Kollektive Schuldzuweisungen, wie sie uns immer wieder im Zusammenhang mit „den Deutschen“ und ihrem Verhalten im 3. Reich in Leitmedien begegnen, sind sachlich falsch und führen in die Irre. Gerade im zeitlichen Umfeld des Auschwitz-Gedenktages vom 27. Januar tritt dieses Phänomen, bewußt manipulativ oder unbedacht geäußert, gehäuft auf. Dem tritt der bayerische Jurist und Politikwissenschaftler, Professor Dr. Konrad Löw, mit plausiblen Argumenten durch eine differenzierte Rezension des von Erhard Roy Wiehn herausgegebenen Buches „Tagebücher nicht nur während der Schoáh“ entgegen. Zurecht stellt Löw die Frage: „Verwirkt nicht der, der leichtfertig schwerste Verbrechen anderen anlastet, seinen Anspruch, über andere den Stab zu brechen?“
Lesen Sie hier seine kritische Buchbesprechung:
Eine Neuerscheinung, die nachdenklich macht!
„Die Hölle des Holocaust“ – Zum Auschwitz-Gedenktag 27. Januar.
Vom fragwürdigen Gebrauch des Wortes „Deutscher“
2022 erschien eine Broschüre mit dem Untertitel „Acht Einführungen als Lesebuch der Edition Schoáh & Judaica“ (Haupttitel: „Tagebücher nicht nur während der Schoáh“). Herausgeber Erhard Roy Wiehn. Darin werden acht Einführungen zu Tagebüchern geboten, die sich fast ausschließlich mit autobiographischen Aufzeichnungen zeitgenössischer Juden befassen.
Das achte und letzte Kapitel gewährt Einblicke in das Leben von Zwi Helmut Steinitz, die unter dem Titel „Als Junge durch die Hölle des Holocaust“ 2006 erschienen sind. Die Einführung dazu lässt Besonderes erwarten, heißt es doch: „… es erscheint ebenso unglaublich wie beispielhaft, was ein Mensch nach fast unvorstellbar schrecklichen Erfahrungen in frühester Jugend dennoch aus seinem Leben machen konnte.“ Helmut Steinitz kam am 1. Juni 1927 in Posen zur Welt, seit 1919 eine polnische Stadt, zuvor Teil des Deutschen Reiches.
Der Rezensent schämt sich nicht der Tränen, die ihm beim Lesen von „Als Junge durch die Hölle des Holocaust“ gekommen sind: Ab Mitte 1942 bis zum Kriegsende musste Helmut als Jude Selektion, Deportation, Mord und Totschlag ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter, also auch Kleinkinder als Opfer, miterleben. Wenn irgendwo Hölle, dann hier! Gerade deshalb ist es ein dringendes Gebot wohl jeder Ethik, jeder Wahrheitsliebe, den Sachverhalt möglichst „sine ira et studio“ – also ohne Zorn und Eifer – aufzuklären und zu bewerten, die Schuldfrage eingeschlossen. Verwirkt nicht der, der leichtfertig schwerste Verbrechen anderen anlastet, seinen Anspruch, über andere den Stab zu brechen?
Im Zentrum des Geschehens stehen die skizzierten Verbrechen, die die politische Führung des Deutschen Reiches angeordnet hatte. Der Massenmordbefehl war jedoch eine streng geheime Reichssache, deren Verräter mit der Hinrichtung rechnen mussten, wovon im Buch auch mehrmals die Rede ist. Ferner: „Niemand in der Welt glaubte, der teuflische Plan Hitlers sei tatsächlich durchführbar …“ Die Rädelsführer, die Anstifter und Haupttäter sind hinlänglich bekannt. Die meisten von ihnen haben sich bei Kriegsende selbst gerichtet oder sind hingerichtet worden. Aber sie hatten zahlreiche Mitwisser und Helfershelfer, die es verdienen, ähnlich wie sie abgeurteilt zu werden. Daher stellt sich die Frage: Wer wusste was? Hat der Wissende das verbrecherische Geschehen bereitwillig gefördert?
Dass Helmut diese Fragen nicht aufwirft, geschweige denn beantwortet, ist nach den schrecklichen Erlebnissen des Knaben verständlich und verzeihlich. Doch darf der Leser diese Fragen beiseiteschieben aus Bequemlichkeit, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, um politisch korrekt zu sein, weil man alles Wesentliche ohnehin weiß, um nicht als Revisionist verdächtigt zu werden? Dutzende Male ist von den Deutschen die Rede, wo nur einige Deutsche oder die deutsche Führung gemeint sein können, beginnend mit „Plötzlich war ich mir der erschreckenden Tatsache bewusst, dass die Deutschen mir meine Vergangenheit und jetzt auch meine Familie geraubt hatten …“ „Am 31. Mai 1942 musste mein Vater den tragischen Irrtum seiner falschen Einschätzung des deutschen Volkes begriffen haben. Ein Volk, das in seinen Augen das Muster der Zivilisation, Kultur und Moral darstellte, befand sich jetzt auf haarsträubenden amoralischen Abwegen, eine Schande, die die deutsche Geschichte ewig belasten wird.“
So oder so ähnlich immer wieder. Doch Helmut kann auch anders, so wenn er von den „Nazis [sagt, dass sie] vor nichts zurückschreckten“, dass „die antisemitische Welle der Nazis das gesamte Judentum auf die Anklagebank setzte“. Aber in der Regel sind die Deutschen, ist das deutsche Volk in seinem Text der Täter. „Das deutsche Volk jubelte und vergötterte seinen Führer.“ „Das war der traurigste Abschnitt unseres Schicksals und das tragische Ende einer deutsch-jüdischen Familie in der Nazizeit. Hier zeigte sich die grenzenlose Brutalität des Hitlerregimes, dem es gelang, fast ein ganzes Volk für die Vernichtung des Judentums einzuspannen.“
Woher er das weiß – „fast ein ganzes Volk“ -, verrät er nicht. Eine fundierte Antwort würde den Rahmen sprengen. Eigene Beobachtungen, wie sie Victor Klemperer und Jochen Klepper gemacht haben, standen ihm aber nicht zur Verfügung, da er nicht in Deutschland gelebt hat. Darf man dann solche Anschuldigungen niederschreiben? Zumindest Literaturhinweise wären möglich gewesen.
Doch er schildert Begegnungen mit einzelnen Deutschen, und die sind sehr bemerkenswert. Als Zwangsarbeiter hatte er einen jungen Chef: „Ich hatte die einmalige Gelegenheit, einem Deutschen von meiner Familie zu erzählen …. Außerdem berichtete ich, auf welch unmenschliche Art und Weise die SS das Schicksal Abertausender bestimmte, von den Deportationen und der Ermordung meiner Familie … Der junge Mann hörte mir aufmerksam zu und war von meiner Geschichte aufs tiefste erschüttert. Er schaute mich entsetzt an und machte plötzlich eine schnelle Handbewegung an seinem Hals, was wohl besagte, ein Wort seinerseits darüber würde ihn das Leben kosten… Meine Idylle dauerte nicht lange, feindselige Blicke von seiten polnischer Mechaniker … schreckten mich aus der kurzfristigen Atempause …“ Wer Klemperers Tagebücher gelesen hat, weiß, dass es sehr viele solcher „junger Chefs“ gegeben hat. Dürfen sie unberücksichtigt bleiben, wenn vom deutschen Volk jener Jahre die Rede ist und von den Ungeheuerlichkeiten, die damals geschahen?
Unter der Überschrift „Auspeitschungen und Hinrichtungen“ schildert Helmut solche Prozeduren: „Im Verlauf dieser niederträchtigen Show hatte die Jüdische Polizei die böse Aufgabe, die beiden Verurteilten zum Galgen zu führen… Erst später erfuhren wir Näheres über den Mann: Er heißt Krauthammer, war Ingenieur und wegen Sabotage zum Tode verurteilt worden… Das Verbrechen des zweiten Opfers – dieses Jungen – war, ein russisches Lied gepfiffen zu haben: Er wurde von einem ukrainischen SS-Mann gefasst und der deutschen SS ausgeliefert.“ Diese Episode schildert eine Wirklichkeit, die jede pauschale Zuordnung und Bewertung: Deutscher, Jude, Ukrainer – höchst bedenklich macht!
Oben war von Helmuts Vater die Rede, den Helmut an vielen Stellen geradezu ehrfurchtsvoll erwähnt. Er war bis 1919 Deutscher und ab Beginn des Ersten Weltkriegs als Kriegsfreiwilliger an der Front, nach dem Krieg als Deutschlehrer am deutschen Schiller-Gymnasium tätig. „Mein Vater war ein überzeugter deutscher Patriot, sonst hätte er mich nicht Helmut und meinen Bruder nicht Rudolf genannt.“ („Zwi“ kam erst viel, viel später hinzu.) Für Vater war die Kultur und Moral des deutschen Volkes der „Höhepunkt der Menschheitsentwicklung“. Die „Muttersprache war deutsch … Der jüdische Glaube hatte in unserem Haus keine Bedeutung“. „Mein Vater sprach kein Wort polnisch.“
Wenn Sohn Helmut die Deutschen immer wieder als Hitlers Mittäter anspricht, ist dann auch der Vater ein Teil dieses gefallenen Volkes? „Ich wusste, dass er in seiner Seele ein Deutscher war und als solcher fast sein ganzes Leben lebte“, schreibt Helmut. Die Frage nach der Volkszugehörigkeit stellt er nicht und hätte sie sicher entrüstet verneint mit dem Hinweis, dass er wie sein 2019 verstorbener Vater von Hitler aus dem Volkskörper ausgestoßen worden sei. Doch Hitler und die Seinen hatten allenfalls die Macht, das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz beliebig zu ändern, aber doch nicht natürliche Gegebenheiten und Empfindungen sowie historische Wurzeln. Das Dictum „Wer Jude ist, bestimme ich!“ dient der Charakterisierung eines ungezügelten Machtrausches, aber nicht zur Beschreibung der Wirklichkeit.
Gesetzt den Fall, die NS-Ideologie hätte nur den Zigeunern das Existenzrecht und die Volkszugehörigkeit aberkannt, nicht auch den Juden, was hätten letztere gemacht? Einen Bürgerkrieg begonnen oder sich wie die Jüdische Polizei benommen, von der die Rede war? Im Abwehrkampf gegen Hitler haben sie sich vor 1933 nicht hervorgetan, weder im Reich noch in den Grenzgebieten.
Auch wenn der jüdische Glaube im Leben des jungen Helmut keine Rolle spielte, die Schilderungen zeigen, dass er die Gebote: „Du sollst Vater und Mutter ehren …“ und „Du sollst kein falsches Zeugnis geben“ gelebt hat. Den Angehörigen des Volkes, das ehedem das seine war, sei es gestattet, diese Maximen für sich als Handlungsgebote zu bejahen, von anderen einzufordern und auch selbst in die Tat umzusetzen.