Lagebeurteilung ohne ideologische Scheuklappen

Wer meint, Rußland sei im Ukraine-Konflikt auf der Verliererstraße, täuscht sich. Er vergißt, welche Ressourcen das Land an Menschen und Rohstoffen hat und welches Potential für die Kriegswirtschaft damit verbunden ist. Die Tatsache, daß die russischen Streitkräfte momentan in der Defensive sind und Gelände verlieren, hat taktische und keine operativen Gründe. Sie sind darin zu suchen, daß Rußland in der Ukraine bisher eine sehr begrenzte militärische Operation mit relativ geringer Truppenstärke durchgeführt hat. Die Zahl von etwa 250.000 Mann, die sowohl westliche wie russische Quellen angeben, hat sich seit dem Beginn der Feindseligkeiten wenig verändert. Erst seit kurzem führt Moskau eine Teilmobilisierung durch, welche nach eigenen Angaben bisher 200.000 Mann auf die Beine gebracht hat, welche sich in der Ausrüstung und Ausbildung befinden.

Die ukrainischen Streitkräfte vor der fast 800 km langen Frontlinie sind im Bereich der Bodentruppen den russischen deutlich überlegen. Dafür beherrscht Rußland den Luftraum und hat ein erhebliches Übergewicht bei der Raketen- und Rohrartillerie. Folgerichtig stützt sich die russische Führung bei ihrer Kampfführung in erster Linie hierauf ab. Am Boden verfolgt sie die Taktik der Verzögerung mit rechtzeitigem Ausweichen und zeitlich begrenzter Verteidigung, um eine Einkreisung und Abschneidung der eigenen Truppen zu verhindern. Dies um den Preis von Geländeverlusten. Doch die Unversehrtheit der Truppe wird offensichtlich momentan von Moskau als der höhere Wert veranschlagt.

Die russische Taktik der Abnutzung in Verbindung mit massiven Luft- und Artillerieschlägen hat den ukrainischen Angreifern bisher schwere Verluste an Mensch und Material beigebracht. Wenn die russischen Angaben stimmen, daß Kiew in drei Tagen etwa 3.000 Mann verliert und bisher insgesamt 100.000 Mann gefallen sind bzw. verwundet oder kriegsgefangen wurden, so sind das gewaltige Zahlen. Ein Blutzoll, den auch eine Armee mit erheblichen Personalreserven auf Dauer nicht verkraften kann.

Die einbrechende schlechtere Witterung begünstigt den russischen Verteidiger. Einsetzender Regen macht das Gelände für schwere Fahrzeuge zunehmend unpassierbar. Bewegungen sind dann nur noch auf befestigten Wegen möglich, wo Truppen leichter bekämpft werden können. Aus diesem Grunde mahnt Washington Kiew zur Eile und feuert zu weiteren Offensiven an, bevor der Winter Kampfhandlungen am Boden weitgehend zum Erliegen bringen wird.

Ziel der nächsten ukrainischen Offensiven soll jetzt vor allem die Stadt Cherson sein. Ihr Besitz würde es den Russen erschweren, im kommenden Frühjahr Odessa anzugreifen und die Ukraine damit vollständig vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Die Bewegungen und Märsche der letzten Tage zeigen, daß dies offensichtlich auch die Absicht des ukrainischen Generalstabes ist. Westlich des Dnjpr konnten die Truppen Kiews nach Süden hin bereits deutliche Geländegewinne für sich verbuchen.

Doch ist auch damit zu rechnen, daß Rußland bald eine stärkere Verteidigungslinie vorwärts bzw. entlang des Dnjpr ziehen wird, nämlich dann, wenn sich die Mobilisierungen auszuwirken beginnen. Und das muß Moskau auch, denn einen Verlust des Gebietes Cherson kann es sich nicht mehr leisten. Die Wirkung auf die Bevölkerung in den besetzten Gebiete und im eigenen Land wäre verheerend.

Dennoch dürfen die taktischen Erfolge der Ukraine nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine operative Entscheidung in diesem Krieg noch weit entfernt ist. Prinzipiell sitzt Moskau wegen seiner größeren Ressourcen am längeren Hebel. Fraglich ist auch, wie lange und in welchem Umfange die NATO die Ukraine noch in dem Maße wie bisher wird unterstützen können. Die Ankündigungen und Beteuerungen der westlichen Politiker dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die europäische und amerikanische Wirtschaft, verbunden mit einer galoppierenden Inflation und explodierenden Staatsschulden, in einer schnellen Abwärtsbewegung befindet, welche bald einen Riegel vor die materielle und finanzielle Hilfe für Kiew schieben könnte.

Ein höherer NATO-General hat dieser Tage vor der naiven Vorstellung gewarnt, Rußland könne den Krieg, so wie er sich jetzt darstellt, verlieren. Ein Mann der Vernunft und Klarsicht offenbar, der die Lage ohne Scheuklappen beurteilt. Es gibt keine andere Lösung als Verhandlungen.

Die Redaktion

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