von Stephan Ehmke
„Woher kommt es, dass man vor der Verwendung des Wortes `konservativ´ so starke Hemmungen empfindet, und das in einer Zeit, die erhaltender, bewahrender Kräfte bedürfte wie keine andere?“ Ernst Jünger
Reconquista!
Die Forderung nach einer konservativen Wende in Deutschland ist nicht neu. Sie wurde regelmäßig von rechtsgerichteten politischen Kräften erhoben, nachdem die so genannten „68-er“ nach ihrem „Marsch durch die Institutionen“ die Bundesrepublik auf einen neomarxistischen Kurs getrimmt hatten. Helmut Kohl rief diese „Wende“ nach seinem Wahlsieg 1983 aus, ohne dass ihr freilich allzu viele Taten folgten. Wie auch? Die Neomarxisten hatten inzwischen praktisch den gesamten vorpolitischen Raum besetzt: Medien, Kultur, Bildung. Eine rote, dann rot-grüne Einheitsfront, die bis heute nicht aufgebrochen werden konnte, außer vielleicht ansatzweise in Mitteldeutschland, wo sich trotz 40 Jahren Sozialismus patriotische und bürgerlich-konservative Auffassungen offensichtlich besser bewahrt hatten, als im Westen der Republik. Ablesen kann man dies insbesondere an den Wahlerfolgen und hohen Umfragewerten der AfD in unseren östlichen Bundesländern.
Martin Sellner, Begründer und intellektueller Kopf der Identitären Bewegung in Österreich mit starker Ausstrahlung nach Deutschland, beschwört in seinem 2023 erschienen Buch „Regimechange von rechts“ eine „Reconquista“ angesichts der kulturellen Überfremdung beider Länder (und Europas) durch die illegale Massenzuwanderung. Er erkannt klar, dass eine solche Reconquista“ nur gelingen kann, wenn der vorpolitische Raum (Sellner nennt ihn „metapolitischer Raum“) zurückerobert wird. Nur so können seiner Meinung nach rechte parlamentarische Mehrheiten dauerhaft überhaupt erst wirksam werden. Ohne den Besitz des vorpolitischen Raumes würden sie nur Strohfeuer bleiben.
Sellner ist sich sehr bewusst darüber, dass eine solche Rückeroberung nicht wenige Jahre, sondern Generation dauern wird. Dass sie überhaupt erst gelingen kann, setzt nach Sellner zunächst eine grundsätzliche bevölkerungspolitische Wende voraus: Stopp der Massenzuwanderung, Remigration von nicht assimilierbaren und straffälligen Ausländern, Verschärfung des Staatsbürgerrechtes, usw. Vor allem aber sei die Umkehrung des Geburtenrückganges im deutschen Volk vonnöten. Eine neue Bevölkerungspolitik, orientiert am Ziel des Erhaltes der enthnokulturellen Identität der Deutschen, so die Aussage des Österreichers.
Natürlich setzt die Bereitschaft der Deutschen, wieder mehr Kinder zu bekommen, die Veränderung zahlreicher Rahmenbedingungen voraus, geistiger und materieller, die an dieser Stelle nicht ausführlich besprochen werden können. Auch bleibt es eine Tatsache, dass diese Veränderungen nicht in wenigen Jahren, sondern über Generationen zu erreichen sind. Sie erfordert aber auch, dass die Deutschen wieder erkennen, warum sie ihre eigene ethnokulturelle Identität erhalten sollen. Dies wiederum setzt voraus, das Eigene, das Spezifische der deutschen Kultur gegenüber dem Fremden, dem Anderen, zu kennen und zu begreifen. Das ist zweifellos eine Erziehungs- und Bildungsaufgabe, die zuallererst in den Familien (gemeint ist die traditionelle Familie, Mann, Frau (biologisch) und ihre Kinder) erneut wahrgenommen werden muss, dann in den Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen.
Womit wir wieder beim vorpolitischen Raum angelangt sind. Identitätspolitik ist Bildungspolitik. Sellner hat völlig recht, wenn er sagt, dass wir vor oder wenigstens zugleich mit den Parlamenten die Schulen und Universitäten zurückzuerobern haben.
Der vorliegende Beitrag soll eine Hilfestellung zur Vergewisserung der eigenen Identität sein, indem er das auf deutscher und europäisch-abendländischer Tradition beruhende konservative Wertegerüst beschreibt. Diese Beschreibung ist nicht vollständig, und sie könnte vielleicht kürzer, ausführlicher oder auch besser gefasst werden. Insofern stellt sie einen Vorschlag dar, eine Handreichung, die auch ein Anreiz zur Weiterbildung sein soll.
(Die folgenden Ausführungen sind eine leicht überarbeitete Version des Aufsatzes des Verfassers, der im Deutschland-Journal 2/2022 der SWG erschienen ist.)
Werteorientierung I: Das christliche und humanistische Erbe des Abendlandes
Werte spielen im Leben des Menschen eine zentrale Rolle, sie bestimmen alle seine Lebensbereiche. Werte haben somit eine fundamentale lebens- und sinnstiftende Funktion. Der Mensch als geistiges Wesen („homo sapiens“) reflektiert seine Lebenswelt und sucht sie auf dem Wege der Erkenntnis sinnvoll zu ordnen. Er entwickelt Handlungsmaximen, die sein Leben auf Ziele ausrichten, welche ihm wertvoll erscheinen. Mit Hilfe der Sprache formuliert er theologische und philosophische Systeme, welche die als richtig erkannten Werte bzw. Handlungsmaximen ordnen und hierarchisieren: Werteordnungen entstehen. Die aus der dem Menschen gegebenen Seins- oder Schöpfungsordnung abgeleiteten Werte sind objektiv. Sie sind der willkürlichen Verfügung und Interpretation des Menschen entzogen. Das Individuum hat die sittliche Pflicht, sich willkürlicher Handlungen zu enthalten und „in der Wahrheit zu leben“ (z.B. fordert das biblische Gebot: „Du sollst nicht lügen“). Daher besteht die Pflicht zur Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Anständigkeit. Werteordnungen stellen eine Pyramide oder Hierarchie dar, deren Spitze das höchste Gut einnimmt, auf die alle anderen Güter bezogen werden. Max Scheler schlägt folgende Rangordnung der Werte für Individuen und Gemeinschaften mit Allgemeingültigkeitsanspruch vor: Hedonische Werte (Nahrungstrieb u.a.) als unterste Klasse; dann „Dienstwerte“ (z.B. Verkehrsregeln, materielle Interessen); Vitalwerte (Gesundheit, Kraft, Stärke); ästhetische Werte („das Schöne“); personale Selbstwerte („das sittlich Gute“) sowie als höchste Klasse: das Heilige („Gott“, „Seligkeit“, das „ewige Leben“). Menschliche Kultur zeigt sich nach Scheler auch darin, dass die höheren Werte die niedrigeren „durchdringen“.
Jede Rangordnung von Zielen, Gütern und Werten beruht letztlich auf dem Gott- und Weltverständnis des Menschen, das heißt, auf Religion und Philosophie. Die Heiligung ist objektiv (gleichwohl nicht immer subjektiv) letztes Ziel des Menschen wie der Gesellschaft, auf das alle Einzelwerte auszurichten sind. Die rechte, weil objektive Rangordnung in allem Handeln festzuhalten und zu verwirklichen, ist sittliche Pflicht. Das Nichtfesthalten oder die Verkehrung der Rangordnung („Umwertung der Werte“) führt zur Nichterreichung der Bestimmung von Mensch und Gesellschaft, zu Krise und Verfall der Kultur, zu „Dekadenz“ und „Säkularisierung“ bis hin zu persönlichen „Sinnkrisen“. Gemeinschaftsleben setzt eine gemeinsame Werteordnung voraus, einen Grundkonsens über den Höchstwert und die Grundwerte. Die Beachtung und Verwirklichung solcher Grundwerte wird von jedermann und jeder Institution gefordert. Fehlt dieser Grundkonsens, lassen sich die Gemeinschaftsbindungen auch durch rechtliche Regelungen auf die Dauer nicht aufrechterhalten, die Gemeinschaft zerfällt. Werterziehung, vor allem in der Familie, in der Schule und Kirche, sowie unablässiges Einüben der Werthaltungen im Alltagsleben beugen dem Zerfall vor.
Die Werteordnung des christlichen Abendlandes, Europas, hat sich in Jahrtausenden historisch und organisch entwickelt. Sie bildet auch heute noch das verbindliche Fundament unserer Kultur, auch wenn dies von vielen bestritten wird. Bereits die Philosophie der Antike hat umfangreiche Wertesysteme aufgestellt und damit die klassische „Ethik“ begründet, die Lehre von den Normen menschlichen Lebens und deren Rechtfertigung. Ihre herausragenden Vertreter sind die großen Philosophen Platon und Aristoteles. Sie verwenden allerdings nicht den Begriff „Werte“, sondern sprechen von „Ideen“ bzw. „Formen“. Ergänzt und fortgeführt durch die römische Philosophie, vor allem der Stoiker, wurden frühzeitig aus der Werteordnung verbindliche Handlungsmaximen für den nach dem „höchsten Gut“ strebenden Menschen formuliert: die „Tugenden“. Die vier klassischen Tugenden der Antike: „Weisheit (Klugheit), Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit“ wurden besonders in der Scholastik des hohen Mittelalters mit den drei christlichen Tugenden „Glaube, Liebe und Hoffnung“ verbunden, woraus der herausragende Denker dieser Epoche, Thomas von Aquin, die Lehre von den „Kardinaltugenden“ entwickelte. Sein Bestreben war die „Versöhnung“ der Philosophie der klassischen Antike mit der Theologie. Das Christentum, zunächst stark dogmatisch eingebunden in die Lehre der römischen Kirche, wurde die bestimmende Kulturtradition Europas und blieb es unbestritten bis in die Moderne hinein. Die Zehn Gebote wurden als Handlungsmaximen in Bezug auf den Gehorsam gegen Gott für alle Menschen erkannt, ergänzt durch die Ethik des neutestamentlichen Evangeliums Jesu Christi, in dessen Zentrum die Bergpredigt steht, welche aus der Gottesliebe die Nächstenliebe mit den Forderungen nach Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit und Vergebung herleitet.
Die mittelalterliche Ethik wurde durch Humanismus und Renaissance aufgenommen und verändert, ohne ihre Traditionen zu verleugnen. Im Zuge der aufkommenden Wissenschaften, vor allem der Naturlehren, trat der Mensch mehr in den Mittelpunkt nicht nur der Theologie und der Philosophie, sondern auch der Kunst. Im bewussten Rückgriff auf die Lehren der Antike entstanden die Bemühungen um eine der Würde des Menschen und der angemessenen (mäßigenden) Entfaltung der Persönlichkeit entsprechende Gestaltung des Lebens durch sittlich fundierte Bildung und Erziehung. Wurde auch die kirchliche Dogmatik kritisiert, blieb die humanistische Bewegung doch uneingeschränkt dem christlichen Glauben verpflichtet, der als „die eine Wahrheit“ angesehen wurde. Seinen Höhepunkt findet der Humanismus in den Werken Erasmus von Rotterdams und Ulrich von Huttens, welcher letzterer als einer der frühen Wiedererwecker des deutschen Nationalbewusstseins gelten kann. Die Reformation suchte die Missstände innerhalb der römischen Kirche zu beseitigen und ihre Lehre zum Kern des Evangeliums zurückzuführen. Luther stellte die Freiheit und Verantwortung des Gewissens vor Gott als ein zentrales Thema heraus. Die Reformatoren lehnten Kirche und Papst als „Mittler“ zwischen den Gläubigen und Gott ab, ohne die kirchliche Ordnung als solche in Frage zu stellen. Für Luther war die in der Heiligen Schrift bezeugte göttliche Offenbarung („Gottes Wort“) unverbrüchliche Grundlage des christlichen Glaubens und damit auch jeder Sittlichkeit. Die kirchliche Lehre, aber auch die staatliche Obrigkeit hatte sich an ihr zu orientieren. Die menschliche Vernunft sollte sich ebenfalls dieser Erkenntnis vorbehaltlos unterordnen. Mit seinem Rückgriff auf die frühmittelalterliche augustinische Theologie sowie Elemente der Scholastik kann die Reformation nicht ohne Weiteres als Vorläufer der Aufklärung gesehen werden, vielmehr orientierte sich letztere bewusst mehr an den Traditionen des Humanismus.
Die Werteordnung des christlichen Abendlandes wurde erst in den radikalen Strömungen der Aufklärung durch das Aufkommen atheistisch-materialistischer Weltanschauungen fundamental in Frage gestellt. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde hierfür der englische Positivismus und Empirismus von besonderer Bedeutung. An die Stelle von Gott und seiner christlichen Offenbarung wurde die menschliche Vernunft mit ihrer vermeintlichen Urteilskraft gesetzt. Alle Erkenntnis, auch die religiöse, hatte sich ihr unterzuordnen. Werteordnungen sollten nur insofern ihre Gültigkeit behalten, als sie rationalen Vernunftgründen standhalten konnten. Die radikalen „Ideen“ der französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, sowie eine abstruse „Vernunftreligion“ wurden die Vorläufer jener modernen nihilistischen Massenideologien, die Europa im 20. Jahrhundert in so vielfältiges Elend stürzen sollten. Die Neudefinition der Sittlichkeit, Moral und Ethik fand von der Warte eines Individualismus aus statt, der alle überlieferten Traditionen – einschließlich des Christentums – relativierte. Was bisher als unverrückbar galt, wurde der beliebigen Beurteilung des Subjekts unterworfen. Im Gegensatz dazu knüpfte der große deutsche Denker Immanuel Kant bewusst an die alten – vor allem preußischen – Wertetraditionen an. Zwar forderte auch er die menschliche Vernunft als Maßstab für eine allgemeine Ethik, jedoch negierte er nicht den Wert der Religion als höchstes Gut und Fundament der Sittlichkeit. Sein uneingeschränktes Bekenntnis zum moralischen Wert der Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft, gegenüber Volk und Staat, heben ihn gegenüber den nihilistischen Tendenzen seiner Zeit weit hinaus. Mit Recht kann Kant in diesem Sinne als Vollender, aber auch als Überwinder der europäischen Aufklärung angesehen werden.
Der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts blieb es vorbehalten, mit den Wertetraditionen des christlichen Abendlandes zu brechen. Die durch den Liberalismus und die sozialistischen Massenideologien propagierte Infragestellung des klassischen Wertekanons hat zu einem Wertepluralismus geführt, der in sich selbst einen Widerspruch darstellt. Sind alle Werte für die Gesellschaft gleich gültig, so sind sie auch gleichgültig und damit wertlos. Aus dem Wertepluralismus wurde ein Wertenihilismus. Durch diesen Bruch erhalten Werte den Charakter des Willkürlichen, des Subjektiven, des dem Konsens Vorbehaltenen. Damit hängt dann auch die Beantwortung der Frage, ob man diesen Bruch als positiven „Wertewandel“ oder, negativ, als einen „Werteverfall“ beurteilt, stark vom Standpunkt des Betrachters ab. Wer die „Entlegitimierung“ des aus der Geschichte, besonders dem Christentum und dem Humanismus überkommenen Wertekomplexes bedauert, wird kaum Verständnis für jene „neuen“ Werte aufbringen, die an seine Stelle getreten sind: Emanzipation, sexuelle „Befreiung“, Selbstbestimmung. Diese „neuen Werte“ ermöglichten jedem Einzelnen, sich im „Supermarkt der Moral“ seinen Einkaufswagen mit den Bausteinen einer Selbstbedienungs-Ethik aufzufüllen. Folgerichtig stößt die Rede von einer dem Gemeinwohl verpflichteten Wertewelt und den ihr entsprechenden Tugenden heute in der Öffentlichkeit weitgehend auf Unverständnis. Ausdrücklich fordert die heutige „Neue Linke“ zum Bruch mit der überkommenen Werteordnung auf, um „neue Formen des Zusammenlebens, neue Familienstrukturen, neue sexuelle Verhaltensweisen“ ohne „Moral und Monogamie“ einführen zu können. Zugleich mit der sexuellen „Befreiung“ wird auch ,Jede emotionale Bindung an die Heimat, die Religion, das Vaterland, die kulturelle Überlieferung, die großen Werke der Kunst und Literatur“ im Keime zu ersticken versucht (W. Brezinka: „Die Pädagogik der Neuen Linken“, 1972).“
Doch es regt sich Widerstand. Nicht nur Konservative rufen zur Umkehr. Der verstorbene Altbundeskanzler Helmut Schmidt beispielsweise lobte in einer seiner letzten Veröffentlichungen jene Autoren, die den Werteverfall „als Menetekel an die Wand geschrieben haben“, und geht hart mit jenen Kritikern aus seiner eigenen Partei ins Gericht, für die konservative Wertvorstellungen wie „Gemeinwohl, Nächstenliebe, Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein veraltete Ideale sind“. In seiner „Suche nach einer Öffentlichen Moral“ erweist er sich als überzeugter Anhänger einer konservativen Ethik, die sich dezidiert auf die traditionellen Kardinaltugenden stützt. Der Verfall dieser Tugenden und Werte wirke sich nicht zuletzt in erhöhter Kriminalität und Brutalität von Jugendlichen aus. Selbst eingefleischte Liberale wie Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow stimmten Klagen über den „Werteverfall“ an, an dem sie durch die Propagierung ihrer Ideologie selbst mitgewirkt haben. Jetzt sei „ein Massenaufstand gegen die letzten Grundlagen alles dessen ausgebrochen, was wir Kultur nennen“, „Verrohung und Verpöbelung“ greife um sich, die „Familie als die natürlichste Gemeinschaftszelle“ verkümmere, der zersetzende Geist des Materialismus lasse sie auf das Niveau einer „bloßen Konsumgemeinschaft und bestenfalls Vergnügungsgemeinschaft“ herabsinken (Röpke).
Ist also die Zeit einer Rückkehr zu der traditionellen Werteordnung des christlichen Abendlandes in einer zeitgemäßen Form gekommen?
Werteorientierung II: Ein konservativer Wertekanon
Konservative Werte sind nach 1945 und insbesondere im Gefolge der neomarxistischen „68-er“-Bewegung in Deutschland in die Defensive geraten. Es existieren heute nur noch wenige einflussreiche Kräfte in Volk und Staat, die sich konsequent für eine „moralische Wende“, eine Wiedergeburt konservativer Ideen einsetzen. Dies gilt sowohl für den vorpolitischen, als auch für den politischen Raum. Die Zahl der kleinen wertkonservativen Vereine und Vereinigungen ist nicht einmal gering; allerdings sind sie zersplittert und im Wesentlichen nur regional verankert. Eine „konservative Sammlung“, wie sie bereits in den sechziger und siebziger Jahren der Historiker und Schriftsteller Hans-Joachim Schoeps als Gegenbewegung zur Wertezerstörung von Links forderte, ist heute weniger denn je in Sicht. Selbst diejenigen gesellschaftlichen Institutionen, welche auf eine konservative Tradition zurückblicken können, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten weit nach links bewegt. Als Beispiel seien hier nur die Kirchen angesprochen. Während die katholische Kirche mit ihrer sozialethischen Lehre zumindest offiziell noch wertkonservative Positionen vertritt, entwickelt sich deren evangelische Amtsschwester zunehmend zu einem politischen Anhängsel von Rot-Grün. In ihren Leitungsgremien haben sich – analog zu anderen Institutionen – liberalsozialistische Ideologien weitgehend durchgesetzt. Konservative Führungspersönlichkeiten in Volk und Staat sind heute rar gesät. Politische Exponenten wie Franz-Josef Strauß, Alfred Dregger oder Hans Filbinger haben keine bedeutenden Nachfolger gefunden. Selbst die alten politischen Träger wertkonservativer Gedanken – CDU und CSU – sind ein gutes Stück in die politische „Neue Mitte“ gerückt, die von liberalen und sozialdemokratischen Vorstellungen geprägt ist. Nunmehr verbleibt die Partei „Alternative für Deutschland“ als Statthalterin bürgerlich-konservativer und national-patriotischer Werte, wofür sie allerdings vom politischen Establishment bis aufs Messer bekämpft wird und neuerdings sogar mit einem Verbot bedroht wird.
Der von Rot-Grün 2001 propagierte „Kampf gegen rechts“ versucht mit nicht unbeträchtlichem Erfolg, den Wertekonservatismus in die extremistische Ecke zu drücken mit tatkräftiger Unterstützung großer Teile der deutschen Medien. Familien und Schulen, Hauptträger der Werterziehung und -bildung sind in die Mangel dieser Entwicklung geraten. Gerade und in erster Linie hier muss ein konservativer Wertekanon erneut verankert und eingeübt werden, der dem herrschenden Zeitgeist konsequent gegenübertritt. Voraussetzung hierfür ist aber die geistige Orientierung über diesen Wertekanon selbst, der sich in der Tradition des christlichen Abendlandes sieht, sowie die Überzeugung, dass seine Wiedergeburt für die Zukunft unseres Volkes und Vaterlandes unerlässlich ist. Zeitgenössische Literatur über diesen Themenkomplex ist in Fülle vorhanden. Als Beispiele unter vielen seien an dieser Stelle nur die Veröffentlichungen von Hans-Joachim Schoeps, Caspar von Schrenk-Notzing, Gerd-Klaus Kaltenbrunner oder Armin Mohler genannt, die sich der „Rekonstruktion des Konservatismus“ und seiner Werteordnung besonders gewidmet haben.
Was also macht wertkonservatives Denken aus? Der folgende kurze Abriss soll dieser Frage nachgehen.
Nach christlich-konservativen Vorstellungen ist der Mensch fest in Gottes Heils- und Schöpfungsordnung (auch: Weltordnung) eingebunden. Er kann sich nicht willkürlich von ihr befreien, ohne diese Ordnung selbst in Frage zu stellen und damit seine eigenen Existenzgrundlagen zu zerstören. Als unvollkommenem, endlichem Wesen (der große konservative Anthropologe Arnold Gehlen spricht vom Menschen als „Mängelwesen“), ist in ihm die Fähigkeit sowohl zu gutem als auch bösem Handeln angelegt. Er ist daher an die sittliche Gemeinschaft gebunden, die ihn anleitet und korrigiert. Die vielfältigen Bindungen in der Welt betreffen den Menschen als Individuum und als Gemeinschaftswesen. Aus ihnen erwachsen für den Einzelnen zunächst Pflichten – gegen Gott und gegenüber der Gemeinschaft, dem „Nächsten“. Erst aus den Pflichten lassen sich die Rechte ableiten. Grundsätzlich gilt im konservativen Denken: Nur wer bereit ist, Pflichten wahrzunehmen, kann Rechte geltend machen. Das negiert nicht die Existenz grundlegender Menschenrechte, der Würde und Unverletzlichkeit der Person, die sich aus der Tatsache der Gottesebenbildlichkeit und damit Einmaligkeit jedes menschlichen Wesens ableitet. Abstrus sind jedoch Forderungen nach z.B. dem Wahlrecht „von Geburt an“. Gerade das Wahlrecht muss die Bereitschaft voraussetzen, Pflichten gegenüber der Gemeinschaft wahrzunehmen (wenn auch die heutige Praxis anders aussieht). Wie aber sollen Neugeborene, Kleinkinder oder Jugendliche diese Pflichten erfüllen? Hierzu ist Mündigkeit im Sinne sittlicher Urteilsfähigkeit erforderlich.
Zur Schöpfungs- oder Weltordnung gehören unverbrüchlich die elementaren menschlichen Ordnungen. Sie leiten sich nicht nur aus der christlichen Lehre, sondern auch aus dem klassischen Naturrecht ab. Wie konzentrische Kreise umgeben diese Ordnungen den einzelnen als Individuum: an erster Stelle die Familie, deren Fundament die Ehe ist, verstanden in christlicher Tradition als die lebenslängliche Verbindung zwischen Mann und Frau. Der Familie entspricht auf der nächsten Ebene (oder im nächsten „Kreis“) das Volk als Schicksalsgemeinschaft mit gemeinsamer Sprache, Geschichte, Traditionen, Sitten und Gebräuchen. Verbunden mit den Bezugsgrößen der Heimat und des Vaterlandes mitsamt ihrer staatlichen Ordnung bildet das Volk die Nation, welche sich gegen andere Nationen in ihren Eigenarten abgrenzt. Den modernen liberalsozialistischen Bestrebungen, Volk und Nation in „multikulturellen“ und „multiethnischen“ Gesellschaften aufgehen zu lassen, entgegnet Alexander Solschenizyn mit den treffenden Worten: „In letzter Zeit ist es Mode geworden, über die Nivellierung der Nationen zu reden, über das Verschwinden ganzer Völker im Kochtopf der modernen Zivilisation. Ich bin ganz und gar anderer Meinung… Eine Nivellierung der Nationen wäre um nichts besser als die Gleichmacherei der Menschen: ein Charakter, ein Gesicht. Die Nationen bedeuten den Reichtum der Menschheit, die Gesamtheit verschiedener Persönlichkeiten; selbst die geringste Nation trägt eine besondere Farbe, birgt eine eigene Facette des göttlichen Entwurfs in sich“. Herder bezeichnete die Völker als „Gedanken Gottes“. Völker und Nationen finden sich in einem weiteren Kreis zu größeren Kulturgemeinschaften zusammen. Ihnen entsprechen die geographischen Verortungen auf den Kontinenten des Erdballs. Als Menschheit ist es ihnen nach Gottes Willen aufgegeben, in friedlichem und fairem Ausgleich miteinander zu leben. Die immer noch nicht ausgestandene Diskussion über einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union z.B. macht allzu deutlich, wie sehr wir uns über die Bedeutung des Kulturkreises des europäischen Abendlandes sowohl in historisch-kultureller als auch in geographischer Hinsicht erneut klar werden müssen.
Volk und Nation bedürfen der hierarchisch gegliederten staatlichen Ordnung. Ihre Autorität begründet sich auf dem Gewaltmonopol, dem „Schwert“, welches er nach dem Zeugnis der Bibel gegen Ungerechte zu führen hat. Staatliche Obrigkeit ist dabei uneingeschränkt an Recht und Gesetz gebunden, das seinerseits – wie jeder Einzelne – sittlichem und moralischem Handeln nach christlichen und humanistischen Grundsätzen verpflichtet ist. Die Kernaufgabe des Staates besteht darin, seine Bürger nach innen und außen zu schützen sowie die Sicherheit und das Leben gerade der Schwachen zu garantieren. In die Aufgaben und Pflichten, welche der mündige Bürger aufgrund des Privatrechts und des Sittengesetzes in Familie und Volk selbständig wahrnehmen kann, darf der Staat nicht ohne weiteres eingreifen. Ausufernde Bürokratie, Eindringen in das Privatleben der Bürger, Verschuldung auf Kosten von Generationen und Verzettelung der staatlichen Aufgaben führen zu einer Form von neoabsolutistischer Tyrannei, die konservativen absolut Wertvorstellungen fremd ist. Der Autorität der staatlichen Obrigkeit steht nach konservativer Auffassung die Autorität der Eltern gleichberechtigt zur Seite. Die traditionelle Familie als Keimzelle des Volkes bewahrt hierdurch ihre Bedeutung in der Hierarchie der nationalen Ordnung. Der altpreußische Konservative Ernst Ludwig von Gerlach (+1877) hat als Oberhaupt einer Großfamilie seinem Souverän, dem König von Preußen, mit Recht selbstbewusst entgegen gerufen: „Auch ich bin ein König!“ und damit die Beschränkung der obrigkeitlichen Macht (damals nach ständischem Verständnis) verdeutlichen wollen.
Individuelle Freiheit findet ihre Grenzen in den Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, angefangen in Ehe und Familie. Das liberale Verständnis von Freiheit, das uneingeschränkte Selbstverwirklichung und Entfaltung auf Kosten anderer propagiert, ist unchristlich und moralisch verwerflich. Dies gilt auch für den „Genuss“ des Privateigentums, ohne die daraus erwachsenden sozialen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft zu beachten (wie es der schrankenlose Kapitalismus tut). Mit recht verstandener Freiheit ist unabdingbar der Begriff des Dienstes verbunden. Das berühmte Wort Senecas, die Freiheit des Einzelnen bestünde in der Freiheit, Gott (den Göttern) zu dienen, weist in diese Richtung. Die freiwillige Einordnung des Menschen in die gottgewollte, natürliche Ordnung, die jeden an seinen Platz stellt, ist die eigentliche freie Willensentscheidung des Menschen, die er jeden Tag aufs Neue zu treffen berufen ist. Die altpreußischen Konservativen um Ernst Ludwig von Gerlach betonen in diesem Zusammenhang den Vorrang der Freiheit der Gemeinschaften (der Familie, des Volkes, aber auch berufsständischer Organisationen und Korporationen) gegenüber der staatlichen Obrigkeit vor der Freiheit des Einzelnen. Auch Kant definierte einen den deutschen Konservativismus prägenden Freiheitsbegriff: Die „äußere Freiheit“ bedeute die Abwesenheit „nötigender Willkür“, die „innere Freiheit“ sei der „autonome Wille“, der auf die „Verwirklichung des Sittengesetztes“ (des Kantschen „Kategorischen Imperativs“) ausgerichtet sei. Kant formulierte auf diese Weise die preußische Pflichtethik vorbildhaft. Eine zentrale Dienstpflicht des Bürgers gegenüber der staatlichen Ordnung stellt die Wehrpflicht dar. Die Verteidigung der Freiheit von Volk und Vaterland gegenüber jeder Bedrohung von außen, notfalls mit der Waffe in der Hand, ist sittliche Pflicht und Recht jedes jungen Mannes. Nicht von ungefähr wird diese ehrenhafte Pflicht vom heutigen liberalen Zeitgeist vehement bekämpft.
Nur vor Gott und dem Gesetz besteht völlige Gleichheit unter den Menschen. Darüber hinaus sind sie von Natur aus höchst verschieden: im Charakter sowie in den geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Gerade diese Verschiedenheit macht die Vielfalt der menschlichen Gemeinschaft aus. Jeder Mensch ist vor Gott einzigartig und mit seinen Eigenarten wertvoll. Der Grundirrtum der Aufklärung und des Liberalismus von der absoluten Gleichheit der Menschen in allen Belangen des Gemeinschaftslebens hat diese Grundwahrheit ad absurdum geführt. Heute gilt: „Jedem alles“ statt: „Jedem das Seine“. Hierdurch sind nicht nur Werte wie Leistung und Autorität diskreditiert worden, auch die Heranbildung von Eliten, die für die Führung eines jeden Volkes unerlässlich sind, wurde grundlegend gestört. Die Forderung, jeder müsse ungeachtet seiner Eignung und Leistungsfähigkeit Abitur machen, studieren und in die höchsten Ämter des Staates einrücken können, ist nichts anderes als „sozialistische Gleichmacherei“. Mit fairer Chancengleichheit hat das nichts zu tun. Gänzlich pervertiert wird der Gleichheitsbegriff durch den heutigen, neomarxistischen Genderismus, der selbst die biologische Tatsache von der Existenz ausschließlich zweier Geschlechter leugnet und jeden als „Rassisten“ diffamiert, der dies leugnet.
Die Pflege der geschichtlichen Tradition des Volkes und der Nation ist grundlegendes konservatives Wertgut. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass in Analogie zur Natur auch menschliche Ordnungen „organisch wachsen“. Revolutionäre Brüche sind im Gemeinschaftsleben daher abzulehnen, denn sie beseitigen mit dem Überlebten immer auch das Bewahrungswürdige. Der Tradition im Sinne von Bewahrung der geschichtlichen Überlieferung schließt sich das Prinzip der „Legitimität“ an. Sittliche und politische Ordnungen wie Rechtszustände werden nicht in erster Linie „gemacht“, sondern „aufgefunden“ und behutsam weiterentwickelt. Konservative Denker des 19. Jahrhunderts haben stets betont, dass das langsame Wachsenlassen der Ereignisse viel brauchbarere Gebilde (z.B. Verfassungen) zustande bringe als das „Machen“, das plötzliche Konstruieren durch den Einzelnen. Das Scheitern künstlicher politischer Gebilde – wie multiethnischer Staaten – in der Geschichte oder das wilde „Reformieren“ und Umgestalten im innenpolitischen Bereich, das nur immer wieder neue Fehlentwürfe gebiert, mag dieser Auffassung recht geben.
Religion spielt im konservativen Wertekanon eine besondere Rolle. Unzweifelhaft hat der Verlust konservativen Denkens auch mit dem Verlust an Religion zu tun. Für den Philosophen Dononso Cortés waren die modernen politischen Irrtümer durchweg „Negationen Gottes“. Er war der Auffassung, dass die „Negation der religiösen Autorität“ zwangsläufig die „Negation der politischen Autorität“ zur Folge habe. Von ihm stammt auch der nachdenkenswerte Satz: „Wenn der Mensch ohne Gott auskommen kann, dann kann sofort auch der Untertan ohne König und der Sohn ohne Vater auskommen“. Konservative sind bis in die Gegenwart der Auffassung, dass es notwendig sei, den Zusammenhang zwischen Staat und Religion, Politik und Theologie neu zu begründen. Die Vorstellung, dass die Religion der sozialen Integration dient, dass sie besonders geeignet ist, gesellschaftliche Stabilität zu gewährleisten, spielt im konservativen Denken eine zentrale Rolle. Friedrich Schlegel muss
es so empfunden haben, als er in seinem berühmten Aufsatz „Signatur des Zeitalters“ schrieb: „Es ist keine bloße Redensart mehr, dass Religion und Gottesfurcht die einzig festen Grundlagen des Lebens und der Staaten sind; sondern es ist bitterer Ernst…, je klarer es in der Weltgeschichte einleuchtet, dass alles andere, ohne dieses eine, was Not ist, nichts helfen und fruchten will“.
Aus den hier skizzierten Grundlagen wertkonservativen Denkens entspringen die Handlungsmaximen für jeden Einzelnen im Privatleben, in Volk und Staat. Zusammengefasst finden wir sie in den bereits erwähnten klassischen Kardinaltugenden. Sie sind das Maß für ein an Religion, Sitte und Moral orientiertem Leben in unserer postmodernen Zeit. Glaube, Liebe und Hoffnung erfassen die Pflichten gegenüber Gott und dem Mitmenschen. Nächstenliebe (nicht die heute gemeinte, gleichmacherische „Fernstenliebe“), Hilfsbereitschaft, Barmherzigkeit, Fürsorge und die Bereitschaft, vergeben zu können, stehen in ihrem Mittelpunkt; ebenso wie die Treue und der Gehorsam gegenüber Gottes Wort und Gebot. Weisheit (Klugheit), Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit stellen das Individuum in Beziehung zur Gemeinschaft, in erster Linie zur eigenen Familie und dem eigenen Volk und Vaterland und zeigen die grundlegenden Pflichten ihnen gegenüber auf. Hieraus fließen weitere Tugenden wie Sparsamkeit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Redlichkeit, Rechtsachtung, Fleiß, aber auch Gewissenhaftigkeit, Disziplin, Ordnungsliebe und Anstand sowie die Anerkennung einer sittlich begründeten Autorität in der Familie wie auch im Staat. Die Bereitschaft, das Gemeinwesen im Notfall ehrenvoll und tapfer zu verteidigen, setzt
eine innere, emotionale Bindung an das eigene Volk mit seinen Traditionen sowie Heimat und Vaterland voraus. Diesem konservativen Wertekanon können problemlos weitere Aspekte hinzugefügt werden. Der Leser möge sich aufgefordert fühlen, dies aus der eigenen Sicht zu tun.
Die vorliegende Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zeigt aber die Grundlagen auf, mit deren Hilfe die lang erwartete und dringend notwendige „moralische Wende“ in Volk und Staat eingeleitet werden kann.
Preußen – ein Vorbild für die Erneuerung des sittlichen Bewusstseins?
Friedrich der Große schrieb: „Nichts ist wahrer und handgreiflicher, als dass die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn ihre Mitglieder keine Tugend, keine guten Sitten besitzen. Sittenverderbnis, herausfordernde Frechheit des Lasters, Verachtung der Tugend und derer, die sie ehren, Mangel an Redlichkeit im Handel und Wandel, Meineid, Treulosigkeit, Eigennutz statt Gemeinsinn – das sind die Vorboten des Verfalls der Staaten und des Untergangs der Reiche. Denn sobald die Begriffe von Gut und Böse verworfen werden, gibt es weder Lob noch Tadel, weder Lohn noch Strafe mehr.“ „Tugend und gute Sitten“ in preußischem Sinne, was sind sie und wie wirken sie? Preußische Tugenden, wie sie heute wieder häufiger erwähnt werden, sind volkstümlich, ein moralisches Wertesystem, das sich historisch entwickelt hat und unverwechselbar ist. Preußische Tugenden zu kennen und zu verstehen heißt: die preußische und deutsche Geschichte zu kennen. Wie können wir sie heute für unser sittliches Handeln fruchtbar machen? Konservativ denken heißt, historisch denken. Gelingen muss eine „virtuelle Kraftübertragung“ (Hans-Joachim-Schoeps) aus der Vergangenheit in die Zukunft. Dabei geht es nicht um unkritische Übernahme. Kein Staat, keine menschliche Ordnung ist vollkommen, ohne Fehler und Irrtümer. Es geht vielmehr darum, die Geschichte zu untersuchen, um auf der einen Seite das Bewahrungswürdige zu erhalten und auf der anderen Seite das Überlebte, „Schlechte“ und Irrtümliche auszusondern bzw. zu verbessern. Hierzu bedarf es der moralischen Urteilskraft. Sie setzt sittlich fundierte Erziehung und Bildung voraus. Wir benötigen Bilder und Begriffe und vor allem Vorbilder, die wir in unserer eigenen Geschichte aufsuchen müssen und können. Werte werden von Generation zu Generation durch Erziehung übertragen. Erziehung wirkt in erster Linie durch vorbildliches Verhalten. Wie im vorhergegangenen Abschnitt gezeigt, setzt Erziehung die fundamentalen menschlichen Gemeinschaftsordnungen voraus: Familie und Volk, welche identitätsstiftend sind und über ein geordnetes Staatswesen als schützende und bewahrende Ordnungsmacht verfügen.
Das Volk als historische Schicksalsgemeinschaft ist wertestiftend. Aus gemeinsamer Geschichte und Schicksal entwickeln sich gemeinsame Tugend und Moral, nicht umgekehrt. Wie das Recht, so werden auch Tugend und Moral nicht gemacht, sondern aufgefunden (E. L. v. Gerlach). Sittlichkeit ist universales Kennzeichen idealen menschlichen Lebens (Kant) und Fundament des Volkes. Hierbei geht es aber nicht um abstrakte Begriffe, sondern um lebenswirkliches Handeln. Grundthemata preußischer Moralität sind Gottesfurcht, Pflicht, Dienst, Rechtlichkeit und Vaterlandsliebe, Fleiß, Demut und Bescheidenheit. Angelegt sind sie im germanisch-deutschen Wesen, herausgebildet in unserer Geschichte, besonders in Preußen, dem „deutschesten aller Staaten“ (W. Dilthey). Tugenden haben ein Handlungsziel und stehen nicht im luftleeren Raum: nicht das Ich, sondern Gott, König, die Gemeinschaft, Ehe, Familie, Volk und Staat sind Ziel tugendhaften und sittlichen Handelns in preußischem Sinne. Das, was sich als preußisches Staatswesen historisch entwickelt hat, basiert auf der mittelalterlichen Kolonisations- und Kulturleistung des Deutschen Ordens und der Zisterzienser mit der Ausbreitung und Sicherung des Christentums im Zentrum. Bis in die Neuzeit entstand ein Staatsgefüge mit straffer Führung, Zucht, Arbeitsamkeit, Disziplin, Entbehrung und Rechtschaffenheit. Die Staatsbildung des Deutschen Ordens und später Brandenburg-Preußens fand unter ständiger Bedrohung des zerrissenen Staatsgebietes inmitten Europas statt. Die handelnden Menschen empfanden „Auftrag und Berufung“ des Einzelnen für Christenheit, Kirche und Reich. Dabei ordneten sie das „Ich“ unter und stellten die Sorge um die Bedürftigen und Kranken in den Vordergrund. Eine gleichmäßige Verteilung von Pflichten und Rechten war unabdingbar, ebenso wie die Bildung einer staatstragenden Elite, die sich aus Eignung und Leistung rekrutierte. Bereits im Werk des Deutschen Ordens bildete sich das heraus, was später den „preußischen Lebensstil“ ausmachte. Herausragend wurde später die Rolle der Fürsten und Könige Preußens aus dem Hause Hohenzollern.
Ihre Staatsschöpfung stellten sie unter das Ethos des Dienstes, der Idee des Rechtsstaates und der Toleranz. Dieser letztere Begriff bedarf der kurzen Erläuterung, da er heute in vielen Fällen missbraucht wird. Toleranz im preußischen Sinne bedeutete die Achtung des menschlichen Gewissens, das Gott unmittelbar und persönlich verantwortlich ist. In erster Linie gilt dies für das religiöse Bekenntnis und das daraus fließende moralische Handeln des Einzelnen. Keinesfalls war damit die Gleichgültigkeit gegenüber unsittlichem Verhalten gemeint oder gar seine Duldung, wie heute allgemein üblich ist. Diese „Dreieinigkeit“ der preußischen Tugenden war verkörpert in vielen der preußischen Herrscher, besonders im Großen Kurfürsten, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., Friedrich dem Großen und Wilhelm I. In ihrem persönlichen Leben wurden sie zu echten Vorbildern für das Volk. Den Auftrag des Herrschertums mit seiner Autorität begriffen die preußischen Monarchen aus dem christlichen Glauben heraus. Nicht Genuss des Besitzes war der Maßstab – wie bei vielen anderen zeitgenössischen Potentaten – sondern die Verwaltung des Erbes als „treue Hauswirte“, als Landesväter, in beständiger Sorge für das Volk („Landeskinder“) mit dem Ziel der Schaffung und Bewahrung eines gemeinsamen Vaterlandes. Die Monarchen gaben als treue Ehemänner und sorgende Familienväter mit vorbildlichem Lebenswandel das Vorbild, an dem sich jeder Untertan als „Hausvater“ mit seiner Familie ausrichten konnte. Das von den Herrschern empfundene „Gottesgnadentum“ entsprang weder eitler Anmaßung noch Überheblichkeit, im Gegenteil: es galt der Grundsatz, dass jede Staatsordnung um des Volkes Willen da ist, nicht umgekehrt.
Weder der Volkswille war souverän, noch der König die Quelle der Autorität. Der König war nicht Herrscher aus eigener Machtvollkommenheit, sondern aufgrund der Gnade Gottes und damit dessen Gericht unterworfen. Die monarchische Macht war durch Gottes Gebot und das Sittengesetz begrenzt; dies begründete das preußische Dienst- und Amtsethos. Die strenge religiöse Pflichtauffassung des Soldatenkönigs im Geist der reformierten evangelischen Konfession ist sprichwörtlich geworden. Seine zuweilen naive Frömmigkeit kannte gleichwohl tiefe Redlichkeit und Sparsamkeit in der persönlichen Lebensführung. Seine patriarchalische Auffassung vom Herrscheramt forderte zuerst harte Zucht und Disziplin gegen sich selbst, dann von der eigenen Familie und zuletzt auch vom Volk. Streng, bisweilen strafend war er, doch auch fürsorglich und vergebend. Seine religiöse Duldsamkeit verleugnete nicht das eigene Bekenntnis. Echte Humanität bewies er in der treuen Fürsorge für die Bedürftigen und in Not Geratenen – nicht nur im Falle der vielen Glaubensflüchtlinge, denen er Obdach und neue Heimat gab. Weitgehend vergessen sind heute die Warnungen des Soldatenkönigs vor der Führung ungerechter Kriege, die er seinen Nachfolgern testamentarisch weitergab.
Bezeichnend für Preußen wurde die Entwicklung des Beamtentums und des Offizierkorps als staatstragende Elemente, ausgehend von dem Selbstverständnis des preußischen Adels im Geiste der Loyalität, des Dienens und der Pflichterfüllung („Mit Gott für König und Vaterland“). Genoss der preußische Adel Privilegien, so verdiente er sich diese im wahrsten Sinne des Wortes mit aufopfernder Pflichterfüllung in der Armee – eine Haltung, die später auch auf das Bürgertum überging. Das preußische Offizierskorps bewies stets höchste Opferbereitschaft für König, Volk und Staat. Der Waffendienst wurde als Ehrendienst aufgefasst. Ritterlichkeit, Kameradschaft, Gehorsam, Tapferkeit und Disziplin – symbolisiert im „Eisernen Kreuz“ – waren unbestrittene Soldatentugenden. Das beispielhafte Vorangehen der Offiziere in den Pflichten im Frieden und insbesondere auf dem Schlachtfeld war selbstverständlich. Hier gründet das Ethos des deutschen Soldatentums, welches sich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder bewährt hat und bis heute weltweit geachtet ist (außer im eigenen Land).
Sauberkeit, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Fleiß zeichnete die preußische Verwaltung aus. Tugenden, die erst in jüngster Zeit als „autoritär“ diskreditiert und in die zweite und dritte Reihe verwiesen wurden. Loyalität und Ehrlichkeit waren die grundlegenden Ehrbegriffe des Beamtentums. Hielten sich die Beamten des Soldatenkönigs nach Beendigung der Arbeit noch in ihren Diensträumen auf, wurde es als Ehrenpflicht angesehen, die „staatlichen“ Talglichter zu löschen und private anzuzünden. Ein Vergleich mit heutigen Zuständen in der öffentlichen Verwaltung hinsichtlich der ausufernden Korruption und Verschwendungssucht auf allen Ebenen erübrigt sich.
Der „Mannesmut vor Königsthronen“ kennt in Preußen viele eindrucksvolle Beispiele. Ganz im Gegensatz zu dem heute behaupteten „Kadavergehorsam“ der preußischen Armee bewiesen gerade subalterne Offiziere immer wieder den Mut zur Widerrede und zum Widerstand, wenn ihr Gewissen das Recht und die Soldatenehre verletzt sah. An dieser Stelle sei nur an das Beispiel des friderizianischen Generals Johann Friedrich Adolf von der Marwitz erinnert, der im Jahre 1760 dem Befehl seines Königs nicht nachkam, das Schloss Hubertusburg (Wermsdorf/Schlesien) zu plündern, sondern seinen Abschied mit den Worten begehrte, dies schicke sich „allenfalls für Offiziere eines Freibataillons, nicht aber für den Kommandeur von seiner Majestät Gendarmes.“ Eine Haltung, die begründet war in der christlichen Auffassung vom Wert des Einzelnen sowie im „Königtum“ des Familienvaters (E. L. v. Gerlach), das den Mann dem König moralisch gleichstellt. Die Pflicht des Gehorsams gegen Gott begrenzte die Autorität. Diese Selbsterkenntnis entsprang dem Bewusstsein, als Mensch ein irrtumsfähiges, begrenztes und sündhaftes Wesen zu sein. Hieraus ergab sich eine tiefe Demut vor Gott und den Menschen sowie Bescheidenheit in der gesamten Lebensführung.
Aus seiner Zeit heraus begriffen war Preußen zweifellos ein Rechtsstaat, der den Einzelnen mit seinen Rechten gegen Willkür der Obrigkeit in Schutz nahm. Beispielgebend für ganz Europa war das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794. Die Gleichheit vor dem Gesetz galt für alle Bürger des Staates – einschließlich des Königs, der sich als dessen „erster Diener“ (Friedrich der Große) begriff. Die Justiz war unabhängig, nur dem Gesetz unterworfen und entschied in vielen Fällen auch gegen den Monarchen zugunsten der Untertanen. Der berühmte Fall des Müllers Arnold aus dem Jahre 1779 belegt dies in eindrucksvoller Weise. Friedrich der Große verfügte damals: „Denn ich will, dass in meinen Landen einem jeden, er sei vornehm oder gering, prompte Gerechtigkeit widerfahre, und nicht zum Graveur eines
Größeren gedrückt, sondern einem jeden ohne Unterschied des Standes und ohne alles Ansehen der Person eine unparteiische Justiz administriert werden soll.“ Gleichwohl fanden die Individualrechte ihre Begrenzung in den Erfordernissen der Gemeinschaft und dem Wohl des Staatswesens. Staats- und Gesetzestreue wurde von jedem Bürger gefordert. Der preußische Staatsrechtler Karl Ludwig von Woltmann schrieb im Jahre 1810: „Darin besteht die höchste Weisheit einer Gesetzgebung und Regierung, dass sie den Punkt ausmittelt, wo der Individuen Freiheit mit dem gegen sie notwendigen Zwang zusammentrifft; und ohne diese Weisheit, wenigstens das annähernde Streben nach ihr, ist weder echte Liberalität, noch wirkliche Ordnung der Staatsverwaltung möglich.“ Vom Geist solcher Weisheit sind viele Spuren in den Urkunden der neuen Organisation des Preußischen Staates, und ihre Grundeigenschaft ist die Tendenz nach Verbindung der freien Entwicklung der einzelnen Individualitäten mit dem schützenden Zwang der Einheit für die Gesamtheit. Doch die
Gleichheit vor Gott und vor dem Gesetz bedeutete nicht die heute übliche „Gleichmacherei“ in allen Dingen. Bestimmend war vielmehr das „Suum Quique“ des Schwarzen Adlerordens. Jedem sollte „das Seine“ nach individueller Eignung und Leistung unter Beachtung der natürlichen Unterschiede zukommen. Dementsprechend teilten sich Pflichten und Rechte im Sinne des ständischen Gedankens zu, wobei Geburt nicht allein bestimmend war. Friedrich der Große betonte: „Es ist die Pflicht jedes guten Staatsbürgers, seinem Vaterland
zu dienen und sich bewusst zu sein, dass er nicht allein auf der Welt ist, sondern zum Wohle der Gesellschaft beizutragen hat, in die ihn die Natur gesetzt hat.“
Die Reformfähigkeit des preußischen Gemeinwesens bewies sich nach 1806 in Zeiten größter Not. Der König berief mit Männern wie Stein, Hardenberg, Gneisenau und Scharnhorst die herausragendsten und fähigsten Persönlichkeiten ganz Deutschlands an die Spitze von Verwaltung und Heer. Die Erneuerung konnte nur gelingen unter Verzicht und Hintanstellung der Interessen Einzelner und von Gruppen im Sinne des Gemeinwesens. Alle Kräfte des Volkes wurden unter größten Anstrengungen zur Überwindung der Krise gebündelt. Welches Vorbild könnte in der heutigen Lage unseres Vaterlandes geeigneter sein? Eine der herausragenden Leistungen der Reformer war sicher die Begründung der allgemeinen Wehrpflicht. Jeder Staatsbürger sollte sich als „geborener Verteidiger seines Vaterlandes“ (Scharnhorst) empfinden. Die Armee galt als Schule der Nation, welche die geistige und körperliche Ausbildung der männlichen Jugend im Sinne der soldatischen Tugenden der
preußischen Armee betrieb. Im Zuge der Befreiungskriege gegen den Usurpator Napoleon I. und der Deutschen Romantik fand eine Neubelebung der nationalen Gesinnung, angelehnt an die christlich-germanische Staatsidee des Mittelalters statt. Preußen wurde unter Aufnahme dieser Ideale zur bestimmenden Kraft im Streben nach der Einheit Deutschlands bis 1871. Bismarck machte die preußische Gesinnung und die preußischen Tugenden bewusst zum Fundament der deutschen Einigung. Das Deutsche Reich stieg unter Preußens Führung in mehr als vierzig Friedensjahren zur führenden sittlichen Kraft Europas auf mit Spitzenleistungen in Bildung, Kultur und Wirtschaft – nicht zuletzt durch den Ausgleich divergierender Kräfte in Staat und Volk – verbunden mit der Grundlegung des sozialen Elementes nach dem Prinzip der Verantwortlichkeit und Subsidiarität.
Dieser skizzenhafte Umriss preußischer Moralität und Tugend, die sich in der Geschichte bewährte, mag genügen, um anzudeuten, welchen Schatz es für uns heute zu heben gilt. Die Zerschlagung Preußens im Jahre 1947 galt nicht dem angeblichen „Hort des Militarismus und der Reaktion“. An diese lächerliche Begründung glaubten schon damals selbst die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges nicht, denn unzählige Quellen belegen, dass noch Ende des 19. Jahrhunderts Preußen besonders in den angelsächsischen Ländern als Vorbild galt. Vielmehr sollte mit Preußen ein Hort der Sittlichkeit und des Rechtes zerschlagen werden, dessen Geist der geplanten „Umerziehung“ des deutschen Volkes im Wege stand. Heute, nach dreiundsiebzig Jahren, können wir beurteilen, welche Folgen diese Unrechtstat gezeitigt hat. Uns und den nachfolgenden Generationen Deutschlands ist es aufgegeben, dieses Erbe neu zu entdecken und in zeitgemäßer Form wiederzubeleben. Hierzu bedarf es einer Bewegung „von unten“ und „von oben“. „Von unten“ durch eine Wiederverankerung konservativer Werte und Tugenden in Familie und Schule durch vorbildhafte Erziehung und Bildung. „Von oben“ durch eine Elite, die in Politik, Kultur und Staat erneut moralische Maßstäbe setzen kann. In beiden Fällen sind deutsche Männer und Frauen gefragt, die sich den in diesem Beitrag beschriebenen sittlichen Idealen verpflichtet fühlen und bereit sind, sie vorzuleben. Dies alles verspricht kein leichtes Leben, wie es tagtäglich die Medien in Film und Werbung propagieren; kein faules Ausruhen auf dem, was vorangegangene Generationen erarbeitet haben und schon gar kein Leben „auf Pump“. Gefordert sind von uns in allererster Linie Pflichterfüllung gegenüber Volk und Vaterland, harte tägliche Arbeit und so mancher Verzicht auf liebgewonnene Bequemlichkeit. Nur auf diese Weise kann es gelingen, die tiefe Krise unseres Vaterlandes zu überwinden. Dazu helfe uns Gott.