktrinär und Starrkopf geschmäht. Doch waren dies eigentlich Komplimente einem Mann gegenüber, der sich niemals dem Zeitgeist beugte, sich nicht von Macht und Geld korrumpieren ließ, sondern bis zum Tod seinen Idealen treu blieb.

Ernst Ludwig von Gerlach, am 7. März 1795 als viertes Kind des Berliner Oberbürgermeisters Karl Friedrich Leopold von Gerlach geboren, war Jurist, zuletzt und viele Jahre hindurch Präsident des Oberappellationsgerichts in Magdeburg. Sein ganzes Leben lang bewegten ihn die Ideen des Rechts, der Rechtlichkeit und der Gerechtigkeit. Am Ende seines Weges schrieb er: „Es ist für mich eine heilige Pflicht, jedes gute Recht, es stehe der einen oder anderen Religion, dem einen oder dem anderen Menschen, der einen oder anderen Partei zu, jedes gute Recht zur Geltung zu bringen, soweit ich kann. Ich verletze mein Gewissen, wenn ich es nicht tue. Ich kann fehlen und ich fehle oft, aber der Wille muß immer da sein, sonst bin ich nicht wert, daß ich in meinem Amte bleibe.“1 Für den Christen Gerlach aber kam jedes Recht von Gott. Der Mensch schuf es nicht, er fand es auf und hatte es bedächtig und stets mit Rücksicht auf seinen Wesenskern anzuwenden. Diese Auffassung bildete den Dreh- und Angelpunkt des Gerlachschen Konservativismus.

Ernst Ludwig von Gerlach erlebte seine Jugend und sein frühes Erwachsenenleben in der Zeit der Napoleonischen Besetzung Europas. Er wurde – wie seine drei Brüder – geprägt von der romantischen Ideenwelt der Befreiungskriege. Der korsische Usurpator galt ihm als der Inbegriff der ihm verhaßten Ideen der Französischen Revolution, seiner Meinung nach eine Negation des Christentums und all seiner sittlichen Grundsätze. Glühend verehrte er die Heilige Allianz der „drei Schwarzen Adler“ Rußland, Österreich und Preußen. Sie bedeutete für ihn die Rettung von Religion, Tradition und Legitimität. Gerlach selbst kämpfte als junger Offizier im Yorckschen Korps, war im Stabe Blüchers, wurde mehrfach verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.

Nach 1815 schloß er sich dem preußischen Neupietismus in der Tradition der deutschen Erweckungsbewegung an. Sein Mentor wurde Adolph von Thadden-Trieglaff, dessen Schwester er später heiratete. In diesem Umfeld lernte Gerlach auch den zwanzig Jahre jüngeren Otto von Bismarck kennen, den er unter seine geistigen Fittiche nahm. Beide wurden enge Freunde bis zu ihrem Bruch im Zusammenhang mit der deutschen Einigungs- und Kulturkampfpolitik des späteren preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers.

Von der pietistischen Zurückgezogenheit löste sich Gerlach später, als er seine politische Karriere begann. Er entwickelte sich zu einem freilich eher ökumenisch orientierten Anhänger der Idee vom christlichen Gemeinwesen, das Staat und Kirche gleichermaßen umfassen sollte. Staatliche Obrigkeit war für Gerlach ohne wenn und aber auf Gottes Wort und Gebot verwiesen und durch diese auch begrenzt. Hier folgte er den Auffassungen des bedeutenden preußischen konservativen Staatsrechtlers Friedrich Julius Stahl.

Gerlachs juristische Laufbahn führte ihn 1829 als Landesgerichtsdirektor nach Halle, 1834 wurde er Oberlandesgerichtspräsident in Frankfurt/Oder. Zehn Jahre später nahm er die Position des Oberappellationsgerichtspräsidenten in Magdeburg ein, die er bis 1874 bekleidete, als er nach einem Beleidigungsprozeß gegen Bismarck seinen Abschied nehmen mußte.

Sein politisches Interesse führte Gerlach entsprechend seiner Gedankenwelt in die Reihen der preußischen Konservativen, dessen führender Kopf er in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. war. Bedeutsam wurde für ihn die Zeit der 1848er Wirren, in denen er zur sogenannten „Kamarilla“, einem einflußreichen Kreis von Politikern, Offizieren, Juristen und Theologen um den preußischen König wurde, und dem auch sein älterer Bruder, der General Leopold von Gerlach angehörte. Ernst Ludwig von Gerlach wurde 1848 zur treibenden Kraft der Gründung der Konservativen Partei Preußens und ihres Presseorgans, der Neuen Preußischen Zeitung, (genannt „Kreuzzeitung“), in der er auch als Autor publizierte.

Geistig wurde diese Phase von der Auseinandersetzung um den Verfassungsstaat bestimmt. Gerlach war ein Bewunderer des politischen Systems Englands, das sich seiner Meinung nach über Jahrhunderte organisch entwickelt hatte und auch ohne geschriebene Verfassung und revolutionäre Brüche den Anforderungen der sich wandelnden Zeiten gerecht geworden war, ohne seine konservative Substanz aufzugeben. Die Souveränität des Königs als des von Gott eingesetzten legitimen Herrschers stand für den Juristen nicht zur Disposition. Unter dem Einfluß Stahls jedoch öffneten sich die preußischen Konservativen dem Gedanken des Konstitutionalismus, freilich ohne das Prinzip der Volkssouveränität anzuerkennen. Der König, von „Gottes Gnaden“ eingesetzt, teilte freiwillig seine Macht mit dem Volk bzw. den gesellschaftlichen Institutionen, aber ohne das letzte Recht der Entscheidung aufzugeben. Diesem Konzept folgte dann auch die von Stahl entworfene „oktroyierte“ preußische Verfassung von 1850, mit der die nachrevolutionäre Politik der Reaktion einsetzte. Gerlach selber sträubte sich lange, begab sich schließlich aber doch in den Parlamentsbetrieb. Er wurde preußischer Landtags-, später auch deutscher Reichstagsabgeordneter. Ein Ministeramt, ihm häufig angetragen, nahm Gerlach allerdings nie an. Seine Grundsätze, die sich bereits in seiner Jugend ausgebildet hatten, gab Ernst Ludwig von Gerlach bis zu seinem Tod nicht auf. Kompromißlos wie er war, isolierte er sich beständig weiter von seinen konservativen Weggefährten, bis er politisch schließlich völlig allein stand.

Ernst Ludwig von Gerlach war eingefleischter Monarchist, ein Gegner der Republik, jedoch alles andere als ein Anhänger des Absolutismus. Eine Autokratie des Herrschers lehnte er als Tyrannei strikt ab. Der Legitimitätsgedanke, dem Gerlach folgte, beruhte ausschließlich auf seiner christlichen Überzeugung. Auch die Herrschaft des Königs war an Gottes Gebot und seine Sittlichkeit gebunden und damit begrenzt. Verließ der König diesen Weg, so verlor er nach Gerlach auch das Recht zu herrschen. Die Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft verteidigte er vehement. Hier folgte er dem Gedanken des mittelalterlichen Ständestaates, welchen er von Karl Ludwig von Haller und Friedrich von Savigny übernommen hatte. In diese Rechte durfte auch der Herrscher nicht ohne erhebliche Gründe eingreifen. „Auch ich bin ein König“, rief Gerlach beispielsweise in Verweis auf die Rechte des Vaters als Familienoberhaupt aus.

Hermann Wageners, des sozialkonservativen Chefredakteurs der Kreuzzeitung, Bemühungen um eine Verbindung zu Ferdinand Lassalle, dem Führer der frühen Arbeiterbewegung, unterstützte Gerlach ausdrücklich. Auch er wollte die preußische Arbeiterschaft dem Griff des aufkommenden Marxismus entziehen. Allerdings nicht aus politisch-taktischen Gründen, sondern aus christlicher Verantwortung. Gerlach betonte mit Wagener die soziale Bindung des Eigentums, welche er als „Amt“ verstand. „Wenn das Eigentum kein Amt ist, dann ist das Eigentum unhaltbar. Dann haben die Kommunisten Recht“, schrieb er2. Der frühe Tod Lassalles beendete die Pläne Wageners. Danach haben sich die Konservativen nicht mehr zu einer der Zeit angemessenen Haltung zur „sozialen Frage“ durchringen können. Ein fataler Fehler, wie die Entwicklung im Kaiserreich zeigen sollte.

Ernst Ludwig von Gerlachs politischer Einfluß schwand mit dem Beginn der „Neuen Ära“ unter dem späteren König Wilhelm I. Zu Beginn blieb er allerdings eine wesentliche Stütze der Politik Otto von Bismarcks, dem er während des Verfassungskonfliktes mit juristischer Expertise zur Seite stand. Eine erste Belastungsprobe in den Beziehung zu dem preußischen Ministerpräsidenten stellte der Krieg gegen Dänemark und die Einverleibung der Elbherzogtümer in das Königreich Preußen im Jahre 1867 dar, welche der überzeugte Legitimist Gerlach strikt ablehnte. Akzeptierte er dies schließlich noch zähneknirschend, trennten sich die politischen Wege der beiden bei der Frage über die deutsche Einigung. Für Gerlach, den treuen Anhänger der „Heiligen Allianz“ und Verehrer der „alten Reichsidee“, war undenkbar, daß ein neues Deutsches Reich ohne Österreich errichtet werden konnte. Das Haus Habsburg blieb für ihn ein für allemal der legitime Träger der deutschen Kaiserkrone. Eine „kleindeutsche Lösung“, wie sie Bismarck anstrebte, nahm Gerlach nicht hin. Er sah dies geradezu als Sakrileg, als einen Verstoß gegen Gottes Gebote an.

Auch die Niederlage des von Gerlach als Usurpator verhaßten Napoleons III. im Krieg von 1870/71 konnten ihn über den Ausschluß Österreichs aus Deutschland nicht hinwegtrösten. Er trat Bismarck nun auch im neuen Reichstag in immer schärfer werdender Opposition entgegen. Der Kulturkampf machte den Bruch zwischen dem bekennenden Ökumenen Gerlach und Otto von Bismarck schließlich unheilbar. Zu einer Aussöhnung, von vielen Konservativen sehnlichst gewünscht, kam es bis zum Tod Gerlachs nicht mehr. Am Schluß „hospitierte“ der alte Gerlach zum Verdruß seiner alten Freunde sogar noch bei der Fraktion der katholischen Zentrumspartei.

Ernst Ludwig von Gerlach starb im 82. Lebensjahr am 18. Februar 1877 in Berlin an den Folgen eines Verkehrsunfalls, bis zuletzt ungebeugt an seinen altkonservativen Überzeugungen festhaltend.

Der große Preußenkenner und -verehrer Hans-Joachim Schoeps charakterisierte Gerlach folgendermaßen: „Gerlach als Gesamterscheinung wirkt in der Tat als `Doktrinär´ und als ein `Fanatiker des Prinzips´, der seine Weltanschauung letztlich nicht in die politische Praxis übersetzen konnte. Er hat seine weltanschaulichen Prinzipien auf alle Gebiete des öffentlichen Lebens anzuwenden versucht und oft auch treffsichere Formulierungen gefunden. Den Nationalismus hat er mit Emphase abgelehnt, weil er an der älteren Reichsidee orientiert blieb und Deutschland in der Mannigfaltigkeit von Einzelstaaten nach ständischer Gliederung erhalten sehen wollte. Den negativen Freiheits- und abstrakten Gleichheitsglauben des Liberalismus hat er verworfen, weil er stets auf eine potenzierte Bürokratie hinauslaufen würde. Für die großen Wahrheiten des Liberalismus: Gewaltenteilung, Repräsentation, Pressefreiheit usw. ist er aber immer wieder als `positive christlich-germanische Freiheiten´ eingetreten, konkret z.B. für die Gewissensfreiheit kirchlicher Dissenters wie der separierten Lutheraner, als sich keine liberale Stimme zu ihren Gunsten erhob.“3

1Zitiert nach Schoeps, Hans-Joachim: Preußen, gestern und morgen. Eutin 1978. S. 16.

2Zitiert nach Kraus, Hans-Christof: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen. Band 1, 1994, S. 206.

3Neue Deutsche Biographie, Band 6, S. 298, Berlin 1964.

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