Deutsche Kolonialpolitik unter Bismarck

Wir setzen fort mit unserer Reihe von Beiträgen zur Entgegnung der aktuell wieder erhobenen Vorwürfe gegen Otto von Bismarck und die daraus folgende „Bilderstürmerei“ in Deutschland. Heute beleuchten wir die Kolonialpolitik des Reichskanzlers. 

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Deutsche Kolonialpolitik unter Bismarck

von Stephan Ehmke

Der heutige Mainstream wirft Otto von Bismarck vor, geistiger und politischer Urheber angeblicher deutscher Kolonialverbrechen zu sein. Abgehoben wird dabei vor allem auf die Tatsache, dass in der Amtszeit Bismarcks (ab Mitte der 1880-er Jahre) die deutschen Kolonien in Afrika als Schutzgebiete eingerichtet wurden. Das ist richtig, dennoch war der Reichskanzler keineswegs der Initiator dieser Ereignisse. Im Gegenteil – die Quellen belegen eindeutig, dass Otto von Bismarck von Anfang an ein klarer Gegner des Erwerbs von Kolonien durch das Deutsche Reich gewesen ist. Nachweislich hat er bis zum Ende seiner Amtszeit versucht, die Schutzgebiete in Afrika und im Pazifik sowie das Pachtgebiet Tsingtau wieder loszuwerden. Die Gründe hierfür lagen im Wesentlichen in der außenpolitischen Konzeption Bismarcks, dem europäischen Gleichgewicht, welches der Reichskanzler durch das deutsche koloniale Abenteuer gefährdet sah. Warum aber hat Bismarck dennoch dem Erwerb von Kolonien zugestimmt? Schließlich hätte er es als mächtigster Mann im Reich doch verhindern können?

Wer so argumentiert, verkennt, dass auch Bismarck Zwängen unterlag, vor allem in der Innenpolitik. Presse und Öffentliche Meinung waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland eine starke Kraft. Und die Öffentliche Meinung wollte Kolonien für das nach Weltgeltung strebende junge Reich. Schließlich war Bismarck im Parlament, dem Reichstag, vor allem auf die Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen angewiesen – und sie waren es, die den Kolonialgedanken aus wirtschaftlichen und ideologischen Gründen vor allen anderen propagierten. Doch auch bei den Sozialisten gab es Befürworter des Erwerbs von Kolonien. Skeptischer waren die – politisch schwachen – Konservativen, die grundsätzlich Bismarcks Bedenken teilten. Positive Aspekte sahen sie – wenn überhaupt – in dem Gedanken, den indigenen Völkern das Christentum und Bildung zu bringen.

Letztlich setzte sich der Druck der Öffentlichen Meinung und die Agitation des liberalen Bürgertums durch. Es sollte sich gleichwohl herausstellen, dass Bismarck mit seinen grundsätzlichen Bedenken gegen den Kolonialerwerb Recht hatte.

Bismarcks Auffassung von der Stellung und der Aufgabe des neuen Deutschen Reiches in Europa

Der junge deutsche Nationalstaat war nach seiner Gründung 1871 vor allem von außen bedroht. Frankreich sann auf Revanche für den verlorenen Krieg und die anderen europäischen Großmächte blickten mit Argwohn auf den vor allem wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands. Deshalb erkannte Bismarck, dass das Reich Ruhe und Frieden nach außen zur Konsolidierung des Aufbaus im Inneren brauchte. Der Reichskanzler suchte daher, die europäischen Mächte zu beruhigen. Er erklärte das Reich für „saturiert“, was Gebietsgewinne[1] auf dem Kontinent betraf und betonte seinen Friedenswillen. Bismarck sah Deutschland als kontinentale Macht in der Mitte Europas, als Landmacht, wie Frankreich und Russland, im Gegensatz zu den Seemächten, wie Großbritannien. Als solche sollte sich das Reich als „ehrlicher Makler“ der Interessen der Großmächte profilieren.

In einem Adressentwurf, der dem Reichstag im März 1871 zur Verabschiedung vorgelegt wurde, stellte Bismarck dementsprechend fest, dass das „neue Reich … dem selbsteigenen Geiste des Volkes entsprungen,  … nur zur Abwehr gerüstet, unwandelbar den Werken des Friedens ergeben ist. … Die Tage der Einmischung in das innere Leben andrer Völker werden, so hoffen wir, wird unter keinem Vorwand und in keiner Form wiederkehren“[2].

Bismarcks Außenpolitik

Bismarcks Außenpolitik war in erster Linie Bündnispolitik: das berühmte „Spiel mit den fünf Kugeln“ (den Großmächten Europas), zum Zwecke des Ausgleich der Interessen und der Herstellung bzw. des Erhaltes des  Gleichgewichtes auf dem Kontinent. Vor allem wollte der Reichskanzler verhindern, dass Frankreich ein wirksames Bündnis gegen Deutschland schmieden konnte. Frankreich, das auf Revanche sann, politisch zu isolieren, was also ein wesentliches Ziel der deutschen Außenpolitik nach 1871.

Dies sollte erreicht werden durch das Schließen eigener Bündnisse mit den anderen Großmächten Europas. Bismarck sah dabei Österreich-Ungarn als ersten und natürlichsten Bündnispartner des Reiches an. Dementsprechend war er stark am Erhalt der brüchig gewordenen Donaumonarchie interessiert. Rußland sollte als Gegengewicht zum Westen eingebunden werden, dabei erkennend, dass es auch geeignet war, österreichische Ambitionen im Zaum zu halten. Italien, das sich wie Deutschland eben erst zum Nationalstaat zusammenfand, war für den Reichskanzler zur Sicherung gegen Frankreich bedeutsam. Großbritannien schließlich, dessen Interessen als größter Kolonialmacht der Erde eher auf den Meeren als auf dem Kontinent lagen, strebte traditionell danach, Bündnisse gegen die jeweils stärkste Landmacht in Europa zu schließen. Folgerichtig musste es davon abgehalten werden, sich mit Frankreich enger zu verbinden.

Als Realpolitiker, der jede Ideologie in der Politik verabscheute, wusste Bismarck, dass es zwischen Staaten keine Freundschaften, sondern nur Interessen gab, die es auszugleichen galt. Die Verträge des Reichskanzlers trugen vor allem militärischen Charakter. Es waren entweder Beistandsabkommen im Kriegsfalle oder Neutralitätsvereinbarungen. An dieser Stelle soll das Geflecht der Bismarckschen Bündnisse nicht im einzelnen dargestellt werden. Hingewiesen sei nur auf die wichtigsten Verträge, die der Reichskanzler in seiner Amtszeit im Namen des Deutschen Reiches schloss:

  • Das „Dreikaiserabkommen“ zwischen Deutschland, Österreich und Russland 1873,
  • Die Militärkonvention zwischen Deutschland und Russland 1873, dem eine Konvention zwischen Russland und Österreich entsprach,
  • DerZweibund“ Deutschlands und Österreichs 1879,
  • Der geheime „Dreikaiserbund“ 1881 zwischen Deutschland, Österreich und Russland als Erweiterung des Dreikaiserabkommens,
  • Der „Dreibund“ Deutschlands, Österreichs und Italiens 1882, dem Rumänien 1883 beitrat,
  • Dazu die Förderung der Mittelmeerentente zwischen Großbritannien, Italien, Österreich und Spanien 1887,
  • Sowie der berühmte geheime „Rückversicherungsvertrag“ zwischen Deutschland und Russland 1887, nach dem Ende des „Dreikaiserbundes“ 1886.

An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass Bismarck der Verbindung zu Russland immer eine besondere Bedeutung beimaß. Es war ihm klar, dass sich gegen ein Bündnis zwischen den beiden bedeutenden Landmächten Deutschland und Russland kaum eine andere Allianz würde behaupten können. Die Nachfolger des Reichskanzlers haben das bedauerlicher Weise nicht beachtet, mit allen fatalen Folgen für das Reich und Europa insgesamt.

(Abbildung: Wikipedia gemeinfrei.)

Bismarck kam es, wie gesagt, darauf an, Deutschland als „ehrlichen Makler“ in Europa zu profilieren. Im Zusammenhang mit dem „Berliner Kongreß“ 1878 ist ihm dies gelungen. Das Bismarcksche Bündnissystem erhielt den europäischen Frieden bis 1914 und bildete die Grundlage für den Aufstieg des Deutschen Reiches.

Bismarcks grundsätzliche Auffassung von der Erwerbung von Kolonien

Wenn wir im Folgenden  Bismarcks Auffassung von der Erwerbung von Kolonien besprechen, sollten wir das oben Gesagte im Hinterkopf behalten, denn die Konzeption der „Gleichgewichtes Europas“ bestimmte alle anderen Aspekte der Außenpolitik des Reiches. Natürlich betrachtete der Reichskanzler die Lage Deutschlands auch aus geopolitischer Sicht, wobei hier die Handelsinteressen im Vordergrund standen, insbesondere die Notwendigkeit des Schutzes des deutschen Handels.

Bismarcks Auffassung vom Erwerb von Kolonien blieb bis zu seiner Entlassung unverändert kritisch, seine Kolonialpolitik passte er jedoch den innenpolitischen Gegebenheiten an. Die grundsätzlich ablehnende Haltung des Reichskanzlers in dieser Frage hatte folgende Gründe:

  • Eine territoriale Expansion Deutschlands in Übersee würde automatisch Konflikte mit den anderen europäischen Mächten hervorrufen und Auswirkungen auf das Gleichgewicht auf dem Kontinent haben,
  • Bismarck hielt Kolonien für unwirtschaftlich, zumal die „besten Stücke“ bereits verteilt waren,
  • Bismarck sah Deutschland als Landmacht schließlich nicht dazu berufen und in der Lage, eine ausreichende Seemacht zu begründen, die erforderlich wäre, um Kolonien zu schützen.

Der Reichskanzler schrieb in einem Brief an den preußischen Kriegsminister Albrecht von Roon im Jahre 1868:

„Einerseits beruhen die Vorteile, welche man sich von Kolonien für den Handel und die Industrie des Mutterlandes verspricht, zum größten Teil auf Illusionen. Denn die Kosten, welche die Gründung, Unterstützung und namentlich die Behauptung der Kolonien veranlaßt, übersteigen sehr oft den Nutzen, den das Mutterland daraus zieht, ganz abgesehen davon, daß es schwer zu rechtfertigen ist, die ganze Nation zum Vorteil einzelner Handels- und Gewerbezweige zu erheblichen Steuerlasten heranzuziehen. – Andererseits ist unsere Marine noch nicht weit genug entwickelt, um die Aufgabe nachdrücklichen Schutzes in fernen Staaten übernehmen zu können“[3].

 Hier behielt Bismarck weitgehend Recht, denn alle späteren deutschen Kolonien außer Togo und Samoa waren für das Reich Verlustgeschäfte. Der Anteil des Kolonialhandels am deutschen Handel insgesamt überstieg übrigens zu keinem Zeitpunkt 0,5%[4]! Auch traf zu, dass die Stärke der deutschen Flotte zu keinem Zeitpunkt ausreichen konnte, um Kolonien wirksam zu schützen, wie der Erste Weltkrieg zeigen sollte.

 Stattdessen befürwortete Bismarck private Initiativen zur Pacht von einzelnen Handels- und/oder Marinestützpunkten auf der Grundlage von Verträgen. Das Reich wollte er weitgehend heraushalten. Es ging ihm stets nur um den Schutz des deutschen Handels, nie um territorialen Erwerb, daher nannte er die deutschen Kolonien später ausdrücklich „Schutzgebiete“.

Bismarcks Kolonialpolitik 1871-1890 unter Berücksichtigung der innenpolitischen Gegebenheiten

Vor 1871

Vor der Gründung des Zweiten Kaiserreiches trat Deutschland als Kolonialmacht kaum in Erscheinung. Dies lag an einem fehlenden einheitlichen Staat und den daraus folgenden gemeinsamen Interessen. Gleichwohl hatten einzelne deutsche Staaten zeitweise Kolonien in Besitz, meist im Windschatten größerer Kolonalmächte. So hielt das Kurfürstentum Brandenburg, das dynastisch eng mit den Niederlanden verbunden war, kleinere Gebiete in  Afrika und der Karibik. Diese Gebiete wurden jedoch wegen Unwirtschaftlichkeit nach wenigen Jahren wieder aufgegeben. Zudem hatte der Große Kurfürst den lukrativen Sklavenhandel verboten[5].

Auch der Deutsche Bund betrieb keine zielstrebige Kolonialpolitik. Zwar gab es immer wieder Rufe  von privater Seite nach Teilhabe am Kolonialerwerb (z.B. mit der Gründung der „Hamburger Kolonialgesellschaft“ im Jahre 1839), doch fehlte die Unterstützung von staatlicher Seite. Zudem gab es keine nennenswerte Marine, welche Kolonien hätte schützen können. Erst als Preußen und Österreich Seestreitkräfte aufbauten (seit 1848) änderte sich die Situation etwas. Im Gefolge der nationalen Begeisterung wurde auch der Ruf nach Kolonien lauter. Der größte Versuch in dieser Hinsicht war der projektierte Erwerb der Insel Formosa im Jahre 1859. Er scheiterte jedoch wegen Rücksichten auf China.

Auch der Norddeutsche Bund (1867) unter der Führung Preußens verfolgte den Erwerb von Kolonien nicht ernsthaft. Dies lag vor allem an der oben geschilderten Haltung des Bundeskanzlers Otto von Bismarck zu diesem Thema. Außerdem überlagerte die deutsche Einigung alle weitergehenden Themen. Gleichwohl wurde die „Kolonisation“ sowohl in den Verfassung des Norddeutschen Bundes als auch des Deutschen Reiches zumindest erwähnt (Artikel 4). Bismarck sah allerdings die Notwendigkeit des Schutzes des preußischen und deutschen Welthandels als Notwendigkeit an. Wenn er auch den staatlichen Erwerb von größeren Territorien ablehnte, so förderte er doch private Initiativen zur Gründung von Auslandsstützpunkten deutscher Handelsgesellschaften.

1868 wurde im japanischen Yokohama der erste preußische Marinestützpunkt im Ausland angelegt. Er bestand bis 1911 und war bis zur Gründung des deutschen Schutzgebietes Tsingtao im Jahre 1897 die Basis zum Schutz des deutschen Handels in Ostasien.

1871-1884

Im Gefolge des deutsch-französischen Krieges lehnten Bismarck und der Reichstag das Angebot der Franzosen ab, die Kolonie Cochinchina (Teil von Indochina) gegen Elsaß-Lothringen zu tauschen.

Nach der Reichsgründung nahm die Öffentlichkeitswirksamkeit der Kolonialpropaganda Fahrt auf (Gründung der „Afrikanischen Gesellschaft“ 1873). Die preußischen Konservativen (unter ihnen auch Bismarck) lehnten den Erwerb von Kolonien ebenso konsequent ab, wie die Sozialdemokraten. Träger der Kolonialpropaganda waren damals die erstarkenden Nationalliberalen.

Weitere kolonialfreundliche private Initiativen waren: 1878 der „Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande“, 1881 der „Westdeutsche Verein für Colonisation und Export“, 1882 der „Deutscher Kolonialverein“, 1884 die „Gesellschaft für Deutsche Kolonisation“ (Initiative durch Carl Peters, Pionier im späteren Deutsch-Ostafrika), 1887 die „Deutsche Kolonialgesellschaft“.

Nachdem sich die Konservative Partei während des Kulturkampfes gespalten hatte, suchte Bismarck seine politische Mehrheit mit den Nationalliberalen zu sichern. Dies führte zum endgültigen Bruch mit den Altkonservativen unter Ernst Ludwig von Gerlach. Bismarck hatte nun innenpolitisch im Sinne seiner Realpolitik neue Weichen zu stellen. Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Kolonialpolitik. Obwohl Bismarck seine grundsätzlich ablehnende Haltung zum Erwerb von Kolonien nie aufgab, musste er nun auf die prokolonialen nationalliberalen Forderungen zumindest teilweise eingehen.

Die typischen prokolonialen Argumente waren:

  • Kolonien würden nach ihrer Erschließung Absatzmärkte für deutsche Industriewaren erschließen und so einen Ersatz für die nach dem Gründerkrach 1873 schwächelnde Nachfrage in Deutschland selbst bieten.
  • Kolonien würden ein Auffangbecken für die deutsche Auswanderung bieten, die dadurch der Nation nicht verlorengehen würde. Da die Auswanderung bis dahin vor allem englischsprachige Länder zum Ziel hatte, befürchtete z.B. der Kolonialagitator Wilhelm Hübbe-Schleiden[6], dass das Deutschtum gegenüber den Angelsachsen demographisch hoffnungslos in Rückstand geraten würde.
  • Deutschland habe, wie der Theologe Friedrich Fabri[7] formulierte, eine „Kultur-Mission“: Es habe nachgerade den Auftrag, seine überlegene Kultur weltweit zu verbreiten.
  • Der Erwerb von Kolonien biete eine Möglichkeit zur Lösung der sozialen Frage: Die Arbeiter würden sich auf eine faszinierende nationale Aufgabe verpflichten lassen und sich von der Sozialdemokratie abwenden; dadurch und durch die Auswanderung aufrührerischer Massen in die Kolonien würde der innere Zusammenhalt der Nation gestärkt.

Kein einziger dieser Punkte wurde allerdings verwirklicht. Bismarcks Außenpolitik blieb europäisch orientiert. Er fürchtete in der Kolonialfrage eine Konfrontation mit Großbritannien, Frankreich und Italien. Dementsprechend zögerlich handelte er. Er setzte weiterhin auf private Initiativen und weitgehende Zurückhaltung des Reiches. Eine deutlichere Änderung in Bismarcks Kolonialpolitik erfolgte 1878 im Zusammenhang mit der deutschen Schutzzollpolitik. Erster Ansatzpunkt war Samoa, wo erhebliche deutsche Wirtschaftsinteressen lagen. Der deutsche Konsul übernahm 1879 gemeinsam mit seinen Kollegen aus Großbritannien und den USA die Verwaltung eines Teils der Inseln, nachdem mit einheimischen Führern Verträge abgeschlossen worden waren. Samoa wurde 1899 deutsches Schutzgebiet. 1883 ergriff der Hamburger Reeder Adolph Woermann die Initiative für eine Errichtung einer deutschen Kolonie in Westafrika. Bismarck holte dazu allerdings zuerst die Stellungnahmen der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck ein. 1884 wurde der Afrika-Forscher Gustav Nachtigal als Reichskommissar nach Westafrika entsandt, um mit einheimischen Häuptlingen Verträge über Gebietserwerbungen abzuschließen.

1884-1890

 Das Jahr 1884 markiert den eigentlichen Beginn der deutschen Kolonialerwerbungen. Bismarck ging nun dazu über, Besitzungen deutscher Kaufleute in Übersee unter den formellen Schutz des Reiches zu stellen. Im April 1884 geschah dies zuerst mit den Besitzungen des Bremer Kaufmannes Adolf Lüderitz als „Deutsch-Südwestafrika“. Im selben Jahr folgten Togo und Kamerun (A. Woermann) und Neuguinea, 1885 das von Carl-Peters erworbene Gebiet in Ostafrika, die Marschallinseln und 1886 weitere Inseln der Salomonen. Bismarck gab damit seine Kritik an den Kolonialerwerbungen freilich nicht auf. Er folgte allerdings den innenpolitischen Strömungen im Reich. Eine breite Öffentlichkeit und die Zeitungen der parlamentarischen Mehrheit stand hinter der Kolonialpolitik. Der Reichskanzler nahm die Errichtung der Schutzgebiete allerdings stets erst nach Einigung mit den anderen Kolonialmächten vor.

Praktisch wurde die Verwaltung der Schutzgebiete zunächst den privaten Gesellschaften durch „Schutzbriefe“ übertragen. Dies folgte der Taktik Bismarcks, den Staat möglichst herauszuhalten. Das Reich behielt sich allein im Schutzgebietsgesetz von 1886 die Oberhoheit und gewisse Eingriffsrechte vor, ohne dass dies spezifiziert oder konkretisiert worden wäre. Damit war das staatliche Engagement finanziell und organisatorisch auf ein Mindestmaß reduziert. Diese Strategie scheiterte allerdings innerhalb weniger Jahre. Aufgrund der schlechten finanziellen Situation in fast allen „Schutzgebieten“ sowie der teilweise prekären Sicherheitslage – in Südwestafrika und in Ostafrika drohten 1888 Aufstände der indigenen Bevölkerung, in Kamerun und Togo bestand die Gefahr von Grenzstreitigkeiten mit den benachbarten britischen Kolonien, überall hatten sich die Gesellschaften als mit dem Aufbau einer effizienten Verwaltung überfordert erwiesen – waren Bismarck und seine Nachfolger gezwungen, alle Kolonien direkt und formell der staatlichen Verwaltung des Deutschen Reiches zu unterstellen.

Im Reich musste dazu eine zentrale Kolonialverwaltung erst aufgebaut werden (zunächst in Form einer Abteilung innerhalb des Auswärtigen Amtes, dann als eigenes Kolonialministerium). In den Schutzgebieten entstanden neben den Verwaltungen des Reiches (an deren Spitze vom Kaiser ernannte Gouverneure standen) militärische Schutztruppen und Polizeikräfte. Nach 1885 wandte sich Bismarck gegen weiteren Kolonialerwerb und setzte seine politischen Prioritäten bei der Beziehungspflege mit den Großmächten England und Frankreich fort. Als ihn 1888 der Journalist Eugen Wolf drängte, Deutschland müsse weitere Kolonien erwerben, um im Wettbewerb mit den anderen Großmächten nicht ins Hintertreffen zu geraten, erwiderte Bismarck, dass Priorität für ihn weiterhin die Sicherung der vor kurzem errungenen nationalen Einheit war, die er durch Deutschlands Mittellage gefährdet sah. Bismarck erklärte Wolf:

„Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland, und hier … liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika.“[8]

1889 erwog Bismarck einen Rückzug Deutschlands aus der Kolonialpolitik. Die deutschen Aktivitäten in Ostafrika und auch die Bestrebungen bezüglich Samoas wollte er nach Aussage von Zeitzeugen ganz beenden. Weiter wurde berichtet, Bismarck mochte nichts mehr mit der Verwaltung der Kolonien zu tun haben und wollte sie der Admiralität übergeben. Dem italienischen Ministerpräsidenten, Francesco Crispi, bot Bismarck im Mai 1889 die deutschen Besitzungen in Afrika zum Kauf an – was dieser mit einem Gegenangebot bezüglich der italienischen Kolonien beantwortete. Die Kolonien dienten Bismarck in diesem Zusammenhang aber auch als Verhandlungsmasse. So wurde bei der Kongokonferenz 1884/85 in Berlin Afrika unter den Großmächten aufgeteilt. 1884 wurde im Namen von Adolf Lüderitz mit dem Zulu-König Dinuzulu ein Vertrag geschlossen, der Deutschland einen lokalen Gebietsanspruch an der Santa-Lucia-Bucht im Zululand sichern sollte. Im Zuge eines Ausgleichs mit Großbritannien wurde das Ansinnen aber im Mai 1885 fallengelassen und auch Pondoland in Südafrika zugunsten Englands nicht als deutsche Kolonie anerkannt. 1885 gab Deutschland auch Ansprüche auf die westafrikanischen Territorien Kapitaï und Koba zugunsten Frankreichs auf. Gleiches galt für das Mahinland in Bezug auf Großbritannien.

1886 einigten sich Deutschland und Großbritannien auf die Abgrenzung ihrer Interessenssphären in Ostafrika. Nach Bismarcks Rücktritt im März 1890 verzichtete das Deutsche Reich im Helgoland-Sansibar-Vertrag vom 1. Juli 1890, den der Reichskanzler noch maßgeblich vorbereitet hatte, auf alle etwaigen Ansprüche nördlich Deutsch-Ostafrikas. Dadurch sollte ein Ausgleich mit Großbritannien erzielt werden. Auch die deutschen Ansprüche auf die gesamte Somaliküste zwischen Buur Gaabo und Aluula wurden aufgegeben, wovon die Beziehungen zum Dreibund-Partner Italien profitierten.

Nach Bismarck

Otto von Bismarck war also bis zuletzt bereit, die deutschen Kolonien wieder aufzugeben, falls die außenpolitische Lage es erforderte. Seine von mir Anfangs zitierten Vorbehalte gegen den Kolonialerwerb erwiesen sich im Wesentliche als richtig. Weder waren die Kolonien profitabel, noch war das Deutsche Reich in der Lage, die Kolonien im Kriegsfalle zu schützen. Dies zeigte sich im Ersten Weltkrieg deutlich. Selbst die unter Kaiser Wilhelm II. erstarkte Kaiserliche Marine konnte die in den Schutzgebieten kämpfende deutsche Truppe weder versorgen noch unterstützen. Am längsten hielt sich die Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika unter General Paul von Lettow-Vorbeck, die erst im November 1918 vor einer vielfachen alliierten Übermacht die Waffen strecken musste. Durch das Versailler Diktat gingen schließlich alle deutschen Schutzgebiete verloren.

Zu aktuellen Diskussion um den deutschen Kolonialismus und Bismarcks Rolle

Im Zuge der aus den USA herübergeschwappten Rassismus-Diskussion taucht auch wieder die Frage nach der angeblichen deutschen Schuld im Kolonialismus auf. Flankiert wird diese Auseinandersetzung von immer neuen Reparationsforderungen aus einigen ehemaligen Schutzgebieten. Im Zentrum stehen dabei die altbekannten Vorwürfe des „Völkermordes an den Herero“ in Deutsch-Südwestafrika usw. An dieser Stelle soll hierauf nicht näher eingegangen werden.

Bismarcks Politik wurde geschildert. Er sah das Deutsche Reich als europäische Landmacht an, das territorial „saturiert“ war. Global interessierte ihn der deutsche Handel, der geschützt werden musste. Territoriale Erwerbungen lehnte er ab. Keines der späteren Schutzgebiete war jemals völkerrechtlicher Bestandteil des Deutschen Reiches geworden. Eine koloniale Konfrontation mit anderen europäischen Mächten wollte der Reichskanzler unbedingt verhindern.

Bismarcks Kolonialpolitik zielte daher in erster Linie auf private Initiativen ab. Das Reich sollte sich nur minimal beteiligen. Die Entwicklung zeigte, dass dies auf Dauer nicht möglich war. Doch sträubte sich der Reichskanzler vor jedem Schritt, den Staat immer mehr in die kolonialen Angelegenheiten hineinzuziehen.

Der Charakter der deutschen Kolonialpolitik war also von vornherein ein grundsätzlich anderer, als der der anderen Mächte, voran Großbritannien. Deutschland (und Bismarck) ging es um den Schutz des Handels, der Kaufleute und Siedler und ihrer Besitzungen, nicht jedoch um die rücksichtslose Ausbeutung der Kolonien. Dies zeigte sich auch in der Behandlung der einheimischen Bevölkerung, die in der Regel einbezogen wurde. In die Leitung der örtlichen Verwaltungen der Schutzgebiete, aber auch der Schutztruppen und der Polizei wurden Einheimische integriert.

Kriege gegen Aufständische in den Schutzgebieten kamen vor. Sie wurden von den Schutztruppen und der Polizei bekämpft. Doch bildeten sie die Ausnahme. Dabei zweifellos vorgekommene Härten und Ungerechtigkeiten hielten sich allerdings in Grenzen und wurden stets eingehend untersucht und geahndet[9]. Hinter der Brutalität anderer Kolonialherrschaften verschwinden sie aber[10].

Die heutige offizielle (linke) Geschichtssicht auf die deutsche Kolonialpolitik beruht im Wesentlichen auf der britischen Greuelpropaganda des Ersten Weltkrieges. Durch Unwahrheiten und Übertreibungen sollte „nachgewiesen“ werden, dass die „Hunnen“ nicht in der Lage wären, Kolonien zu leiten und zu verwalten. Hier wurden auch die Zerrbilder von Carl Peters, Lothar von Trotha u.a. und vom Herero-Aufstand gezeichnet. Damit sollte der spätere Raub der deutschen Kolonien  gerechtfertigt werden. Der Historiker Dr. Claus Nordbruch[11] hat das eindrucksvoll nachgewiesen. Übernommen wurden diese Lügen von der marxistischen Geschichtsschreibung in der „DDR“. Dort war das Hauptanliegen, die (meist sozialistischen) afrikanischen „Befreiungsbewegungen“ nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch zu rechtfertigen. Verschwiegen wurde dabei natürlich, dass die der deutschen Kolonialverwaltung folgenden Regime oft unmenschlicher und grausamer waren, als die Kolonialherren und ihre Länder zivilisatorisch wieder weit zurückwarfen.

Die deutsche Kolonialgeschichte blieb insgesamt eine Episode. Ausgerechnet aber Otto von Bismarck, den großen Kolonialskeptiker, der noch 1889 alle deutschen Kolonen am liebsten aufgegeben hätte, und der vor jedem Schritt einer Ausweitung des Kolonialerwerbs stets zurückgeschreckt war, als angeblichen „Rassisten“ und „Kolonialausbeuter“ brandmarken zu wollen, ist an Absurdität und Geschichtsklitterung kaum zu überbieten.

Anmerkungen:

[1] Nach dem Erwerb von Elsaß-Lothringen.

[2] Zitiert nach Karl Buchheim: Das deutsche Kaiserreich 1871–1918. Kösel, München 1969, S. 87; vgl. Marcus Thomsen: „Ein feuriger Herr des Anfangs…“. Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt. Thorbecke, Ostfildern 2005, ISBN 3-7995-5942-6, S. 152.

[3] Michael Fröhlich: Imperialismus. Deutsche Kolonial- und Weltpolitik 1880–1914. dtv, München 1994, S. 32.

[4] Bruce Gilley: Verteidigung des deutschen Kolonialismus. Lüdinghausen 2021, S. 82.

[5] Eine Tatsache, die in der heutigen Kolonialdebatte geflissentlich ausgeblendet wird.

[6] Wilhelm Hübbe-Schleiden (* 20. Oktober 1846 in Hamburg; † 17. Mai 1916 in Göttingen) war ein deutscher kolonialpolitischer Schriftsteller und Theosoph.

[7] Friedrich Gotthart Karl Ernst Fabri (* 12. Juni 1824 in Schweinfurt; † 18. Juli 1891 in Würzburg) war ein deutscher evangelischer Theologe und Publizist.

[8] Hans-Ulrich Wehler: Bismarck und der Imperialismus. 4. Auflage, dtv, München 1976, S. 423 f.

[9] Wie die umfangreich erhaltenen Akten des Kaiserlichen Kolonialministeriums beweisen.

[10] Siehe hierzu das bereits erwähnte Buch von Bruce Gilley, Fußnote Nr. 4.

[11] Siehe hierzu u.a. Nordbruchs Buch: Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwestafrika? Widerlegung einer Lüge. Grabert-Verlag, Tübingen 2004.

 

Stephan Ehmke, Jg. 1963, Diplom-Pädagoge, studierte bei der Bundeswehr. Ausbildung zum Offizier, heute Oberstleutnant der Reserve. Nach seiner aktiven Dienstzeit tätig bei einem Weiterbildungsinstitut in Berlin. Seit 2000 selbständig als Berater mittelständischer Unternehmen im Bereich der Aus- und Weiterbildung sowie Personalführung. Daneben Dozent für Geschichte und Politik bei verschiedenen Bildungsträgern. Seit 2020 Vorsitzender der SWG, seit 2015 Vorsitzender des Verbandes der Vertriebenen in Kiel, stellvertretender Landesvorsitzender des Bundes der Vertriebenen (BdV) in Schleswig-Holstein. Autor von Beiträgen in Periodika zu Politik und Geschichte, Konservativismus und Preußen.

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