Qui bono?

Den Fall „Sprengung von Nordstream 1+2“ könnte wohl jeder Hobbykriminalist im Handumdrehen lösen, wenn er die drei klassischen Fragen stellt: 1. Wer hatte ein Motiv? 2. Wer hatte die Gelegenheit? 3. Wer hatte die Mittel? Noch dazu, wenn man das vorliegende Quasi-Geständnis des Hauptverdächtigen hinzuzieht. Der Leser wird sich nun die Antwort selber geben können, wer höchstwahrscheinlich hinter der Sabotage steckt.

In jedem Fall bedeutet die Sprengung der Pipelines einen direkten Angriff auf Europa und insbesondere auf Deutschland. Der Ukraine-Konflikt hat damit eine weitere, üble Dimension erhalten. Westliche Falken könnten den Vorfall dazu benutzen, um nach dem NATO-Bündnisfall zu rufen.

Unterdessen entwickelt sich die militärische Lage in der Ukraine für Rußland schlecht. Die (Teil-)Mobilisierung verläuft offensichtlich chaotisch. Präsident Putin zeigte gestern seine Empörung öffentlich im Fernsehen, als er sichtlich aufgebracht beklagte, daß die Falschen einberufen würden, während man die Richtigen wieder nach Hause schicke. Auch hätte er kein Verständnis dafür, wenn Ärzte als Panzerschützen verwendet würden usw. Er forderte sogar den russischen Generalstaatsanwalt auf, in dieser Sache tätig zu werden. Das deutet darauf hin, daß es sich nicht um eine Marginalie handeln kann.

Wie viele Fälle von Fahnenflucht es nach dem Aufruf zur Mobilisierung gibt, ist schwer zu sagen. Die Behauptung des Westens, es seien „Zehntausende“, ist sicher übertrieben. Doch in den sozialen Netzwerken kursieren Videos, die lange Schlangen von jungen Männern an Grenzübergängen zeigen, wo ihnen noch von den Behörden Einberufungsbescheide ausgehändigt werden. Am Grenzübertritt werden sie aber offensichtlich nicht gehindert. Warum schließt Putin die Grenzen nicht? Ein weiteres Rätsel im russischen Verhalten.

Die Desertionen werden übrigens auch ihren Grund darin haben, daß die Situation der Wehrpflichtigen in der russischen Armee alles andere als gut ist. Wie man hört, sind Verpflegung, Ausrüstung und Unterkunft oft schlecht, die Behandlung durch die Vorgesetzten von Gewalt geprägt. Trifft das zu, wird man den russischen Wehrpflichtigenverbänden keinen hohen Gefechtswert beimessen können.

Auch die Lage an der Front ist für Rußland momentan nicht rosig. Zwar hat die Armee Moskaus nach wie vor die Überlegenheit in der Luft und bei der Artillerie. Doch konnte die Ukraine ihre Bodentruppen in den vergangenen Wochen erheblich verstärken. Im Norden und Süden der Front besteht jetzt ein deutliches Übergewicht gegenüber den russischen Streitkräften. Es ist offensichtlich so groß, daß Kiews Oberkommando sich verlustreiche Angriffsoperationen leisten kann.

Und die sind auch teilweise erfolgreich. Im Kampf um die wichtige Stadt Liman (Norden) droht den russischen Verteidigern die Einkesselung. Tiefe Einbrüche in die Front in diesem Abschnitt, aber auch im Süden bei Cherson, konnten bisher nicht genügend abgeriegelt und bereinigt werden. Westlich Donezk versuchen die Russen vorzugehen, um der durch ständige Artillerieangriffe gebeutelten Stadt Entlastung zu bringen. Doch dort sind die ukrainischen Verschanzungen besonders stark. Durchschlagende russische Erfolge bleiben auch dort aus.

Die russische Verteidigung im Dobass steht also stark unter Druck. Wie es weitergehen wird, hängt auch davon ab, wie lange und in welchem Umfang der Westen Kiew weiterhin militärische Unterstützung leisten kann. Die schlechte Entwicklung der Wirtschaftslage in Europa und in den USA spricht allerdings nicht dafür. Und Rußland? Bisher konnte es seine Truppen im Donbass nicht wirksam verstärken. Will man nicht oder kann man nicht? Eine spannende Frage auch angesichts des Mobilisierungs-Chaos. Auf den Vorteil in der Luft und bei der Artillerie allein wird man sich jedenfalls nicht verlassen können. Wer Gebiete erobern will, muß kampfkräftige Bodentruppen haben und zum Angriff schicken.

Die Referenden in den vier Gebieten Saporoschja, Cherson, Donezk und Lugansk haben erwartungsgemäß deutliche Mehrheiten für den Beitritt in die Russische Föderation ergeben. Noch am 30. September 2022 soll die Eingliederung vollzogen werden. Damit hat Moskau sich festgelegt, ein Zurück kann es nicht mehr geben. Es muß diese Gebiete militärisch halten und den Rest des Donezker Territoriums nehmen. Eine Wahl hat Putin jetzt nicht mehr.

Ob Moskau sich damit übernommen hat, wird sich zeigen. Die bisherigen Anstrengungen reichen bei weitem nicht aus. Ein weiteres Desaster wie die widerstandslose Räumung des Charkow-Gebietes kann Putin sich jedenfalls nicht mehr leisten. Aber wir werden sehen.

Die Redaktion

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