Moskau sucht die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld

Der begrenzte Charakter der russischen Militäroperation in der Ukraine hat sich seit ihrem Beginn nicht verändert. Bis zur Teilmobilisierung im September 2022 war die Zahl der eingesetzten russischen Truppen im wesentlichen stabil bei etwa 250.000 Mann geblieben. Auch eine Verstärkung um bis zu 300.000 Man wird an den operativen Zielsetzungen Moskaus nichts ändern.

Nach einer offensiven Phase von Frühjahr bis Sommer 2022 mit der Besetzung des vorwiegend russisch bevölkerten Donbass ist das russische Militär zur Defensive übergegangen. Dies lag einerseits daran, daß Moskau seine militärischen Ziele im wesentlichen als erreicht ansah, aber auch daran, daß die ukrainischen Verteidigungskräfte zahlenmäßig weit überlegen waren. Nachdem diese in der Region Charkow auf Druck und unter direkter Leitung der NATO zum Angriff übergegangen waren, verlegte sich die russische Seite auf die Taktik der Verzögerung. Gegenüber überlegenem Gegner wich man ohne hinhaltenden Widerstand aus und legte sich für eine zeitlich begrenzte Verteidigung wieder vor. Dies wiederholte sich entsprechende der Lage. Die Schonung von eigenem Personal und Material stand vor der Behauptung von Gelände.

Inzwischen hat sich die russische Verteidigung an der ganzen Front auch aufgrund von eintreffenden Verstärkungen konsolidiert. Der massive Einsatz der weit überlegenen russischen Luft- und Artilleriekräfte tat dazu ihr übriges. Hinzu kommen seit zwei Wochen die umfangreichen taktischen Luftschläge gegen Infrastruktur in der ganzen Ukraine, vor allem die Energieversorgung betreffend. Die Folgen zeigen sich jetzt an der Front: Die ukrainischen Streitkräfte scheinen derzeit ihre Offensivoperationen bzw. -pläne weitgehend eingestellt zu haben. Auch gegenüber dem besonders bedrohten Cherson im südlichen Frontabschnitt herrscht momentan weitgehende Ruhe.

Der Zeitfaktor steht auf Seiten der Russen. Der fortschreitende Herbst bzw. Winter wird größere Operationen mit gepanzerten Kräften massiv einschränken, wenn nicht unmöglich machen. Auch die Infanterie ist im Winter nur eingeschränkt leistungsfähig. Anders sieht es bei den Luftoperationen aus. Diese können auch im Winter unvermindert fortgesetzt werden. Auch dies spielt den Russen in die Hände.

Die Möglichkeiten für Kiew, vor Wintereinbruch noch weitere wesentliche Rückeroberungen verbuchen zu könne, schwinden mit jedem Tag. Ob Moskau auf der anderen Seite im kommenden Frühjahr in der Lage sein wird, entscheidend in die Offensive überzugehen, muß dahingestellt bleiben.

Der gesamte Kräfteansatz der Russen spricht allerdings dagegen. Es scheint wahrscheinlicher, daß Moskau seine erreichten Positionen halten und konsolidieren sowie gleichzeitig mit den fortgesetzten Luftabgriffen den Gegner „mürbe“ machen will. Vergessen wir nicht, daß das Hauptziel Moskaus die politische Anerkennung der neu gewonnenen Gebiete ist. Es ist töricht zu meinen, Rußland wäre darauf aus, die gesamte Ukraine zu besetzen, was zur Voraussetzung hätte, die ukrainische Armee zu vernichten. Beides würde selbst die riesigen russischen Ressourcen überfordern und zweifellos auch den guten Willen der russischen Bevölkerung.

Ob der Westen darüber hinaus die massive Unterstützung der Ukraine angesichts der rasant fortschreitenden Wirtschaftskrise noch lange fortsetzen kann, ist zweifelhaft. Bei den US-Wahlen im November werden voraussichtlich die Republikaner die Mehrheit im Kongreß erobern. Moskau wird dann damit rechnen können, daß sich die kritischen Stimmen gegen die für den Westen verheerenden Sanktionen und die Milliardenbeträge für das „bodenlose Faß“  Ukraine mehren und ggf. durchsetzen werden. Die Stimmung der europäischen Völker ist der lautstarken Kriegsunterstützung ihrer Staatsführer ohnehin nicht sehr hold.

Alles in allem ist die Lage so zu beurteilen, daß Rußland auf Zeit spielt und darauf setzt, die Ukraine sowie ihre westlichen Unterstützer verhandlungsbereit zu machen. Etwas, das vernünftige Politiker im Westen ohnehin schon lange fordern. Es sieht jedenfalls nicht so aus, als würde Moskau die Entscheidung auf dem Schlachtfeld suchen.

Die Redaktion

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