Alfred de Zayas: Blaupause für einen Frieden in der Ukraine

Es gibt ein Menschenrecht auf Frieden

Von ALFRED DE ZAYAS | Zumal immer mehr Politiker und Wissenschaftler weltweit erkennen, dass der Ukraine-Krieg militärisch nicht zu lösen ist und dass es keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben kann, müssen wir uns auf Schadensbegrenzung konzentrieren, was einen sofortigen Waffenstillstand bedeutet. Dies ist die einzig vernünftige Politik, die wir verfolgen können und auch von allen Organisationen der Vereinten Nationen vorangetrieben werden sollte, insbesondere von der UN-Generalversammlung, dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte, dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation und anderen.

Es gibt in der Tat ein Menschenrecht auf Frieden, zu dessen Einhaltung alle UN-Mitgliedstaaten erga omnes – nach dem Absolutheitsprinzip – verpflichtet sind. Für unser Überleben wäre es von entscheidender Bedeutung, dass die Regierungen das überholte Paradigma der bedingungslosen Kapitulation und „der Gewinner nimmt alles“ aufgeben sollten. Die aktuelle Kriegstreiberei der Politiker und die Kriegstrommeln der Mainstream-Medien sind alles andere als „patriotisch“. Im Atomzeitalter sollte vielmehr alles getan werden, um Spannungen abzubauen und Brücken für einen Dialog zu bauen.

Mein Plan für den Frieden ist einfach:

  1. Ein Waffenstillstand auf der Grundlage der UN-Charta.
  2. Ein Verbot von Waffenlieferungen an die Krieg führenden Parteien.
  3. Internationale Hilfe von den Vereinten Nationen organisiert für alle Bevölkerungen, die unter Krieg mit Mangel an Energie, Nahrungsmitteln etc. leiden.
  4. Von den Vereinten Nationen organisierte und überwachte Referenden auf der Krim und im Donbass.
  5. Die Aufhebung aller Sanktionen, welche die Vorteile der Globalisierung zunichte machen, Lieferketten unterbrechen, den internationalen Handel behindern und die Ernährungssicherheit gefährden.
  6. Die Ausarbeitung einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa und die Welt.
  7. Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, um die Klagen aller Seiten zu wahrzunehmen.
  8. Bestrafung für Kriegsverbrechen durch die jeweiligen eigenen Regierungen, z.B. ukrainische Verbrechen würden von ukrainischen Richtern untersucht und verfolgt, russische Verbrechen würden von russischen Gerichten untersucht und bestraft.

Es steht zu viel auf dem Spiel: Das Überleben des Planeten

Es gibt keine gültige Analyse bzw. eine Zweier-Einteilung der Welt in nur „Gute“ und „Böse“. Es gab schon immer Gutes im Schlechten und Schlechtes im Guten. Eine Schwarz-Weiss-Analyse ist nur möglich, wenn man sich weigert, die Meinungen aller Kriegsparteien und Beobachter von außen, die diese Tragödie mit ansehen müssen, zu berücksichtigen. Die Katastrophe, deren Zeugen wir sind, hat Grundursachen. Wollten wir ein tragfähiges Konzept für den Frieden vorlegen, so dürfen wir es nicht ausschließlich an der „westlichen“ Perspektive festmachen, sondern müssen auch die Sichtweisen von 1,5 Milliarden Chinesen, 1,5 Milliarden Indern, 240 Millionen Pakistanern, 170 Millionen Bangladeschern, 280 Millionen Indonesiern, 220 Millionen Nigerianern, 220 Millionen Brasilianern, 140 Millionen Mexikanern u.a. miteinbeziehen. Zu viel steht auf dem Spiel. Sowohl Amerikaner wie auch Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen einer innereuropäischen Querele aufs Spiel zu setzen. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört. Darüber dürfte sich niemals ein Atomkrieg entfachen.

Entscheidend ist, dass wir uns hier und heute auf einen Waffenstillstand einigen und Vermittler wie Papst Franziskus einschalten, um konkrete Vorschläge zu erhalten.  Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger hat kürzlich im Spectator ein Essay veröffentlichen lassen, in dem er auf ein Ende der Feindseligkeiten durch Verhandlungen drängt und zugleich vor der Gefahr eines Atomkriegs warnt. Er erinnert, dass die US-Regierung im Jahr 1916 einst die Gelegenheit hatte, den Ersten Weltkrieg auf diplomatischem Wege zu beenden, aber dass der vielfach verehrte Woodrow Wilson diese Chance aus innenpolitischen Gründen vermasselte.

Der „Krieg in der Ukraine, in dem zwei Atommächte um ein konventionell bewaffnetes Land kämpfen“, ist eindeutig ein Stellvertreterkrieg, in dem NATO-Länder im vergeblichen Bemühen einem Spielplan folgen, um Russland zu schwächen und einen Regimewechsel herbeizuführen. USA und NATO haben nicht verstanden, dass Russen, sowie sie sich bedroht fühlen, zu Patrioten werden und zu kämpfen verstehen – ganz gleich wie die Chancen stehen. Welche Sanktionen auch immer, diese werden die russische Bevölkerung nicht bewegen, sich gegen Putin aufzulehnen und einen US-freundlichen Zar an seine Stelle zu setzen. Auch 62 Jahre drakonischer Sanktionen gegen Kuba vermochten nicht die kommunistische Regierung in die Knie zu zwingen. Ebenso haben 40 Jahre Sanktionen gegen Nicaragua oder 23 Jahre Wirtschaftskrieg gegen Venezuela die Regierungen unter Chavez bzw. Maduro nicht zu Fall bringen können. Im Gegenteil, bis heute genießen diese linksgerichteten Regierungen beträchtliche Unterstützung in der Bevölkerung. Wie ich während meiner offiziellen UN-Mission in Venezuela erfahren konnte, macht die große Mehrheit der Venezolaner nicht Maduro, sondern die USA für ihre Probleme verantwortlich.

Die Vorschläge von Henry Kissinger

Natürlich können wir nicht in die Welt vor dem 24. Februar 2022 einfach zurückkehren. Zu viel Blut ist geflossen. Gemäß Henry Kissinger sollte jeder „Friedensprozess“ die Ukraine „an die NATO binden, wie auch immer formuliert“, indem er mittlerweile die ukrainische Neutralität nicht mehr als Option ansieht. Jene war noch im März 2022 die bevorzugte Lösung, als die Türkei versuchte ein Friedensabkommen zu vermitteln, das von den USA und dem Vereinigten Königreich torpediert wurde: Letztere bestanden darauf, den Krieg bis zum „Sieg“ über Russland fortsetzen zu lassen und die Ukrainer als Kanonenfutter zu missbrauchen.

Kissinger schlägt vor, dass sich Russland auf die Linien vor dem 24. Februar 2022 zurückzieht, während die Gebiete, die die Ukraine beansprucht – Donezk, Lugansk und die Krim – nach einem Waffenstillstand Gegenstand von Verhandlungen würden. Ich hege diesbezüglich meine Zweifel: Denn, nach dem Beschuss dieser Gebiete seit 2014 durch die Ukraine hat sich gehöriger Hass gegen das ukrainische Vorgehen aufgestaut, so dass eine Wiedereingliederung dieser Gebiete in die Ukraine undenkbar scheint. Es könnte so zu einem Bürgerkrieg, ja sogar einem Guerillakrieg kommen. Im Grunde genommen obläge es den Bevölkerungen, nach ihrem nachweislich geäußerten Willen, diese Sache vor Ort zu entscheiden.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1, 55, Kapitel XI und XII UN-Charta) wurde im Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte festgelegt und hat sowohl von der Ukraine als auch Russland respektiert zu werden. Natürlich könnte die UNO auch Referenden zur Selbstbestimmung organisieren, die international zu überwachen wären. Doch die UNO versagte schon im Jahr 1991 gegenüber Ukraine und Russland, indem sie keine Referenden in den von Russen bevölkerten Gebieten organisierte, nachdem sich die Ukraine von der Sowjetunion einseitig abgespaltet hatte sowie auch nach dem antirussischen Staatsstreich im Jahr 2014 im Zuge des Maidan, der den rechtmäßigen demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, stürzte. Ein Referendum im Jahr 2014 hätte die Tragödie, wie wir sie heute miterleben, definitiv verhindern können.

Inzwischen sollte jedem klar sein, dass die russischen Bevölkerungen der Krim, wie von Donezk und Lugansk gegen einen solchen Vorschlag rebellieren würden, wie auch die Kosovaren einer Wiedereingliederung in Serbien niemals zustimmen würden. Unklar ist, wie die Bevölkerungen von Gebieten, wie um Cherson oder Saporischschja abstimmen würden, in denen eine russische Mehrheit weniger ausgeprägt scheint. Russland wird sich niemals auf die Linie vor dem 24. Februar 2022 zurückziehen, denn es ist mit gutem Grund der Ansicht, dass die Menschen dieser Gebiete sich in großer Gefahr befanden und ein Recht auf Schutz besitzen. Ich persönlich halte nichts von der so genannten Doktrin der „Schutzverantwortung“[1]. Doch, falls R2P (Recht zu Schützen) eine Legitimation erhielte, könnten sich die Russen darauf berufen.

Eine neue globale Sicherheitsstruktur ist aufzubauen

Es sollte eine neue europäische und globale Sicherheitsarchitektur aufgebaut werden, die den legitimen Sicherheitsbedürfnissen aller in der Region lebenden Menschen Rechnung trägt. Die Unabhängigkeit der Ukraine muss garantiert werden, sowie natürlich auch die Unabhängigkeit Russlands.

Die vielen Hindernisse für einen Frieden in der Ukraine, sind vor allem auf die unnachgiebige Haltung der meisten NATO-Staaten zurückzuführen, die bis heute nicht anerkennen, dass die NATO-Osterweiterungen entgegen den getroffenen Vereinbarungen aus den Jahren 1989/91 von Russland als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurden und früher oder später Russland zur Reaktion zwangen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland von 2014 bis 2022 an den Minsker Vereinbarungen mitwirkte bzw. an OSZE-Treffen und am Normandie-Format teilnahm. Es muss anerkannt werden, dass Russland im Einklang mit Artikel 2 Absatz 3 der UN-Charta gehandelt bzw. acht Jahre lang versucht hatte, die durch den Putsch im Zuge des Maidan 2014 entstandenen Probleme mit friedlichen Mitteln zu lösen. Leider war es die Ukraine, die unterstützt von den USA und dem Vereinigten Königreich, sich weigerte, die Minsker Vereinbarungen und das Selbstbestimmungsrecht der russischen Bevölkerung in der Ukraine umzusetzen. Die beiden unterbreiteten Vertragsvorschläge von Außenminister Lawrow im Dezember 2021 waren moderat und boten eine gute Diskussionsgrundlage. Diese Verträge hätten Russland die nationalen Sicherheitsgarantien, auf die es Anspruch hat, geben und einen nachhaltigen Frieden zwischen Russland und der Ukraine möglich machen können. Leider wurden diese Vorschläge vom NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf arrogante Weise zurückgewiesen.

Das Problem heute ist, dass sich viele Vertreter des Westens „ein durch Krieg ohnmächtig gemachtes Russland“ wünschen. Doch solche Leute kennen Russland, das russische Volk und seine Geschichte nicht. Sie sind die Opfer antirussischer Propaganda, die in den westlichen Medien omnipräsent ist und nur während der Gorbatschow-Jahre Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre etwas abflaute, doch schnell wieder hochkochte, nachdem die NATO zu ihrer Existenzberechtigung nach einem „Feind“ suchte. Es begann unter US-Präsident Bill Clinton und wir erleben heute Auswüchse ungezügelter Russophobie in Mainstream-Medien, Talkshows und Hollywood. Diese Art von Xenophobie ist zwar nach Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verboten, aber viele Menschen kennen die Existenz dieses ICCPR-Pakts nicht. Ich erinnere mich an die antirussische Hetze zur Zeit des georgischen Einmarsches in Südossetien, an die hasserfüllten Artikel gegen russische Sportlerinnen und Sportler während der Olympischen Winterspiele in Sotchi Anfang 2014 kurz vor dem Coup d’Ètat im Zuge des Maidan. Es scheint, als ob die Medien die amerikanische und europäische Öffentlichkeit bereits darauf vorbereiteten, Russen zu hassen, um den Putsch und die anschließenden antirussischen Maßnahmen des Coup d’Ètat-Parlaments besser rechtfertigen zu können.

Als UN-Beamter hatte ich Gelegenheit, die russische Sprache zu erlernen und mein Befähigungs-Zertifikat zu erwerben. Seitdem bin ich dankbar für die neu erworbene Fähigkeit, um Puschkin, Lermontow, Tolstoi, Dostojewski und Turgenjew im Original lesen zu können. So hatte die Gelegenheit, Russisch für das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte bei zahlreichen Missionen in baltischen Staaten und Russland sowie 1994 bei zwei Missionen in der Ukraine zur Beobachtung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu verwenden. Ich freue mich, eine beträchtliche Anzahl von Russen in Russland und der Diaspora sowie von Ukrainern in der Ukraine und der Diaspora zu kennen, von denen ich einige als Freunde betrachte. Als Historiker bemühe ich mich, die russische Psyche zu verstehen und mich in deren Lage zu versetzen. Henry Kissinger erinnert uns an die „historische Rolle“ Russlands für Europa und warnt davor, der Schimäre einer „Demontage“ Russlands nachzugehen, die sein riesiges Territorium in ein „umkämpftes Vakuum“ verwandeln und endlose Kriege zwischen konkurrierenden Völkern nach sich ziehen würde. In Anbetracht tausender Atomwaffen in der Region wäre dies ein Rezept für die universelle Apokalypse.

Alle Seiten begingen Kriegsverbrechen

Die Mainstream-Medien im Westen gießen weiterhin Öl ins Feuer, indem sie Berichte über angebliche russische Kriegsverbrechen – ob nachprüfbar oder nicht – maximieren. Es besteht kein Zweifel, dass russische Soldaten in der Ukraine Gräueltaten begingen, so wie auch die NATO-Streitkräfte in Afghanistan, im Irak, in Abu Ghraib, in Guantanamo und anderswo. In meinem Buch The Wehrmacht War Crimes Bureau (University of Nebraska Press, 1980[2]) habe ich Gräueltaten dokumentiert, die sowohl russische als auch ukrainische Soldaten während des Zweiten Weltkriegs an Jugoslawen, Polen, Ungarn und Deutschen begangen hatten. Natürlich haben auch Russen Verbrechen begangen. Doch, alle Seiten begingen sie: Wir sollten uns jedoch nicht auf das Primat der Bestrafung bzw. das der Kriegsverbrecherprozesse fixieren, denn die Erfahrung lehrt, dass Kriegsverbrecherprozesse nur zu realisieren wären, nachdem eine bedingungslose Kapitulation der Besiegten stattgefunden hätte, wie beispielsweise im Jahr 1945, nachdem Deutschland und Japan kapituliert hatten.

Russland würde auf einen nuklearen Präventivschlag reagieren

Das Szenario ist heute ein ganz anderes, denn es besteht keinerlei Chance, dass Russland jemals kapitulieren würde. Falls die Eskalation der Spannungen und die Propaganda weitergingen, wächst die Gefahr, dass irgendjemand von NATO einen „nuklearen Präventivschlag“ gegen Russland vorschlagen könnte. Falls sich Russland jedoch existenziell bedroht fühlte, würde es sein riesiges Atomwaffenarsenal gegen den Westen einsetzen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Ozeane voller NATO- und russischer U‑Boote sind und alle mit Atomwaffen bestückt. Wir dürfen daher keine nukleare Konfrontation provozieren, die sehr wohl alles menschliche und tierische Leben auf unserem Planeten auslöschen würde.

Der gesunde Menschenverstand sagt, dass wir Spannungen abbauen und versuchen sollten, einen Kompromiss – sprich einen Modus Vivendi – anzustreben, auch wenn es viele Jahre dauern dürfte, bis die Beziehungen zwischen NATO-Staaten und Russland wieder zu einer respektvollen Koexistenz zurückkehrten.

Bei den Prozessen in Nürnberg und Tokio 1945–48 waren die Besiegten den Siegern ausgeliefert (vae victis – wehe den Besiegten), und die Prozesse in Nürnberg und Tokio wurden mit der Arroganz von Macht geführt. Sicherlich hatten sich viele der Verurteilten grausamer Verbrechen schuldig gemacht. Aber einem „Siegertribunal“ fehlt es oftmals an Legitimität: Um für „Gerechtigkeit“ zu stehen, muss ein Tribunal alle bestrafen, die gegen Gesetze verstiessen: Es darf sich nicht nur auf die Besiegten konzentrieren, doch die Sieger völlig ungestraft davonkommen lassen. Wollte das Nürnberger Tribunal Anspruch auf Glaubwürdigkeit legen, hätte es die Sowjets für ihre mehrfachen Massaker an religiösen Minderheiten und die Ermordung von 15.000 polnischen Kriegsgefangenen in Katyn und anderen vor Gericht stellen müssen. Es hätte auch die USA und das Vereinigte Königreich für ihre vorsätzlichen Terrorbombardierungen von Bevölkerungszentren verurteilen müssen, bei denen schätzungsweise 600.000 Menschen getötet wurden. „Bomber Harris“ wäre sicherlich gehängt worden. Auch die „Sprenger der Staudämme“ hätten einen Platz auf der Anklagebank gefunden. Wollte das Tribunal von Tokio Anspruch auf historische Seriosität erheben, hätte es die USA für ihre rücksichtslose Seekriegsführung und systematische Erschießung japanischer Schiffbrüchiger vor Gericht stellen (wie in UN-Marineberichten festgehalten), hätte es britische Soldaten für die Ermordung japanischer Kriegsgefangener in Südostasien vor Gericht stellen (was in den britischen Parlamentsdebatten ausführlich diskutiert wurde) und es hätte auch die Besatzung der Enola Gay, welche die erste Atombombe auf die unglückliche Bevölkerung von Hiroshima abwarf – historisch gesehen eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts – vor Gericht stellen müssen.

Brauchen wir ein internationales Tribunal, um Putin, Selenskyj, Stoltenberg, Mitglieder des Asow-Bataillons, Söldner und andere rücksichtslose Kämpfer verurteilen zu lassen? Nein: Ermittlungen und Prozesse sollten nur von den betroffenen Ländern selbst durchgeführt werden. Die Ukrainer haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung von Disziplin innerhalb ihrer Einheiten. Das Gleiche gilt für die Russen. Ein internationales Tribunal würde die Angelegenheit nur politisieren. Alle Staaten, welche den Genfer Rotkreuz-Konventionen von 1949 beigetreten sind, verpflichteten sich dazu, ihre eigenen Täter vor Gericht zu bringen. Hierauf wäre der Fokus zu legen.

Mit Weisheit und Gelassenheit könnten wir es schaffen

Welche historischen Präzedenzfälle für große Kriege gibt es, die mit Amnestien [3] endeten? Zu viele, um sie aufzuzählen. Lassen Sie mich mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618–48) beginnen, der etwa 8 Millionen Europäer auslöschte.  Interessanterweise wurden trotz der ungeheuerlichen Gräueltaten keine Kriegsverbrecherprozesse angestrengt, und in den Verträgen von Münster und Osnabrück aus dem Jahr 1648 wurden keinerlei Strafmassnahmen festgelegt. Im Gegenteil, Artikel 2 der beiden Verträge sieht eine Generalamnestie vor. Es war zu viel Blut geflossen – Europa brauchte eine Ruhepause und die „Bestrafung“ wurde Gott überlassen: „Es soll auf beiden Seiten eine ewige Vergebung, Amnestie oder Begnadigung von allem, was begangen worden ist, geben … in der Weise, dass keine Körperschaft … Feindschaft üben, Feindschaft unterhalten oder sich gegenseitig Unannehmlichkeiten bereiten soll.“ [4] Der Westfälische Friede von 1648 ist als Meilenstein des Völkerrechts und vernünftiger Versuch, eine europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, in die Geschichte eingegangen [5].

Wir können auch auf Artikel 3 des Friedensvertrags von Rijswijk (1697) verweisen, der eine Amnestie für die Soldaten der französischen und britischen Monarchie vorsah.

Artikel XI der Schlussakte des Wiener Kongresses (1815) sah eine Amnestie trotz all der Gräueltaten der napoleonischen Kriege vor.

Kapitel II des Abkommens von Evian aus dem Jahr 1962, das den grausamen algerischen Unabhängigkeitskrieg beendete, sah ebenfalls eine Amnestie für beide Seiten vor.

Zugegeben, die heutige Welt bevorzugt das Konzept der „Amnestie“ nicht, doch scheint süchtig nach Rache. Das ist ziemlich gefährlich und wir tanzen am Rande eines Vulkans.

Mit Weisheit und Gelassenheit könnten wir es schaffen zu überleben, um eines Tages mit Vergil zu sprechen: „forsan et haec olim meminisse iuvabit – daran werden wir uns einmal gerne erinnern“.  Vor allem, wenn unsere Politiker Umsicht und Weisheit walten liessen und es schafften, die Welt vor einem Armageddon zu bewahren. Sicherlich klingt das wie ein Ausdruck von Stoizismus und Ästhetizismus, aber welche Möglichkeiten haben wir?

Quellen

[1] Siehe die Diskussion über R2P in para. 32 meines Berichts an den Menschenrechtsrat 2018: undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FHRC%2F37%2F63&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False

Siehe die Debatte in der Generalversammlung vom 23. Juli 2009, die in meinem Bericht an die Versammlung 2012 (A/67/277) zusammengefasst ist. Entgegen einiger Trends und Wahrnehmungen hat die Idee der Schutzverantwortung, die in der Resolution 60/1 der Generalversammlung (Ergebnis des Weltgipfels 2005) enthalten ist, das in der Charta verankerte Völkerrecht der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten nicht ersetzt. Bei der Schutzverantwortung handelt es sich nicht um eine lex specialis, die von Artikel 2 Absätze 3, 4 und 7 oder einer anderen Bestimmung der Charta abweicht. Der Grundsatz der Nichteinmischung bleibt weiterhin gültig und wird in zahlreichen Resolutionen der Versammlung und des Menschenrechtsrates bestätigt. Daher kann die Schutzverantwortung weder die Charta umgehen noch Säbelrasseln oder Propaganda für den Krieg betreiben. In der Plenardebatte über die Schutzverantwortung nannte der Präsident der Versammlung vier Leitfragen, die darüber entscheiden sollten, ob und wann das System der kollektiven Sicherheit die Schutzverantwortung in Anspruch nehmen kann: (a) Gelten die Regeln grundsätzlich, und ist es wahrscheinlich, dass sie in der Praxis auf alle Staaten gleichermaßen angewandt werden, oder liegt es in der Natur der Sache, dass das Prinzip nur von den Starken gegen die Schwachen angewandt wird? (b) Wird die Annahme des Prinzips der Schutzverantwortung in der Praxis der kollektiven Sicherheit die Achtung des Völkerrechts eher stärken oder untergraben? © Ist die Doktrin der Schutzverantwortung notwendig und garantiert sie umgekehrt, dass die Staaten eingreifen werden, um eine weitere Situation wie die in Ruanda zu verhindern? (d) Ist die internationale Gemeinschaft in der Lage, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die dieses Recht missbrauchen könnten?

Zum Autor: Alfred de Zayas ist Professor für Recht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und diente von 2012 – 2018 als unabhängiger UN-Experte für die internationale Ordnung. Er ist der Autor von zehn Büchern, darunter „Building a Just World Order“ (Clarity Press, 2021).

Quellen

[1] Siehe die Diskussion über R2P in para. 32 meines Berichts an den Menschenrechtsrat 2018: undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FHRC%2F37%2F63&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False

Siehe die Debatte in der Generalversammlung vom 23. Juli 2009, die in meinem Bericht an die Versammlung 2012 (A/67/277) zusammengefasst ist. Entgegen einiger Trends und Wahrnehmungen hat die Idee der Schutzverantwortung, die in der Resolution 60/1 der Generalversammlung (Ergebnis des Weltgipfels 2005) enthalten ist, das in der Charta verankerte Völkerrecht der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten nicht ersetzt. Bei der Schutzverantwortung handelt es sich nicht um eine lex specialis, die von Artikel 2 Absätze 3, 4 und 7 oder einer anderen Bestimmung der Charta abweicht. Der Grundsatz der Nichteinmischung bleibt weiterhin gültig und wird in zahlreichen Resolutionen der Versammlung und des Menschenrechtsrates bestätigt. Daher kann die Schutzverantwortung weder die Charta umgehen noch Säbelrasseln oder Propaganda für den Krieg betreiben. In der Plenardebatte über die Schutzverantwortung nannte der Präsident der Versammlung vier Leitfragen, die darüber entscheiden sollten, ob und wann das System der kollektiven Sicherheit die Schutzverantwortung in Anspruch nehmen kann: (a) Gelten die Regeln grundsätzlich, und ist es wahrscheinlich, dass sie in der Praxis auf alle Staaten gleichermaßen angewandt werden, oder liegt es in der Natur der Sache, dass das Prinzip nur von den Starken gegen die Schwachen angewandt wird? (b) Wird die Annahme des Prinzips der Schutzverantwortung in der Praxis der kollektiven Sicherheit die Achtung des Völkerrechts eher stärken oder untergraben? © Ist die Doktrin der Schutzverantwortung notwendig und garantiert sie umgekehrt, dass die Staaten eingreifen werden, um eine weitere Situation wie die in Ruanda zu verhindern? (d) Ist die internationale Gemeinschaft in der Lage, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die dieses Recht missbrauchen könnten?

[2] Siehe wissenschaftliche Rezensionen auf meiner Website www.alfreddezayas.com/books.shtml

[3] Alfred de Zayas, „Amnestieklausel“ in Rudolf Bernhardt (Hrsg.) Encyclopedia of Public International Law, Bd. I, North Holland, Amsterdam, 1992, S. 148–151.

[4] avalon.law.yale.edu/17th_century/westphal.asp

[5] Alfred de Zayas, „Westphalia, Peace of“ in Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, vol. IV, pp. 1465–1469, North Holland, Amsterdam,.2000.

 

 

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