Zum 25. Todestag von Ernst Jünger

Ein Kunstwerk des Immergültigen

Zum 25. Todestag des Jahrhundertschriftstellers Ernst Jünger: Eine Sichtung der historisch-kritischen Ausgabe seines Tagebuch-Zyklus „Strahlungen“

Heimo Schwilk

Ernst Jünger hatte nach dem Zweiten Weltkrieg sein Comeback in Frankreich. Und am Ende eines mehr als hundertjährigen Lebens wurden seine Kriegstagebücher in die Pléiade, die legendäre französische Bibliothek der Weltliteratur aufgenommen. Ganz anders der Umgang mit Jünger und seinem grandiosen Werk in Deutschland. Bis heute gilt er als „umstritten“, was im Kern faschistoid meint. Ein Zeichen, daß es bei der deutschen Kritik im Falle Ernst Jünger weniger um literarische Qualität denn um Moralismus und Rechthaberei geht? Hartnäckig hält sich hierzulande die Behauptung, so zuletzt in Falko Korths Arte-Dokumentation, Jüngers Pariser Tagebücher seien in ihrem Kern „antihumanitär“. So zumindest formulierte es die ahnungslose Literaturkritikerin Iris Radisch. Unerhört, daß ein deutscher Besatzungsoffizier überhaupt literarische Aufzeichnungen machte!

Das Tagebuch, schreibt die Gide-Übersetzerin Elisabeth Edl, habe in der französischen Geistesgeschichte eine herausragende Rolle gespielt. Man denke nur an die Werke der Brüder Goncourt oder die Journale von André Gide. So stellt sich für den deutschen Leser die Frage, wer in Frankreich auf die Idee kommen könnte, die Aufzeichnungen der Goncourts lächerlich zu machen, weil sie nicht selten ziemlich selbstbezüglich das kulturelle Insiderwissen ausbreiten – oder Gides Tagebücher abzuwerten, weil der Autor eine Zeitlang den Stalinismus verherrlicht hat? Man betont bei unseren Nachbarn die literarische, sprachliche oder philosophische Qualität dieser einzigartigen Journale, statt sie moralisch zu diffamieren. Bekanntlich ist Jüngers Kriegstagebuch „Gärten und Straßen“ fast zeitgleich 1942 unter dem Titel „Jardins et routes“ in französischer Übersetzung erschienen. Und wurde im Nachbarland überschwenglich gelobt – obwohl der Autor als Offizier in zwei Kriegen gegen Frankreich kämpfte! Vor allem wurde die Empathie gerühmt, mit der Jünger die Schrecken des Krieges beschrieb – und sein glänzender Stil.

Mit Ameisenfleiß sämtliche Aufzeichnungen Jüngers gesichtet

Auch nach 1945 dominierten auf der deutschen Seite politmoralische Argumente. So meinte Alfred Döblin, der in einer Kommission der französischen Besatzungsbehörde über die Eignung deutscher Bücher mitentschied, man dürfe die Tagebücher Jüngers keineswegs herausbringen. Er begründete dies nicht mit der Qualität der Werke, sondern befand, „daß sie ganz erheblich Schuld an dem tragen, was in den vergangenen 12 Jahren und besonders im Krieg an bösen Dingen geschehen sei“. Goebbels und Hitler hätten von Ernst Jünger ihre Parolen bezogen. In einem Haus, in dem es gebrannt habe, dürfe man keinen Feuergeist dulden.

Bis heute geistert dieses hanebüchene Urteil durch die deutsche Publizistik, denn Ernst Jünger hatte sich ja bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten distanziert und das Werben von Hitler und Goebbels mit beträchtlichem Risiko zurückgewiesen. 1939 sprach er mit seiner Erzählung „Auf den Marmorklippen“ dem NS-Regime und seinen Untaten deutlich das Urteil. Für einen Autor, der im Machtbereich des Regimes lebte, eine große Gefährdung.

Es ist durchaus ein Ereignis, wenn nun bei Klett-Cotta eine dreibändige historisch-kritische Edition der „Strahlungen“ erscheint. Mit Ameisenfleiß haben Helmuth Kiesel und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter sämtliche Fassungen von Ernst Jüngers Aufzeichnungen der Jahre 1939 bis 1948, die handschriftlichen wie gedruckten, nebeneinandergelegt und die Veränderungen kenntlich gemacht. Veröffentlicht wurden die „Strahlungen“ in sechs Teilbänden: „Gärten und Straßen“, „Das erste Pariser Tagebuch“, „Kaukasische Aufzeichnungen“, „Das zweite Pariser Tagebuch“, „Kirchhorster Blätter“ und „Jahre der Okkupation“. Letzterer Titel wurde für die Werkausgabe in „Die Hütte im Weinberg“ geändert. „Farbcodierungen“ markieren die stilistischen und sachlichen Überarbeitungen und werden in einem dem dritten Band angehängten „Apparat“ akribisch erfaßt; das gilt auch für alle von Jünger im Tagebuch verwendeten Namen und Begriffe, die anhand eines umfassenden „Kommentars“ erläutert werden. Das ist, neben der Wiedergabe zahlreicher Notizen, die Ernst Jünger in die gedruckten Tagebücher nicht aufnehmen wollte oder durch andere Abschnitte pars pro toto ersetzte, der außerordentlich positive Aspekt dieser verdienstvollen Edition.

Aber es gibt eben auch eine Deutungsebene, die über die historisch-kritische hinausweist: die Demontage einer autobiographischen Chronik, die als lückenhaft, ideologisch und „stilisiert“ denunziert wird. So heißt es im Vorwort: „Ziel der vorgelegten Edition ist es, Ernst Jüngers Arbeitsprozeß, die stetige Annäherung und gleichzeitige Stilisierung und Ästhetisierung nachvollziehbar zu machen.“ Der Tagebuchzyklus dokumentiere „die Suche Jüngers nach seinem Standpunkt und einer in der Öffentlichkeit vertretbaren Haltung“. Als sei das jemals das Problem dieses Autors gewesen! Es handle sich bei den „Strahlungen“ durchweg um „inszenierte Selbstoffenbarung“.

Der letzte Abschnitt des Vorworts tut so, als wolle diese historisch-kritische Edition die Lebenswelt „einer Gruppe ambitionierter Intellektueller“ erschließen. Aber der letzte Satz ist dann wieder verräterisch: Wer zwischen 1933 und 1945 „das Verbleiben im nationalsozialistischen Deutschland gewählt“ habe, hätte sich eben „im Spannungsfeld von Hinnahme und Dissens, Kollaboration und Widerstand“ befunden. Daß Ernst Jünger seinen zur „Frontbewährung“ verurteilten Sohn verloren hat, weil der im Hause Jünger viel Abfälliges über Hitler gehört hatte, und als Autor selbst ständig vom Tod bedroht war, ist nicht erwähnenswert.

Ganz ähnlich hat diese Haltung Thomas Mann als Exilautor nach dem Zweiten Weltkrieg ausgedrückt: „Es mag ein Aberglauben sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an.“

Kein Wunder, daß das Gros der Rezensenten der historisch-kritischen Ausgabe diesen Ball aufnahm und die Publikation dankbar zum Anlaß nahm, schon immer inkriminierte und grob mißverstandene Stellen wie die sogenannte „Burgunderszene“ vom 27. Mai 1944 erneut zu skandalisieren. Dabei hatte Jünger die Beobachtung der Bombardierung von Paris durch alliierte Flugzeuge vom Dach seines Hotels aus als eigene Gefährdung erlebt, als „tödliche Befruchtung“ in einem Weltkrieg, der ganze Imperien auslöschte. Diese – biblisch fundierte – Annahme des als irreversibel erlebten Schmerzes gilt bis heute als zynisch, dabei erleben wir eben ein ähnliches Schauspiel – allerdings aus der Loge. Verdrängt wird, wie sehr Jünger in Paris selbst bedroht war, unter anderem vom Sicherheitsdienst (SD), der den Verschwörern um General v. Stülpnagel auf den Fersen war. Dazu bewegte sich Ernst Jünger auf riskante Weise zwischen Résistance und Armee.

Nirgends hat Ernst Jünger sich ins bessere Licht gerückt

Ernst Jüngers Respekt vor dem kulturellen Reichtum der besetzten Stadt, der sich in unzähligen Begegnungen mit Schriftstellern und Künstlern, darunter Picasso und Braque, Museumsbesuchen und intellektuellen Tafelrunden ausdrückte, wird von den Herausgebern als „Lebensgenuß“ herabgesetzt und nicht als Versuch, Brücken zwischen den verfeindeten Nationen zu bauen. So heißt es im Vorwort bewußt zweideutig: „Sie (die Aufzeichnungen, HS) zeigen ein oft frappierendes Nebeneinander von Gefährdung und Wagemut, Leiderfahrung und Lebensgenuß, der auf Kosten Dritter ging, der Franzosen vor allem, die für die Besatzungstruppen aufkommen mußten, aber auch der Ehefrau, die den Familienhaushalt in Kirchhorst aufrechterhielt.“ Ernst Jünger, der von seiner Zeit in Paris schrieb, er habe sich gefährdeter gefühlt als während der Kampfhandlungen an der Westfront des Ersten Weltkriegs, wußte schon bei der Bearbeitung seiner Notizen, daß ihm einmal „Retuschen“ unterstellt werden würden; aber er habe davon abgesehen, weil er dem Leser mit den „Strahlungen“ eine „Idee des Ganzen“ habe vermitteln wollen. Nur so erklären sich seine später eingefügten Einschübe und mythologischen Deutungen. Allem gemeinsam ist Ernst Jüngers Anliegen, dem Besonderen, dem vor Ort Erlebten den Ausdruck des Allgemeinen, Immergültigen zu geben. In seiner 1939 erschienenen Erzählung „Auf den Marmorklippen“ hat er dies zutreffend „die Zeit absaugen“ genannt.

Immerhin wird im Vorwort konzediert, daß es „von tiefem Schmerz geprägte“ und „schonungslos kritische Eintragungen“ in den „Strahlungen“ gibt. Daß Ernst Jünger später bisweilen schärfer und deutlicher formulierte, hat auch mit der Vorsicht zu tun, jederzeit als Regimegegner verhaftet zu werden. Nicht umsonst verschloß er Manuskripte wie „Der Friede“ im Tresor oder ließ seine Aufzeichnungen per Kurier nach Kirchhorst schaffen. Viele Papiere, darunter unersetzliche Briefe, wurden sicherheitshalber verbrannt.

Jüngers Hoffnung galt nicht der Demokratie, sondern der Religion

Die „Strahlungen“ sind als Kunstwerk konzipiert, was natürlich die Authentizität des Notierten einschließt. Jünger hat, als er sich zur Veröffentlichung der Tagebücher entschloß, die stilistische und sachliche Überarbeitung umfassend in Angriff genommen – und für spätere Editionen weiter forciert. „Die beste Erfassung des ersten Eindrucks ist die Frucht wiederholter Anstrengung“, formulierte er selbst. Ihm dies nun zum Vorwurf zu machen, ist billig, ja üble Nachrede von Leuten, die sich solch ein literarisch-historisches Projekt, das immer zugleich auch ein ethisches ist, gar nicht vorstellen können. Die Gide-Übersetzerin Elisabeth Edl schreibt, es sei gänzlich unangemessen, einem Tagebuchautor vorzuwerfen, daß er seine Aufzeichnungen für die Publikation redigiere – denn das sei das Wesen seines Werkes: „Das vom Autor selbst besorgte Tagebuch ist Literatur, kein biographisches Dokument.“

Philologen machen sich bisweilen über Texte her, ohne ihre Voraussetzungen, ihre konkrete und historische Imprägnierung in den Blick zu nehmen. So schreiben die Herausgeber vorwurfsvoll, es handle sich bei den „Strahlungen“ um „literarisierte Überarbeitungen mit stilistischen Modifikationen, kompositorischen Umstellungen und beträchtlichen Aussparungen“. Man fragt sich, ob die Bearbeiter wissen, was es bedeutet, eine Tagebuch-Auswahl zusammenzustellen! Kein Autor kann alle seine Eintragungen über einen jahrzehntelang währenden Zeitraum eins zu eins abdrucken. Und es ist vollkommen normal und legitim, daß sprachliche und stilistische Flüchtigkeiten korrigiert werden. Nirgends hat EJ retuschiert, sich ins bessere Licht gerückt oder gar historische Tatsachen unterschlagen. Die Herausgeber hätten das im übrigen triumphierend vermerkt – aber es gibt eben keinen Anlaß.

Was soll man dazu sagen, wenn die Autoren des Vorworts als Beleg für die fragwürdige „mehrstufige Überarbeitung“ und „Stilisierung“ ein Beispiel anführen, das an Marginalität, ja Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist: So habe Ernst Jünger 1940 bei einem nächtlichen Bombenangriff sein „Schuhwerk“ gesucht, aber es nicht finden können. Habe er noch in der ersten Niederschrift „Hausschuhe“ notiert, so in der Erstausgabe „Schuhe“, um ab der ersten Werkausgabe von „Stiefeln“ zu schreiben. Was für eine ungeheure Selbstrevision!

Auch daß Ernst Jünger selektiv vorging, vorgehen mußte, um den Umfang zu begrenzen, wird dem Autor negativ ausgelegt: „Momente, die nicht zu seinem Selbstbild passen mochten … schließlich Urteile, über historisch-politische Vorgänge und Umstände, die ihm selbst seit ihrer Niederschrift fragwürdig geworden sein mochten oder die zu publizieren er vielleicht für inopportun hielt“, seien weggekürzt worden. Gerade die angeführten Beispiele (Eintragungen vom 2. September 1945 und vom 4. Januar 1946) belegen das Gegenteil. Sie würden, heißt es im Vorwort, „allem widersprechen, was sich damals als neues Bewußtsein herauszubilden begann und was heute zu unseren geschichtspolitischen Grundvorstellungen gehört“. Seit wann ist Ernst Jünger Nachbeter eines „neuen Bewußtseins“? Und seit wann gibt es verpflichtende „geschichtspolitische Grundvorstellungen“?

Die Streichung des historisch-politischen Räsonierens im Tagebuch wenige Monate nach dem Ende des Nationalsozialismus (2. September 1945), das Reflektieren über Demokratie und Monarchie sowie die Mitverantwortung des Volkes am Umsturz waren nicht opportunistisch motiviert, sondern Ausdruck eines Deutungsinteresses, das gerade über die rein politische Ebene hinausging. Es zielte auf die Figur des „verlorenen Postens“, die Aussichtslosigkeit der Lage – die auch viel mit dem Demos zu tun hat, der nach Ansicht Ernst Jüngers nicht selten zum Steigbügelhalter des Unrechts wurde. Daß seine, Jüngers, Hoffnung nicht der Demokratie, sondern der Religion galt, ist keine Besonderheit der Nachkriegsstimmung, sondern atmet den Geist des gesamten Tagebuchwerks – aber auch und besonders des Widerstandsbuches „Auf den Marmorklippen“.

Das gilt auch für die Eintragung vom 4. Januar 1946. Das Versagen der deutschen Aristokratie hat Ernst Jünger an vielen Stellen betont. Er konnte deshalb auch diese Passagen streichen, ohne daß sein Tagebuch an Substanz verloren hätte. Daß Jünger kein Freund der Demokratie war, ist bekannt und von ihm auch historisch begründet. Man muß diese Auffassung nicht teilen, aber ihm zu unterstellen, er habe sich mit solchen Streichungen den Siegermächten (deren Fragebögen er sich weigerte auszufüllen!) an den Hals geworfen, was die Herausgeber insinuieren, ist bizarr. Ernst Jünger zeigte an vielen Stellen seines Werkes, „wie er gewachsen ist“, und eine historisch-kritische Ausgabe sollte keine Schlußabrechnung mit einem Autor sein, der vom Mainstream abweicht.

Der an vielen Stellen im Vorwort geäußerte Generalverdacht gipfelt im Resümee, daß Ernst Jünger in seinen veröffentlichten Tagebüchern „auf der Suche nach vertretbaren Positionen ist und viel weniger souverän wirkt als der Autor der 1949 publizierten Strahlungen“. Jedem unvoreingenommenen Leser wird sich die Souveränität und geistige Unabhängigkeit des Verfassers der „Strahlungen“ erschließen, wenn er sich den rund 1.200 Seiten umfassenden Tagebuch-Zyklus der „Strahlungen“ vornimmt. Am besten in der Fassung der seit 1978 erschienenen Werkausgabe, die Ernst Jünger als „Ausgabe letzter Hand“ verstanden hat. Wer den jahrzehntelangen komplexen Werkprozeß nachvollziehen will und auch Längen nicht scheut, kann das weltanschaulich verquere Vorwort der historisch-kritischen Edition überblättern und sich in einen Kosmos der maximal unabhängigen Weltaneignung versenken, die im 20. Jahrhundert ihresgleichen sucht.

Dr. Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, ist Autor der Biographie „Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben“ (Klett-Cotta, Stuttgart, gebunden, 648 Seiten mit 44 Abbildungen, 30 Euro)

www.heimo-schwilk.de

Ernst Jünger: Strahlungen. Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939–1948). Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel, Klett-Cotta, Stuttgart 2022, gebunden, 2.388 Seiten, 199 Euro

Dieser Beitrag erschien in der Jungen Freiheit Nr. 8/23 v. 15.2.2023.

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