Umbruch in Nordirland

In Europa tut sich einiges, nicht nur im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. In Nordirland, Jahrzehnte in einem Bürgerkrieg versunken, dann leidlich befriedet, könnte bei den Wahlen zum ersten Mal der ehemalige politische Arm der gefürchteten und später aufgelösten „IRA“, die Partei „Sinn-Fein“, stärkste politische Kraft werden. Dies hängt auch mit einem demographischen Wandel zusammen: Die irisch-katholischen Familien haben mehr Kinder als die britisch-protestantischen. Mittlerweile sind die Bevölkerungsgruppen zahlenmäßig gleichgezogen. Erhält Nordirland einen Sinn-Fein-Regierungschef, halten Beobachter sogar ein Referendum zu Wiedervereinigung mit der Republik Irland für möglich – bislang eine undenkbare Vorstellung.

Lesen Sie im Folgenden einen Beitrag von Julian Schneider von JF-Online, 3.5.2022:

Die Wunden der „Troubles“

 

Alles wirkt friedlich im Stadtzentrum von Belfast. Im Sonnenschein flanieren Touristen um das mächtige neobarocke Rathaus, vor dem eine steinerne Königin Victoria steht. Tauben gurren, rosa Doppeldeckerbusse umrunden den Platz. Vor gut einem Vierteljahrhundert kam es nicht selten vor, daß Bomben in Belfast explodierten oder Schüsse knallten. Erst das Karfreitagsabkommen von 1998 hat zu einer relativen Befriedung geführt.

Die drei Jahrzehnte des blutigen Konfliktes in Nordirland zwischen IRA-Kämpfern und unionistischen Paramilitärs liegen für viele Menschen inzwischen weit zurück. Und doch sind Spuren der Vergangenheit allgegenwärtig. Kilometerlange Mauern mit Stacheldraht – sogenannte „Peace Walls“ – trennen bis heute Viertel mit katholisch-nationalistischer und protestantisch-unionistischer Bevölkerung in West-, Nord- und Ost-Belfast. Abends um acht Uhr schließen die Tore, dann kommt niemand mehr hindurch bis zum nächsten Morgen.

Wer will, kann im Touristenbüro für 45 Pfund eine Taxi-Tour buchen, die nach West-Belfast führt, in das Arbeiterviertel, das die Hochburg der irisch-sozialistischen Bewegung und später der IRA war. Taxifahrer Patrick sagt offen, wo er steht. „Ich bin irischer Nationalist“, kommt wie aus der Pistole geschossen, dabei hebt er die Hand zu einem stolzen Gruß. Die IRA-Kämpfer sind für ihn Helden.

Plakate und Graffitis erinnern an die „Troubles“

Am Divis Tower, am Eingang zur Falls Road in West-Belfast, wurden 1969 bei Straßenschlachten ein neunjähriges irisches Kind und ein junger Mann durch britische Polizeikugeln getötet. „Die Falls erinnern an das Pogrom vom August 1969“ steht auf einem großen Plakat an dem Hochhaus. Ganz oben befand sich während der Hochzeiten der „Troubles“, wie der Bürgerkrieg euphemistisch genannt wird, ein Beobachtungs- und Scharfschützenposten der britischen Armee, die dort sogar mit dem Hubschrauber landen konnte.

Etwa einen Kilometer weiter in der Falls Road stoppt der Wagen an der langen Graffiti-Mauer. Bekannte IRA-Mitglieder wie Bobby Sands und Personen der irischen Nationalgeschichte sind auf den Wandgemälden zu sehen. „Unser Kampf geht weiter“ steht in großen Lettern neben Óglach Charlie Hughes, dem Kommandanten der Belfast Brigade, der 1971 von einer rivalisierenden IRA-Fraktion erschossen wurde. Neben ihm ist überlebensgroß Leila Khaled mit Maschinenpistole zu sehen, die linksradikale palästinensische Terroristin und Flugzeugentführerin. „Boykottiert Israel, den Apartheitsstaat“ heißt es an anderer Stelle auf der Mauer. Nelson Mandela winkt freundlich hinüber zum Spar-Supermarkt, auch PKK-Chef Abdullah Öcalan war mal zu sehen. Ein paar Schritte weiter zeigt ein Wandgemälde einen fröhlichen Fidel Castro mit der Botschaft „Unblock Cuba“. Es ist eine seltsame Mischung aus linken Freiheitshelden und Terroristen, der hier verehrt wird.

Daß die Vergangenheit nicht vergangen ist, zeigt die Kandidatur des früheren IRA-Mitglieds Pat Sheehan in West-Belfast als Listenerster von Sinn Féin (SF). Vor ihm vertrat den Wahlkreis Garry Adams. Sheehans Plakate hängen nun genau vor den riesigen Wandgemälde Bobby Sands am Sinn-Féin-Parteibüro in der Falls Road. Mit Sands saß Sheehan im berüchtigten H-Block des Maze-Gefängnisses, wo sie 1981 in einen wochenlangen Hungerstreik gingen, den Sands (der währenddessen sogar ins Parlament gewählt wurde) nicht überlebte.

Demographie begünstige die Katholiken

„Am 5. Mai starb Sands“, erinnert Taxifahrer Patrick. „Und ist es nicht ein Zufall, daß die Wahl zum Nordirischen Parlament jetzt am 5. Mai stattfindet?“, sagt er vieldeutig. Später redet er sich ein wenig in Rage: „Dieser 5. Mai könnte der Anfang vom Ende der britischen Herrschaft in Irland sein. Der nordirische Staat wird fallen.“

Sinn Féin führt in den Umfragen, mehr als 25 Prozent werden der links-nationalen Partei zugetraut. Erstmals könnte eine SF-Politikerin, Vizechefin Michelle O’Neill, First Minister von Nordirland werden. Unser Taxifahrer ist überzeugt, daß ein Referendum über die Abspaltung des britischen Nordirlands und die Vereinigung mit der Republik Irland nur noch eine Frage weniger Jahre sein wird. Daß sich in einer Umfrage von Politologen der Universität Liverpool nur etwas mehr als ein Drittel der Nordiren für eine Vereinigung mit dem Süden aussprachen, will er nicht gelten lassen. Beim Brexit-Votum vor sechs Jahren hatte eine deutliche Mehrheit (58 Prozent) der Wähler in Nordirland für den Verbleib in der EU gestimmt. Außerdem sei die Demographie auf der Seite der katholischen Republikaner und Nationalisten. „Sie haben größere Familien, mehr Kinder“, sagt Patrick mit trockenem Lachen.

Als Nordirland vor 101 Jahren mit dem „Government of Ireland Act“ geschaffen wurde, lebte in den sechs Grafschaften der historischen Provinz Ulster eine solide Zweidrittelmehrheit protestantische Unionisten. Inzwischen ist die Bevölkerung je knapp zur Hälfte protestantisch und katholisch, wobei die Religion schon lange nicht mehr im Vordergrund steht; stattdessen die kulturelle und politische Identität als nordirisch-britische Unionisten oder irische Republikaner.

Unionisten feiern William von Oranien

Sinn Féins Parteizentrale in der Falls Road, ein eher flacher Backsteinbau, sieht auf den ersten Blick aus wie ein Souvenirgeschäft: Bücher, Fahnen und Figuren werden hier verkauft. Für 20 Pfund gibt es die „Resistance“-Trommel, darauf ein maskierter Gewehrschütze und der Bobby-Sands-Spruch „Es kann niemals Frieden geben in Irland, bis die ausländische, unterdrückerische britische Präsenz entfernt worden ist.“

In der Sonne spielen zwei Straßen weiter Kinder, kleine Mädchen üben Fahrradfahren. Hinter ihnen Häusern erhebt sich eine etwa sechs Meter hohe Zaunwand. In der Bombay Road im Clonard-Viertel, einen halben Kilometer von Sinn Féins Zentrale, flogen 1969 von der unionistischen Seite Brandbomben auf die Häuser. Mehrere Gebäude brannten vollständig aus, Fian Gerald Mc Auley starb im Feuer. Heute blühen Kirschbäume in den Straßen. An der Mauer sind in einer Gedenkstätte die Namen der „Clonard Märtyrer“ eingraviert: irische Freiwilligen-Kämpfer und ziviler Opfer unionistischer Angriffe. Bis heute sind die Fenster vergittert. „Es fliegen immer mal wieder Steine oder Feuerwerkskörper von der anderen Seite rüber“, sagt Taxifahrer Patrick.

Im Clonard Martyrs Memorial Garden wird der zivilen Opfer der Troubles gedacht Foto: Schneider

Durch eine doppelte Eisentorschleuse im Zaun gelangt man nach Norden in den protestantische Teil von West-Belfast. Die Gegend um die Shankill Road war und ist die Hochburg radikaler Unionisten. Union-Jack-Fahnen flattern vor den Arbeiterhäuschen aus Backstein. Ihre Straßen wirken aber leerer, aufgeräumter und düsterer. Auf einer Hauswand reitet ein meterhoher William von Oranien hoch zu Pferde, daneben die Jahreszahl 1690, das Datum der Schlacht am Fluss Boyne, die den Sieg über die katholische Armee von Ex-König James II. brachte und die irische Insel wieder der britischen Krone unterwarf.

Tausende starben im nordirischen Bürgerkrieg

Gegenüber auf einer Wand prangt das riesige Bild von Stephen McKeag, dem Anführer der Ulster Defense Association (UDA), flankiert von zwei schwarz Vermummten, die Maschinenpistolen auf die Betrachter gerichtet. „Das Land der Freien, weil sie tapfer sind“ steht auf dem Banner des Shankill Road Kommandos. Durch einen optischen Trick hat es den Anschein, als würden die Mündungen der Maschinenpistolen die Betrachter verfolgen. Stephen McKeag wurde „Top Gun“ genannt, weil er in den 1980er und 1990er Jahren die meisten Menschen erschossen hat – insgesamt wohl zwölf Zivilisten und nicht-bewaffnete Republikaner. Er selbst starb als 30jähriger im September 2000 an einer Drogenüberdosis. Mitglieder der paramilitärischen Unionisten-Gruppen UDA, der Ulster Freedom Fighters (UFF) und der Ulster Volunteer Force (UVF), sind inzwischen zu verfeindeten Banden mutiert, die um Drogenreviere in der oberen und unteren Shankill Road kämpfen.

Der Kampf um Nordirland zwischen Nationalisten und Unionisten hat in drei Jahrzehnten 3.700 Todesopfer gefordert, mehr als 40.000 Menschen wurden bei Anschlägen und Schußwechseln schwer verletzt – also etwa jeder vierzigste Bürger der Nordprovinz trug physische Narben davon. Im Zentrum von Belfast ist von der blutigen Geschichte heute kaum noch etwas zu spüren. „Wir werden eine multikulturelle Gesellschaft“, freut sich Taxifahrer Patrick. Vor dem Rathaus stehen kleine Gruppen Schwarzer, neben Pubs haben indische Restaurants geöffnet.

Die jüngere Generation kennt die Geschichte der „Troubles“ nur noch aus Erzählungen ihrer Familien, aus dem Schulunterricht und Zeitungsberichten. Doch viele ältere Unionisten zucken noch immer zusammen beim Gedanken, daß Sinn Féin, der ehemalige politische Arm der IRA, künftig wohl den Regierungschef des Landesteils stellen wird.

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