Erschienen in der Schweizer Publikation „Zeitgeschehen im Fokus“ am 25.4.2024
Sie haben an einer Anhörung vor dem Uno-Sicherheitsrat am 25. März 2024 teilgenommen. Was waren die Themen?
Professor Dr. Alfred de Zayas Hauptthema waren die Unilateral Coercive Measures (UCM, einseitige Zwangsmassnahmen), die die USA, Kanada, Grossbritannien und die Europäische Union gegen ein Drittel der Weltbevölkerung verhängen. Die Mehrheit der anwesenden Staaten hat solche Massnahmen als illegal bezeichnet, weil sie die Souveränität der Staaten angreifen und inkompatibel mit der Uno-Charta sind. Die westlichen Staaten versuchten, die Debatte in eine andere Richtung zu lenken, nämlich auf den Kampf gegen den Terrorismus, und dies als Vorwand, um UCM – die sie fälschlich als «Sanktionen» bezeichnen – zu rechtfertigen. Es dauerte nicht lange, bis klar wurde, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Unilateralen Zwangsmassnahmen überhaupt etwas mit Terrorismus zu tun haben, denn die meisten UCM werden schlicht und einfach als Waffe beziehungsweise vermeintliche «Strafe» gegen Staaten verwendet, die nicht das tun, was die USA und die EU befehlen. Sie werden bewusst eingesetzt, um Staaten zu destabilisieren, Chaos und humanitäre Krisen herbeizuführen, in der Hoffnung, dass die von UCM betroffenen Regierungen fallen. Sie sind Ausdruck des neuen Imperialismus beziehungsweise des Neo-Kolonialismus des 21. Jahrhunderts.
Welche Staaten haben daran teilgenommen? Waren die Veto-Mächte USA, Grossbritannien und Frankreich auch anwesend?
Alle Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats waren dabei, auch die fünf Veto-Mächte. Ausserdem waren etliche Uno-Mitgliedsstaaten anwesend, und die meisten haben deutlich gegen die UCM Stellung genommen, unter anderem Guyana, Sierra Leone, Mosambik, Algerien, Kuba, Sri Lanka, Syrien, Venezuela und so weiter.
Haben sich die Veto-Mächte auch geäussert?
Es waren Parallelwelten. Während die meisten Staaten darlegten, dass diese UCM fundamentale Prinzipien der Uno-Charta verletzten und humanitäre Krisen überall in der Welt verursacht hätten, vertraten die Botschafter der USA, Grossbritanniens, Frankreichs und Maltas dieselben falschen Argumente, die in früheren Berichten des Uno-Generalsekretärs und der Uno-Rapporteure verurteilt worden waren. Insofern gab es keine Debatte, sondern jede Delegation verlas den Text, der in den jeweiligen Hauptstädten genehmigt worden war. Die Beweise, dass UCM die Menschenrechte in grossem Stil verletzen, wurden vom gesamten Westen ignoriert. Ein klassischer Dialog der Gehörlosen. Einfach surrealistisch.
Die EU hat mit den USA bereits das fünfzehnte Sanktionspaket gegen Russland geschnürt. Bedauerlicherweise hat sich die Schweiz den Sanktionen angeschlossen. Welche völkerrechtliche Grundlage haben diese Sanktionen?
Wir haben es hier mit einem orwellschen Missbrauch der Sprache und der Begriffe zu tun. Das Wort «Sanktion» impliziert, dass der Staat, der sie verhängt, eine legale Berechtigung dazu besitzt, dass der Staat sozusagen das Recht hat, andere Staaten zu «bestrafen». So wird die brachiale Gewaltanwendung quasi legitimiert. Diese einseitigen Zwangsmassnahmen sind keine «Sanktionen», und sollen nicht als Sanktionen weissgewaschen werden. Die einzigen «Sanktionen», die im Völkerrecht als Sanktionen gelten, sind jene, die durch den Sicherheitsrat verhängt werden; insofern sind sie inkompatibel mit der Uno-Charta und mit allgemeinen völkerrechtlichen Prinzipien wie der Souveränität der Staaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Eigentlich stellen sie eine Verletzung des Artikels 2, Absatz 4 der Uno-Charta dar, die jede «Gewaltanwendung» verbietet – nicht nur die militärische Gewalt. Tatsächlich, wenn die Uno-Charta über militärische Gewaltanwendung spricht, ist das Wort «militärisch» immer dabei. Es gibt keinen Grund dafür, die Tragweite des Gewaltverbotes im Artikel 2 (4) der Uno-Charta nur auf Kriege zu beschränken. Der Artikel spricht weder vom Krieg noch von militärischer Gewaltanwendung – jede Gewalt wird verboten. Dies wird auch im Artikel 2 (3) der Charta deutlich. Es geht um die Verpflichtung, Differenzen durch friedlichen Dialog beziehungsweise durch Kooperation und Kompromiss zu schlichten. Zweifelsohne stellen UCM eine illegale Gewaltanwendung dar, die manchmal viel mehr Opfer verursacht als militärische Auseinandersetzungen. Ausserdem verstossen UCM gegen etliche völkerrechtliche Verträge sowie auch gegen das Völkergewohnheitsrecht, das Missachten der Freiheit der Meere, der Freiheit des Handels, des Verbots der Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten und so weiter.
Die Uno-Völkerrechtskommission hat einen Kodex über die Verpflichtungen der Staaten im Jahre 2001 angenommen (Code on Responsibility of States).¹ Die einzigen legalen unilateralen Zwangsmassnahmen sind nach Art. 49-50 festgelegt – «Retorsion» und «Countermeasures» (Vergeltung und Gegenmassnahmen). Diese sind aber an sehr genaue Bedingungen geknüpft, die bei den US- und EU-Gewaltmassnahmen nicht erfüllt werden. Die EU- und US-«Sanktionspakete» erfüllen die Kriterien nicht und können daher weder als Retorsion noch als Countermeasures legitimiert werden.
UCM haben extra-territoriale Effekte, die völkerrechtswidrig sind. Wie immer liegt das Problem darin, dass die Uno ihre Resolutionen nicht durchsetzen kann. Dutzende Male sind UCM von der Uno-Generalversammlung und dem Uno-Menschenrechtsrat als «illegal» bezeichnet worden. Dutzende Male sind die Staaten aufgefordert worden, keine solchen Massnahmen zu verhängen oder umzusetzen. In der Tat besteht eine allgemeine Verpflichtung aller Uno-Staaten, Widerstand gegen UCM zu leisten. Aber die meisten Staaten haben Angst vor den USA und der EU und beugen sich.
Trotz der eindeutigen Ablehnung durch die Weltgemeinschaft (ausser den USA und ihren Vasallen), trotz Berichten der Uno-Sub-Kommission für Menschenrechte, des Menschenrechtsrats und der Uno-Rapporteure werden sämtliche Uno-Resolutionen von den USA und ihren Vasallen missachtet. Dies unterminiert die Autorität und Glaubwürdigkeit der Uno. Es bedeutet eine offene Rebellion gegen die Rechtsstaatlichkeit und das Völkerrecht selbst.
Man hört immer wieder, dass die EU oder die USA das Völkerrecht bestimmen könnten. Kann man dieser Argumentation zustimmen?
Das Völkerrecht ist per definitionem das Recht der Völker. Es besteht aus bilateralen und multilateralen Verträgen, Konventionen, Protokollen und dem Völkergewohnheitsrecht, das die USA und die EU systematisch verletzen. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten die USA und Europa die Regeln. Dies aber ist mit der Uno- Charta als quasi Welt-Verfassung geändert worden, auch wenn die USA und Europa weiterhin jene Paragraphen der Charta systematisch missachteten und weiterhin missachten, wenn diese nicht in das geopolitische Kalkül passen. Heute spielen China, Indien, Indonesien, Südafrika, Brasilien und Mexiko eine zunehmend wichtige Rolle. Die Hegemonie des Westens besteht nicht mehr, aber die Politiker in Washington, Ottawa, London, Paris und Berlin haben dies offensichtlich noch nicht begriffen.
Sie sagten bei Ihrem Statement vor dem Uno-Sicherheitsrat «einseitige Zwangsmassnahmen bringen Menschen um». Können Sie erklären, wie Sie das meinen?
Diese illegalen einseitigen Zwangsmassnahmen haben bereits Hunderttausende Menschen in vielen Staaten getötet – in Kuba, Iran, Nicaragua, Sudan, Syrien, Venezuela und Zimbabwe. Die UCM haben die Wirtschaft von vielen Staaten lahmgelegt und dadurch Mangel an lebensnotwendigen Arzneimitteln, medizinischer Ausrüstung, Nahrungsmitteln und so weiter verursacht. Es sind Menschen verstorben, weil die Spitäler keine Medizin hatten, weil es kein Insulin, keine antiretroviralen Mittel, keine Dialyseapparate, kein Anästhesiemittel gab – oder nicht genug oder nicht sofort. Menschen sind an Pandemien wie Covid-19 verstorben, die hätten gerettet werden können, wenn sie Beatmungsgeräte gehabt hätten. Menschen sind an Cholera verstorben, weil die Trinkwasseraufbereitung durch Sanktionen unmöglich geworden war, weil die allgemeine Sanitätsvorsorge ausgefallen war. Viele Menschen sind schlicht und einfach verhungert, vor allem Kinder und Greise. Dies ist durch nationale und internationale Untersuchungen belegt worden.
Wenn UCM eine Verletzung der Uno-Charta bedeuten, und wie Sie gerade eindrücklich erklärt haben, aller Prinzipien der Uno-Charta sowie des Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Pakts über wirtschaftlich, soziale und kulturelle Rechte entgegenstehen, warum sind die Länder, die mit diesem Instrument arbeiten – vor allem oder gar ausschliesslich der Westen – noch nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden?
Es gibt keine effektiven Uno-Mechanismen, um Rechenschaft von diesen Staaten zu verlangen. Zweifelsohne stellen UCM ein «Verbrechen gegen die Menschheit» im Sinne des Artikels 7 des Statuts von Rom dar. Im Februar 2020 hat Venezuela eine offizielle Klage bei der damals amtierenden Staatsanwältin, Fatou Bensouda, beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht.² Der Fall wurde eingetragen. Aber als der neue britische Staatsanwalt im Jahre 2022 das Amt übernahm, liess er diese Untersuchungssache fallen. Wie ich in meinem Buch «The Human Rights Industry»³ (die Menschenrechtsindustrie) dokumentiere, stehen viele Uno-Institutionen im Dienste des Westens, unter anderem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, engl. ICC).
Es gibt aber einen Hoffnungsschimmer. Endlich bäumen sich Staaten in Lateinamerika, in Afrika und in Asien gegen die Hegemonie des Westens auf. Die neuen Fälle vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel⁴ (auch mit der Unterstützung einiger westlicher Staaten wie Irland⁵), der Fall Nicaraguas versus Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof,⁶ die Apartheid-Untersuchung gegen Israel,⁷ die Berichte der Sonderberichterstatterin Francesca Albanese,⁸ die Fälle gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof,⁹ die eine breite Unterstützung von vielen Staaten haben, signalisieren eine gewisse Zäsur, eine Wasserscheide.
Ich selber habe vor dem Sicherheitsrat am 25. März argumentiert, dass die höchsten juristischen Instanzen der Uno eine Verpflichtung der Weltgemeinschaft gegenüber haben, klaren Wein einzuschenken und nicht mehr eine Jurisprudenz im Dienste des Westens zu betreiben, sondern objektiv und unparteiisch Recht zu sprechen.
Ich habe in meinen Berichten bereits als Uno-Sonderberichterstatter von 2012 bis 2018 gefordert, dass die Generalversammlung eine Resolution gemäss Art. 96 der Uno-Charta annimmt und die Frage der Illegalität von einseitigen Zwangsmassnahmen vor den Internationalen Gerichtshof bringt. Die Illegalität ist bereits von etlichen anderen Instanzen konstatiert worden, aber der Internationale Gerichtshof sollte dies feststellen und die Summe der Reparation, die die USA und EU an die Opferstaaten leisten müssen, quantifizieren.
Welche Bedeutung hat die Uno-Charta, wenn sie durch Verhängen von Sanktionen ständig ignoriert wird?
Man muss feststellen, dass der Westen dabei ist, das Völkerrecht zu unterminieren – und zwar in vielen Gebieten, nicht nur bezüglich UCM. Die USA und EU haben bereits enormen Schaden an der Autorität und Glaubwürdigkeit der Uno angerichtet. Die 400-jährige Entwicklung des westlichen Völkerrechts seit Francisco de Vitoria und Hugo Grotius ist im Spiel. Denn, wenn die westlichen Staaten ein schlechtes Beispiel geben, so werden die anderen Staaten auch so handeln. Mit anderen Worten, wir steuern in eine Dimension ohne verbindliches Recht, denn der Westen ist dabei, diese Rechtsordnung der Uno-Charta zu zerstören. Immerhin hat die Uno-Charta die Bedeutung, die wir ihr geben. Wir, die Zivilgesellschaft, müssen verlangen, dass unsere demokratisch gewählten Vertreter das tun, was wir wollen, und nicht, was die Lobbys der Waffenindustrie, was die Lobbys der Pharma-industrie wollen. Wir müssen unseren Regierungen klar machen, dass Schluss mit den Verbrechen gegen die Menschheit sein muss, die unsere Regierungen in unserem Namen begehen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Demokratien als solche funktionieren. Wir leben aber in autoritären Staaten. Nur unsere Medien behaupten, wir seien Demokratien. Da lachen ja die Hühner!
Sie empfehlen das Buch von Jeffrey Sachs «The Price of Civilization». Warum? Was sind seine Aussagen darin?
Professor Jeffrey Sachs von der Columbia University in New York ist seit 2000 Sonderberater für die Millennium Goals beziehungsweise Sustainable Development Goals. Er hat die Uno-Generalsekretäre Kofi Annan, Ban Ki-moon und António Guterres beraten. Sachs hat viele Bücher geschrieben, unter anderem auch «The End of Poverty». Aber noch wichtiger vielleicht sind seine Auftritte in den Mainstream-Medien. Er ist einer der wenigen, der es sich leisten kann, den Mächtigen die Leviten zu lesen.10 Dies tut er mit Fakten und Logik. Ich kenne ihn seit Jahren und korrespondiere mit ihm beinahe jede Woche. Sachs will Frieden und Gerechtigkeit – Pax et Iustitia – und argumentiert besser als alle, die ich kenne. Weitere starke Vertreter der Rationalität in internationalen Beziehungen sind Professor John Mearsheimer, Professor Richard Falk, Professor Stephen Kinzer, Professor Francis Boyle.
Die Professoren Jeffrey Sachs und Alfred de Zayas (Bild zvg)
Warum kann sich Jeffrey Sachs das leisten, während ein anderer ignoriert oder diffamiert würde?
Ich zum Beispiel kann es mir nicht leisten. Ich werde von etlichen Mainstream-Journalisten ignoriert, manchmal sogar diffamiert. Jeffrey Sachs ist ein «Harvard Boy» – ähnlich wie Henry Kissinger. Er war sehr jung in das «linke Establishment» integriert und hat etliche Bücher geschrieben, denen das «Establishment» seinerzeit applaudierte. Irgendwann in den 90er Jahren hat er eine «Epiphanie» erlebt, als er ganz allmählich begriff, was für ein Spiel gespielt wurde, wer die Spieler waren, welche Regeln galten und weshalb. Es geschah erst in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts, dass er in etlichen Schriften «rebellierte». Bei mir hat es auch Jahrzehnte gedauert, bis ich begriff, dass man mich systematisch belogen hatte, dass unsere «Demokratie» keine ist, dass diejenigen, die gewählt werden, nicht regieren, und dass diejenigen, die uns regieren, nie gewählt worden sind. Jeffrey Sachs hat aber auch «Mobbing» erlebt, und er schreibt nicht mehr so oft in der New York Times und Washington Post. Man versucht, ihn zu marginalisieren. Bei mir war es einfacher, denn ich war niemals so berühmt oder wurde so hofiert wie Jeff. Früher schrieb ich im Harvard International Law Journal, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, im Spiegel, in der Welt, in der Tribune de Genève, heute nicht mehr.
Sie gehören zur Gilde der unbestechlichen Völkerrechtler. Sie haben namhafte Bücher geschrieben, die seinerzeit auf der Bestsellerliste standen, waren lange Jahre Uno-Beamter und unabhängiger Uno-Experte mit viel positivem Echo. Ihr Mandat wurde damals um weitere drei Jahre verlängert. Es ist schon unglaublich, wie man mit Intellektuellen Ihres Formates verfährt. Hat irgendeine der erwähnten Zeitungen Farbe bekannt?
Nein. Ich glaube, dass ich verstehe, wie das Spiel gespielt wird. Bei den grösseren Professoren wie Jeff Sachs, Noam Chomsky, John Mearsheimer, Francis Boyle, Dan Kovalik und Richard Falk müssen die Medien ein Mindestmass an Anstand zeigen. Bei weniger bekannten Personen können sie es sich leisten, diese schlicht und einfach zu ignorieren. Ich bekomme keine Antworten auf meine Anfragen. Vielleicht haben sie meine E-Mail-Adresse schon vor Jahren blockiert beziehungsweise auf die Spamliste gesetzt.
Umso höher ist es Ihnen anzurechnen, dass Sie sich unermüdlich für ein friedliches Zusammenleben auf der Grundlage des Völkerrechts und der Menschenrechte einsetzen. Woher kommt diese Kraft?
Im Oktober 2013, als ich in Harvard weilte, habe ich Noam Chomsky in seinem Büro am Massachusetts Institute of Technology eine ähnliche Frage gestellt. Ich hatte gerade eine völkerrechtliche Lesung in Harvard gehalten und nahm die Gelegenheit wahr, Chomsky zu besuchen. Ich fragte ihn «Noam, Sie schreiben überzeugende Analysen des Weltgeschehens seit fünf Jahrzehnten, aber die Welt wird immer verrückter. Verzweifeln Sie nicht an der Menschheit?» Er antwortete ganz ruhig «Man tut, was man kann», und dann fügte er mit Nachdruck hinzu «und was man muss».
Wie könnten aktuelle Entwicklungen wie in Gaza oder in der Ukraine verhindert werden?
Die Gaza-Tragödie ist nicht die erste beziehungsweise die einzige, die der Westen zu verantworten hat. Die Kriege gegen Vietnam, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien waren alle vermeidbar. Aber es gibt zu viele Politiker und zu viele Lobbys in Washington, Ottawa, London, Paris und Berlin, die den Krieg ersehnen, die mit dem Krieg Geld verdienen. Der sogenannte militärische-industrielle-
«Die meisten Menschen versuchen, Augen und Ohren zuzumachen. ‹See no evil, hear no evil.›
Schade nur, dass ‹we speak evil›». (Bild zvg)
Was wäre in diesem Fall die Aufgabe der einzelnen Staaten, die Mitglieder der Uno sind und die Charta unterschrieben haben?
Die einzelnen Staaten sind alle an die Uno-Charta gebunden, an den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, an den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, an die Konvention gegen die Rassendiskriminierung, an die Konvention über das Recht des Kindes und so weiter. Sie müssen sich an diese Verträge halten und auch dafür sorgen, dass erga omnes Verpflichtungen von allen Staaten eingehalten werden, unter anderem USA, Kanada, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland.
Souveräne Staaten haben in der Generalversammlung die Möglichkeit, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die alle diese Kriege verursacht haben. Sie müssen an den Internationalen Gerichtshof, an den Internationalen Strafgerichtshof appellieren und verlangen, dass die Verbrechen sofort aufhören, dass sie die Provokationen und Eskalationen stoppen. Sie müssen einen Waffenstillstand in der Ukraine und in Gaza verlangen und durchsetzen. Es ist zum Teil eine Frage der echten oder virtuellen Souveränität. Die meisten europäischen Staaten sind gar nicht souverän, vor allem Deutschland nicht. Sie sind Vasallen der USA. Sie verraten die Interessen ihrer eigenen Bürger und belügen sie tagtäglich. Die Worte von Trudeau, Sunak, Macron und Scholz mangeln an Kohärenz, an Logik, an Ethik. Die Worte der Vertreter der USA, Grossbritanniens und Frankreichs waren im Sicherheitsrat am 25. März 2024 eine Zumutung, waren schändlich und surrealistisch. Die Schweiz ist zur Zeit ein Trauerspiel. Die Inkompetenz, die Faux Pas und die Fahrlässigkeit von Ignazio Cassis sind inzwischen legendär. Die Schweiz muss ihre Neutralität, ihre Geschichte und ihre Moral wiederfinden. Aber wann? Als Schweizer Bürger seit 2017 würde ich dies sehr begrüssen.
Wie verlief die Anhörung im Sicherheitsrat und mit welchem Fazit?
Meine elf Minuten dauernde Intervention ist gut angekommen – das heisst bei der Mehrheit der Teilnehmer. Am Ende hat die Moderatorin mir das Wort für das Fazit erteilt. Ich sagte:
«Als ich Völkerrecht an der Universität Harvard studierte, hat uns unser Professor Richard Baxter (später US-Richter am IGH) deutlich erklärt, dass nur der Sicherheitsrat Sanktionen verhängen kann, und dass unilaterale Massnahmen nur in sehr wenigen Situationen legal sind, sich an das Völkerrecht halten müssen und keine extraterritoriale Wirkungen entfalten dürfen. Bei extraterritorialen Wirkungen müsste man sehen, inwieweit die Souveränität anderer Staaten verletzt würde, und welche Konsequenzen solche Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten haben würden. Jedenfalls dürften bestehende Verträge nicht verletzt und keine Menschenrechte tangiert werden. Entstehende Schäden an Dritten müssten wiedergutgemacht werden.»
Ich habe meine Verwunderung zum Ausdruck gebracht, dass sich drei ständige Mitglieder des Sicherheitsrates nicht an das Völkerrecht halten wollen und dass sie behaupten, dass einseitige Zwangsmassnahmen irgendwie durch die angegebene Absicht beziehungsweise das Ziel, andere Staaten zu bewegen, sich an das Völkerrecht zu halten, als rechtmässig erachten. Ich habe sie an Niccolo Machiavellis «Der Fürst» erinnert und gesagt, dass diese Ausrede keinen überzeugen kann, gewiss nicht die Mitglieder der Generalversammlung, die Jahr um Jahr UCM als illegal bezeichnen. Das angegebene Ziel heiligt nicht die Mittel. Ich ging weiter und sagte, dass solche Argumente als orwellsch zu bewerten seien, denn hier wird die Sprache korrumpiert und gegen jede Logik argumentiert. Ich habe noch einmal betont, dass UCM inkompatibel mit der Uno-Charta sind und aufgehoben werden müssen, wie die Generalversammlung und der Menschenrechtsrat es verlangen. Anders ist die Autorität und die Glaubwürdigkeit der Uno – und des Völkerrechts selbst – in Frage gestellt. Ich habe auf meine einschlägigen Berichte an die Generalversammlung hingewiesen und hinzugefügt, dass manche Staaten uns als eine Sammlung von Kassandras betrachten und unsere konkreten, pragmatischen, implementierbaren Vorschläge ignorierten.
Welche weitere Folgen könnte diese Anhörung vor dem Sicherheitsrat eventuell haben?
Ich bin selbst überrascht, dass diese Anhörung überhaupt stattgefunden hat, und dass ausgerechnet ich dazu eingeladen wurde. Das gibt mir einen gewissen Optimismus. Man kann also gewisse Wahrheiten im Sicherheitsrat diskutieren, ohne dass einem das Wort entzogen wird. Natürlich war ich enttäuscht, dass die westlichen Staaten absolut keine Bereitschaft zeigten, zuzuhören und die Probleme ernsthaft zu diskutieren. Die USA, Grossbritannien und Frankreich sprachen, als ob nur sie Recht hätten und die übrige Welt nicht zählte. Diese Arroganz erinnert mich an die Intransigenz der Nato-Staaten in Sachen Osterweiterung und an die Unterstützung der EU-Staaten für den Völkermord in Gaza. Es ist gefährlich, wenn mächtige Staaten keine Moral mehr haben, wenn ihre «Werte» nur noch Scheinwerte sind, wenn sie sich in die eigene Ideologie verfangen und meinen, sie könnten die Sicherheit des Planeten in Gefahr bringen, nur um zu beweisen, dass sie Recht haben. Diese Intransigenz kann zur Apokalypse führen.
Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
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