Warum Rußland Europa trotz allem braucht (und umgekehrt)

von Karl M. Richter

In Ost und West sind sich die Falken einig: Rußland und Europa sind geschiedene Parteien. Moskau sucht seine Verbündeten jetzt in „Eurasien“ und setzt auf China, Indien, Iran usw. Der Westen meint, Rußland sei da gut aufgehoben, eliminiert große Teile der eigenen Geschichte und setzt ganz auf das Pferd USA.

Beide Seiten haben Unrecht. Europa braucht Rußland, Rußland braucht Europa, beide sind für die Zukunft um ihrer Existenz Willen aufeinander angewiesen.

Schauen wir zunächst nach Osten. Vor allem müssen wir uns hier von „monolithischen“ Vorstellungen trennen. Weder Rußland noch China sind ein „Block“. In ihnen wirken vielmehr eine Vielzahl von unterschiedlichen, teilweise gegeneinander wirkenden Kräften. Rußland, bzw. die Russische Föderation, ist ein Vielvölkerstaat, dessen unterschiedliche Nationalitäten mehr denn je auseinanderstreben.

Ein besonderer Faktor stellt der Islam dar, der im Süden Rußlands immer stärker wird. Die demographische Problematik teilt Rußland mit Westeuropa. Trotz vielfältiger Anstrengungen im Bereich der Familienpolitik bekommt die russische Frau immer noch wenig Kinder, während sich ihr moslemischer Gegenpart ausgesprochen fruchtbar zeigt. Dazu kommt eine massive Zuwanderung in die mehrheitlich moslemischen Teile der Föderation. Diese werden zweifellos irgendwann nach Unabhängigkeit streben.

Früher waren China und Rußland wie Katz und Hund. Die aggressive NATO-Politik hat Moskau in die Arme Pekings getrieben, wie der russische Außenminister Lawrow einmal sagte. Gewollt habe man es nicht. Ist China ein für Rußland verläßlicher Partner? Im Moment scheinbar ja. Die Feindschaft zu den USA schweißt zusammen. Doch was, wenn Rußland Schwächen zeigt? China schaut mit Argusaugen auf die dringend benötigten russischen Rohstoffe. Sollte die Russische Föderation einmal ins Wanken geraten, wird Peking zweifellos zugreifen.

Wie China passen auch Indien und Iran nicht zu Rußland. Historisch überwiegen die politischen Gegensätze, von den kulturellen nicht zu reden. Rußland ist und bleibt ein christliches, europäisch geprägtes Land. Niemand weiß das so gut wie Putin, der immer ein großer Bewunderer der westlichen Kultur war, insbesondere der deutschen. Er wird das auch jetzt nicht vergessen haben, trotz allem.

Will sich Europa von der amerikanischen Hegemonie lösen, braucht es Rußland als Anker im Osten. Auf der anderen Seite wird Rußland gegen den Ansturm Chinas auf den Westen angewiesen sein. Ein Europa der Zukunft mit souveränen, selbstbestimmten Völkern in ihren Nationalstaaten („Europa der Vaterländer“) wird auf Rußland nicht verzichten können, weder kulturell, noch wirtschaftlich oder militärisch. Die SWG hat das in ihrem Sonderheft 2021 ausführlich besprochen.

In Rußland mausern sich gerade wieder panslawistische Kreise, die Peter I. und Katharina II. (beide mit dem berechtigten Beinahmen der/die Große) als Verräter ansehen, die Rußland an den Westen ausgeliefert hätten. Sie verkennen, daß ihr Land die kulturellen und politischen Impulse, die es zu einer Großmacht werden ließen, gerade von diesen Herrschern empfing, welche ihr Land nach Westen öffneten. Rußland würde einen schweren Fehler begehen, sich von dieser Tradition zu verabschieden. Im Osten, in den weiten Sibiriens, in China oder Indien, wird es dafür keinen Ersatz finden.

Es bleibt dabei, Rußland gehört zu Europa, und es weiß das auch. „Eurasien“ ist eine Fiktion, ein historischer und kultureller Irrweg. Kundige Beobachter sind sich einig, daß nach dem absehbaren Abtreten der USA als „einziger Weltmacht“ die Karten auf unserem Kontinent neu gemischt werden. Deutschland, Frankreich und auch Rußland werden dann als Führungsmächte aufgefordert sein, sich wieder zusammenzuraufen und für die Zukunft unseres Kontinentes in den Traditionen des christlichen Abendlandes gemeinsam Verantwortung zu übernehmen.

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