Im Folgenden geben wir einen elektronischen Schriftwechsel zwischen Manfred Backerra, Prof. Dr. Alfred de Zayas, Rainer Thesen und Dr. Stefan Scheil wieder, der sich auf die Besprechung des Buches von Rainer Thesen „Tatort Ukraine“ bezieht, welche Prof. Dr. Konrad Löw verfasst hat. Es geht insbesondere um die Frage, ob die Bevölkerung der Donbass-Republiken und der Krim das Recht hatten, über ihre Trennung von der Ukraine selbst zu bestimmen.
Die Besprechung finden Sie hier (PDF).
EP Manfred Backerra 9.12.2022 an Prof. Alfred de Zayas
in der neuen JF v. 9.12.22, S. 21 bespricht Konrad Löw ein Buch von Rainer Thesen „Tatort Ukraine, in dem u.a. behauptet wird, Teilen eines Staatsgebietes stehe kein Recht auf Selbstbestimmung zu.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das, was gemäß der Rezension in dem Buch behaupte wird, bewerten würden.
EP Prof. Alfred de Zayas 10.12.2022
Völkerrechtlich unsinning: das würde bedeuten, das Recht auf Selbstbestimmung existiert nicht, also nicht in Kosovo, nicht in Slowenien, Kroatien usw.
Art. I des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte etabliert das Selbstbestimmungsrechals jus cogens Recht [zwingendes Recht] ALLER Völker.
Artikel 1 (1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. (2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden. (3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhand gebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.
Hinzu kommt das klare Gutachten des Internationalen Gerichtshofs im Fall Koso, insbesondere Absatz 80.
Auch mein 2014 Bericht an die Generalversammlung über die Theorie und Praxis des Selbstbestimmungsrechtes Dok. A/69/272
und Kapitel 5 meines Buches „Building a Just World Order“.
EP Rainer Thesen 11.12.2022
Erst mal vielen Dank für die Zusendung der Stellungnahme von Herrn Professor de Zayas. Ich schätze ihn seit vielen Jahren sehr. Seine Arbeiten zum Kriegsvölkerrecht, aber auch Selbstbestimmungsrecht der Völker sind überzeugend, überzeugen indessen leider nicht immer die Politik und damit die Mehrheit in der UN-Vollversammlung. Was den Kosovo angeht, so habe ich diesen Fall auf Seite 30 des besprochenen Buches erwähnt, allerdings auch, daß sich Russland damals im Sicherheitsrat der Anerkennung des Kosovo widersetzt hat. Auch insoweit Herr Professor de Zayas dankenswerterweise auf das Selbstbestimmungsrecht im Falle Nicaragua hinweist, so habe auch ich dies zustimmend auf Seiten 31/32 getan. Die ganze Tragik des Völkerrechts auf dem Gebiet des Selbstbestimmungsrechts wird ja auch am Falle der Katalanen deutlich, die Herr Professor de Zayas nach meiner persönlichen Ansicht durchaus zu Recht als Träger dieses Rechtes ansieht. Aber es zeigt sich hier ja, daß jedenfalls in diesem Falle, aber auch in vielen anderen, die Mehrheit der Staaten nicht bereit ist, eine solche Sezession gegen den Willen des Gesamtstaates zuzulassen. Abgesehen davon, daß im Falle der ukrainischen Landesteile, die nun von Russland annektiert worden sind, keine Volksabstimmungen unter internationaler Aufsicht stattgefunden haben, wird ganz offensichtlich die Weltgemeinschaft daran festhalten, daß es auf jeden Fall der vorherigen Einwilligung des Gesamtstaates Ukraine bedürfte, bevor eine Volksgruppe, die man wohl auch noch näher definieren müsste, das Recht zur Abspaltung bekäme. Das mag man aus der Sicht des Selbstbestimmungsrechts der Völker bedauern. Als Wissenschaftler kann Herr Professor de Zayas dies auch in seinen Büchern schreiben und im Auftrage der betreffenden Völker in Resolutionen formulieren. Wenn ich dessen eine realistische Einschätzung der Rechtslage geben will, dann orientiere ich mich dabei an meiner beruflichen Erfahrung als Anwalt. Meinem Mandanten nützt es nichts, wenn ich seinen Rechtsstandpunkt mit noch so schlüssigen Argumenten begründe, wenn diese Argumente von den zuständigen Gerichten in ihrer bisherigen Rechtsprechung noch nie akzeptiert worden sind. Mit der Klage meines Mandanten werde ich dann voraussehbar scheitern. Selbst in einer Prüfungsarbeit während des Jurastudiums kann ich die Lösung des Prüfungsfalles an den Theorien von Herrn Professor de Zayas orientieren, wobei selbstverständlich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gegenmeinung stattfinden muß, die in diesem Falle die herrschende Meinung ist, und werde trotzdem die Prüfung mit guter Note bestehen. Als Anwalt indessen kann ich so nicht vorgehen. Nachdem ich jedoch in diesem Buch die Rechtslage objektiv darstellen muß, weil es dem Leser wenig nützt, wenn er eine wenn auch noble, jedoch vor den internationalen Gerichten nicht durchsetzbare Rechtsauffassung vorgesetzt bekommt, habe ich das ebenso dargestellt, wie geschehen.
Richten Sie bitte Herrn Professor der Zayas meine Grüße aus, ich schätze ihn nach wie vor sehr.
EP Prof. Alfred de Zayas auf einen Einwurf von Dr. Stefan Scheil
Du hast insofern recht, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht „self-executing“ ist. Wenn es so wäre, hätten die Saharauis, die Kurden, die Tamilen das Recht verwirklichen können.
Da sind etliche Völker, die gemäss dem Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte Selbstbestimmung haben müssten, kriegen es nicht verwirklicht, weil mächtige Staaten es verhindern, z.B. die Katalanen, die Ogonis und Igbos von Biafra, die West-Papuans, die Rapa Nuis, die Mapuches von Chile und Argentinien (eine Million, immerhinque).
Das Prinzip der territorialen Integrität ist zwar ein wichtiges Prinzip – aber nicht absolut und gewiss nicht nach dem Gutachten des IGHs 2010 zu Kosovo: Absatz 80 macht es deutlich, dass das Prinzip der T.I. nur gegen andere Staaten in Anspruch genommen werden kann, NICHT aber gegenüber dem eigenen Volk, das ein naturrechtliches und kodifiziertes Recht auf Selbstbestimmung hat. Das IGH hat beschlossen, dass in bestimmten Fällen das Selbstbestimmungsrecht eine höhere Priorität über die territoriale Integrität besitzt. Nicht zuletzt als conflict-prevention measure.
Im Prinzip haben die Russen aus der Krim und aus dem Donbass einen stärkeren Anspruch als die Kosovaren.
Ich war 1994 im März und Juni 1994 der Envoy of the UN Secretary General zu den Parlaments- und Präsidentschafts-Wahlen in der Ukraine, war in der Krim und im Donbass – ohne Frage: die Menschen dort sind überwiegend Russen und fühlen sich russisch. Ohne den verfassungswidrigen Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine im Februar 2014 wäre die Abspaltung nicht gekommen. Aber man muss verstehen, dass sich die Russen eine illegale Putsch-Regierung in Kiew nicht gefallen lassen —
und deshalb haben sie 2014 Referenden durchgeführt.
Zweifelsohne sind diese Gebiete mehrheitlich russisch und wollen (nicht mehr) unter ukrainischer Jurisdiktion sein.
Kosovo ist ein starker völkerrechtlicher Präzedenzfall.
Es war nämlich die NATO, die die territoriale Integrität Jugoslawiens zerstörte – und zwar bewusst.
Hinzu kommt, dass es sich dabei um einen flagranten Bruch des Artikels 2(4) der UNO-Charta handelte.
Im Falle der Krim (und Donbass) sind die UN, OSZE, EU eingeladen worden, Beobachter zu den Referenden zu versenden – diese haben haben es aber nicht getan. Die intellektuelle Unredlichkeit der NATO und der EU-Staaten ist atemberaubend – wird aber von den Medien getragen. We are swimming in an ocean of lies – and skewed [schiefer/verzerrter] narratives.
Siehe z.B. Reinhard Merkel, Karl Albrecht Schachtschneider und viele andere.
https://www.rubikon.news/artikel/die-krim-und-das-volkerrecht
https://www.youtube.com/watch?v=Y8OJ07D7gPI