Süd-Tirol – eine schwärende Wunde in Europa

von Karl M. Richter

Derzeit wird wieder viel über das Selbstbestimmungsrecht der Völker diskutiert. Konkret im Zusammenhang mit den umstrittenen Abstimmungen in den russisch besiedelten Gebieten der Ukraine. Der bekannte US-Völkerrechtler Alfred de Zayas hat sich gerade in einem Interview über diesen Sachverhalt geäußert und festgestellt, daß das Recht der dort lebenden Russen, über ihr staatliches Schicksal selber zu entscheiden, zweifelsfrei im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen steht. Eine andere Auffassung freilich, als die, welche allgemein vom Westen vertreten wird.

Die Vergangenheit hat leider gezeigt, daß die Wahrnehmung dieses Völkerrechtes auf Selbstbestimmung in erster Linie von den politischen und militärischen Machtverhältnissen abhängt. Ein Ausfluß des eindeutig völkerrechtswidrigen Krieges der NATO gegen Serbien in den 1990-er Jahren war zum Beispiel die Abtrennung des Kosovo. Damals wurde den dort lebenden Albanern das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt, weil es dem dominierenden Westen so paßte. Heute paßt es dem Westen – und insbesondere den USA – nicht, daß die Donbaßrepubliken sich von der Ukraine trennen. Aber es geht eben um die Macht und nicht um das Recht.

Andere Völker in Europa, wie die Basken, die Schotten oder die Nordiren, kämpfen schon seit vielen Jahren um ihr Selbstbestimmungsrecht, meistens vergeblich. Nur im Falle der Schotten sieht es danach aus, als ob sie in absehbarer Zukunft ihre Unabhängigkeit erreichen könnten.

Auch wir Deutsche können Lieder über dieses Selbstbestimmungsrecht singen. Nach zwei Weltkriegen wurde unserem Volk als Folge der Niederlage die Selbstbestimmung eindeutig völkerrechtswidrig versagt. Abtrennung von Territorien, Teilung, Vertreibung der Bevölkerung, Mord und Enteignung mußten und müssen wir als besetztes Land widerspruchslos über uns ergehen lassen.

Im Jahre 1920 wurde als Folge des Gewaltdiktates von Versailles im „Vertrag“ von St. Germain der Südteil des Landes Tirol abgetrennt und einer fremden Nation unterstellt. Die deutschen und ladinischen Tiroler wurden –  wieder gegen das Völkerrecht – nicht gefragt. In den 1930-er Jahren fiel das Selbstbestimmungsrecht der Süd-Tiroler dem deutsch-italienischen Bündnis zum Opfer. Diesmal wurden die Süd-Tiroler vor der Wahl gestellt, bei Italien zu bleiben oder nach Österreich zu ziehen. Tausende entschieden sich für letztere Option und verließen die Heimat Richtung Norden. Erst nach dem Abfall Italiens vom Bündnis 1943 und der Besetzung durch deutsche Truppen kam es zu einer kurzen Wiedervereinigung, derer sich viele alte Süd-Tiroler dankbar erinnern. Doch damit war es zwei Jahre später wieder vorbei.

Erneut mußte sich der Kriegsverlierer dem Machtspruch der Sieger beugen. Einmal mehr wurde das Recht der Völker mit Füßen getreten. Ersetzt wurde das Selbstbestimmungsrecht durch das Versprechen einer Autonomie, die niemals ernsthaft durch- und umgesetzt wurde. Die italienische Regierung suchte, wo sie nur konnte, das Autonomiestatut zu unterlaufen und eine Italisierungspolitik in Süd-Tirol durchzusetzen – auch mit Gewaltmitteln. Dagegen setzen sich die deutschen Tiroler zur Wehr. Sie beharrten darauf, über eine Wiedervereinigung mit ihrem Mutterland Österreich selbst entscheiden zu dürfen. Dies wurde ihnen verweigert. Nicht nur von Seiten Italiens, auch durch die Europäische Gemeinschaft. Man griff zur Selbsthilfe und ging in den Widerstand. Der „Befreiungsausschuß Südtirol“ (BAS) suchte in den 1950/60-er Jahren auch durch Gewalt zu erreichen, was die Politik verweigerte. Die Gewalt richtete sich gegen Sachen, doch es kam auch zu unbeabsichtigten Todesfällen. Italien antwortete brutal: Süd-Tiroler Freiheitskämpfer wurden verhaftet, gefoltert und ermordet. Bis heute wurde keiner der Täter zur Rechenschaft gezogen – ein Skandal im Skandal. Überlebende Freiheitskämpfer wurden des Landes verwiesen. Bis heute verweigert man den letzten Hochbetagten des BAS die Rückkehr in die Heimat. Erst im Sarg dürfen sie Süd-Tirol wieder erreichen. Noch einmal sei betont, daß dies wider alle Menschen- und Völkerrechte geschieht.

Die einzige politische Kraft Süd-Tirols, welche sich vehement für die Wiedervereinigung mit Österreich einsetzt,  ist die Partei „Süd-Tiroler Freiheit“. Ihr Wahlspruch lautet: „Süd-Tirol ist nicht Italien!“. Sie ist klein, jedoch in zahlreichen kommunalen Parlamenten vertreten, wie auch im Landesparlament. Die herrschende Südtiroler Volkspartei (SVP), Spiegel der Österreichischen ÖVP, steht mit dem heutigen Landeshauptmann Kompatscher voll auf der italienischen Seite – und damit gegen die Interessen des eigenen Volkes. Zur Zeit der österreichischen ÖVP/FPÖ-Regierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz 2017-2019 schien Bewegung in die Süd-Tirol-Frage gekommen zu sein. Wien erhöhte den Druck auf Rom, die Autonomie endlich ernst zu nehmen und stellte den Süd-Tirolern die österreichische Staatsbürgerschaft in Aussicht. Nicht nur von Italien – das seinen Volksangehörigen in aller Welt wie selbstverständlich den italienische Paß verleiht -, sondern auch von Seiten der EU wurde dagegen heftig opponiert. Seit dem Ende der FPÖ-Regierungsbeteiligung in Österreich ist von alldem keine Rede mehr.

Nachdem in Italien vor einigen Jahren zunehmend nationalistische Strömungen die Regierungspolitik bestimmen, hat sich die Lage der deutschen Süd-Tiroler weiter verschlechtert. Die ohnehin nie voll verwirklichte Autonomie wird zunehmend unterhöhlt. Eine neue Welle der Italisierungspolitik hat an Brenner und Etsch eingesetzt. Kulturfremde Migranten und Italiener werden gezielt in Süd-Tirol angesiedelt. Die italienische Sprache soll entgegen den Verträgen die alleinige Amtssprache werden. Deutsche Schulen und Kultureinrichtungen sowie Traditionsvereine werden gezielt behindert und benachteiligt. Ja, man scheut sogar nicht davor zurück, Relikte aus der Mussolini-Ära wiederherzustellen und zu restaurieren.

Dies alles wird die „Süd-Tiroler-Freiheit“ nicht müde, anzuprangern. Sie fordert zu Recht nicht nur die vertragstreue Umsetzung der Autonomie, sondern auch das unverbrüchliche Recht auf eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit Österreich. Und sie erinnert an das Vermächtnis der großen Süd-Tiroler Freiheitshelden, angefangen bei Andreas Hofer bis zu Sepp Kerschbaumer, Georg Klotz, Anton Gostner, Luis Amplatz und viele mehr. Ihr Einsatz und ihr Opfer sollen nicht vergebens gewesen sein.

(Foto: Plakataktion der Partei „Süd-Tiroler Freiheit“ am Brenner 2009. Quelle Wikipedia.)

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