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Die Lage in der Ukraine im Frühjahr 2024
von Dr. Walter Post
Am 18. Februar 2024 konnte die russische Armee nach monatelangen schweren Kämpfen Awdejewka einnehmen. Awdejewka war ein festungsartig ausgebauter Vorort von Donezk, von dem aus ukrainische Truppen seit 2014 das Zentrum und einige Wohnviertel von Donezk regelmäßig mit Artilleriefeuer beschossen haben. Gleichzeitig nahm Awdejewka im zentralen Frontabschnitt im Donbaß eine wichtige strategische Stellung ein. Die ukrainische Führung hat es versäumt, westlich der Stadt eine strategische Auffangstellung anzulegen, so daß ukrainische Truppen seit der Einnahme ständig improvisieren müssen, um die entstandene große Frontlücke zu schließen. Dabei kam ihnen bisher noch die „Rasputiza“ (Schlammperiode) zu Hilfe, die jetzt aber ihrem Ende entgegen geht. Die russische Armee ist seit der Einnahme von Awdejewka auf insgesamt sechs Achsen vorgerückt (von Süden nach Norden):
Robotyne-Orechow
Marjinka
Awdejewka
Tschassow-Jar
Liman
Kupjansk
Die russischen Truppen gehen zwar nur langsam, dafür aber sehr systematisch vor. Sie besitzen mittlerweile, nachdem die Ukrainer ihre Luftabwehrraketen weitgehend verschossen haben, die Luftherrschaft und fügen den ukrainischen Bodentruppen durch Einsatz von präzisionsgelenkten Gleitbomben schwerste Verluste zu. Diese Gleitbomben werden von den Kampfflugzeugen in der Regel in einer Höhe von 12.000 Metern und Entfernungen von 50 bis 70 Kilometer vor dem Ziel ausgeklinkt, die Flugzeuge sind daher meist außer der Reichweite der wenigen noch vorhandenen ukrainischen Luftabwehrraketen.
Da die russischen Truppen auf den sechs Angriffs-Achsen immer wieder die Schwerpunkte wechseln, sind die Ukrainer, um einen Durchbruch zu verhindern, gezwungen, ihre knappen Reserven ständig hin und her zu schieben, wodurch diese natürlich rasch verschlissen werden. Am 9./10. Mai 2024 eröffnete die russische Armee eine neue Offensive von Norden in Richtung Charkow, wobei sie auf wenig Widerstand stieß und erhebliche Geländegewinne machte. Der Zusammenbruch der ukrainischen Front im Donbaß scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Der Ukraine war es in Vorbereitung ihrer Sommeroffensive 2023 gelungen, einen großen Vorrat an Artilleriegranaten anzulegen, teils durch sparsamen Umgang, teils dadurch, daß die USA einige noch vorhandene Depots wie z.B. in Südkorea geleert haben. Nachdem ein Großteil dieser Vorräte im Verlauf der ukrainischen Offensive verbraucht worden war, hat die russische Artillerie wieder die absolute Oberhand gewonnen. Der „Granatenhunger“ ist für Kiew zu einem ständigen Problem geworden, und nach dem Verbrauch aller Depotbestände hängt die langfristige Versorgung der Ukraine davon ab, inwieweit es gelingt, die Produktion in den USA und Europa auszuweiten. Allerdings scheitert dieses Vorhaben bisher aus drei verschiedenen Gründen:
1.) Die westliche Rüstungsindustrie hat sich viel langsamer entwickelt als erwartet;
2.) selbst die erhöhten Produktionsziele sind zu niedrig, um den Krieg in der Ukraine zu gewinnen; und selbst wenn
3.) ausreichend Munition beschafft werden könnte, hat die Ukraine erheblich Probleme mit der Beschaffung von Ersatzrohren für ihre Artilleriegeschütze.
Das einzige Werk in den USA, das derzeit Artilleriemunition herstellt, ist das „Scranton Army Ammunition Plant“ in Scranton/Pennsylvania. Während dort vor Beginn des Ukraine-Krieges 7.000 Artilleriegranaten Kaliber 155 mm pro Monat produziert wurden, sind es derzeit 35.000. Angestrebt werden 100.000 Artilleriegranaten pro Monat – allerdings kann dieses Ziel frühestens im Oktober 2025 erreicht werden.
Die Europäische Union hatte ursprünglich gehofft, jährlich eine Million Granaten liefern zu können, aber diese Zahl hat sich als völlig utopisch erwiesen. In Deutschland plant die Rheinmetall AG den Bau einer neuen Fabrik für Artilleriemunition in Unterlüss, die im zweiten Jahr nach Inbetriebnahme 100.000 Artilleriegranaten pro Jahr (!) produzieren soll. Der erste Spatenstich für diese neue Fabrik erfolgte im Februar 2024, die Produktionsaufnahme kann daher frühestens in einigen Jahren erfolgen.[1]
Eine aktuelle Studie zweier deutscher Analytiker des „European Council on Foreign Relations“, Gustav Gressel und Markus Welsch, kommt zu dem Ergebnis, daß die USA und Europa der Ukraine im günstigsten Falle jährlich etwa 1,3 Millionen Schuß Artilleriemunition liefern können. Damit würde die Ukraine täglich über etwa 3.600 Granaten verfügen, was weit unter ihrem tatsächlichen Bedarf liegt. Mit 3.600 Granaten pro Tag kann die Ukraine ihre gegenwärtige Gefechtstätigkeit aufrechterhalten, es wird ihr jedoch schwer fallen, Vorräte für größere Offensivoperationen zu anzulegen.[2]
Außerdem genügt es nicht, die Ukraine nur mit Artilleriemunition zu versorgen. Geschützrohre nutzen sich bei längerem Gebrauch ab. Legt man eine Faustregel zugrunde, die besagt, daß ein Haubitzenrohr eine Lebensdauer von etwa 2.500 Schuß hat, bedeutet dies, daß die Ukraine zwischen 125 und 150 Ersatzrohre pro Monat benötigt, die von den NATO-Staaten aber nicht geliefert werden können. Den Engpaß bilden hier die speziellen Schmiedegesenke, Drehbänke, Rohrziehmaschinen, vor allem aber das Fachpersonal.
Die nordkoreanischen Lieferungen an Artilleriegranaten an Rußland sollen weitaus umfangreicher sein, als ursprünglich erwartet, anstelle von einer Million sind es eher drei Millionen Geschosse. Mittlerweile ist die russische Produktion sprunghaft angestiegen, wobei der estnische Geheimdienst schätzt, daß im Jahr 2023 in Rußland etwa 3,5 Millionen Granaten produziert wurden, und daß sich diese Zahl Jahr 2024 wahrscheinlich auf 4,5 Millionen erhöhen wird. Damit kann die russische Armee pro Tag problemlos bis zu 12.000 Granaten verschießen. Im Ergebnis besitzt die russische Artillerie dauerhaft eine Überlegenheit von 3 : 1 bis 5 : 1, sogar dann, wenn der europäische Produktionsanstieg wie geplant erfolgen sollte.[3]
Im Westen hat man den Anstieg der russischen Produktion von Marschflugkörpern, Drohnen und präzisionsgelenkten Gleitbomben sehr wohl erkannt. In einer aktuellen Veröffentlichung des renommierten britischen „Royal United Services Institute“ heißt es, daß Rußland pro Jahr 1.500 Panzer (sowohl neu gebaute als auch modernisierte ältere Fahrzeuge) und 3.000 gepanzerte Fahrzeuge an die Truppe liefern kann. Der Bericht stellt außerdem fest, daß die russischen Bestände an Iskander-Raketen und Kalibr-Marschflugkörpern im letzten Jahr erheblich angestiegen sind.[4]
Der estnische Geheimdienst schätzt, daß Rußland alle sechs Monate rund 130.000 zusätzliche Soldaten adäquat ausbilden und ausrüsten kann, was bedeutet, daß die russischen Steitkräfte ungeachtet der laufenden Verluste immer stärker werden. Laut „Royal United Services Institute“ soll die Stärke der russischen Kräftegruppe in der Ukraine (d. h. nur die derzeit im Kampfgebiet stationierten Streitkräfte) im letzten Jahr von 360.000 auf 470.000 angestiegen sein.[5] Rechnet man die in Südrußland und in Belarus stationierten russischen Verbände hinzu, dann dürften die russischen operativen Reserven mindestens 600.000 Mann umfassen.
Laut dem russischen Verteidigungsminister Sergej Shoigu soll die Gesamtstärke der russischen Streitkräfte Mitte März 2024 insgesamt 1.150.000 Mann betragen haben, für das Jahr 2024 ist ein Aufwuchs auf 1.500.000 Mann geplant, davon 745.000 Mann Kontrakt-Soldaten (Freiwillige). Bis Jahresende sollen zwei neue kombinierte Armeen, 14 neue Divisionen und 16 Brigaden aufgestellt sowie eine Dnjepr-Flottille gebildet werden.[6] Währenddessen beklagt der Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes HUR, Generalleutnant Kyrylo Budanow, daß die ukrainische Armee über keinerlei Reserven mehr verfügt.[7] Die Ersatzlage stellt sich mittlerweile dramatisch dar, es melden sich kaum noch Freiwillige, und Wehrpflichtige werden buchstäblich „geschanghait“, d.h. von der Polizei auf offener Straße zusammengefangen. Wurde in der Ukraine noch vor wenigen Monaten eine neue Mobilmachung angekündigt, mit der man 500.000 Rekruten einzuziehen hoffte, so ist gegenwärtig nur noch von 100.000 bis 150.000 Mann die Rede.[8]
Am 13. März 2024 gab Präsident Wladimir Putin dem in Rußland sehr bekannten Journalisten Dmitri Kisseljow ein ausführliches Interview zum Stand der „Besonderen Militärischen Operation“ und zu den Überlegungen der russischen Führung zur weiteren Politik im Ukrainekonflikt. Nachdem Kisseljow darauf hingewiesen hatte, daß Odessa eigentlich „eine russische Stadt“ sei, erwiderte Putin:
„Der Donbaß ist seit den Zeiten der Sowjetunion eine industriell entwickelte Region. Die UdSSR hat in dieser Region enorme Investitionen getätigt, in ihren Kohlebergbau und ihre metallurgische Industrie … Noworossija ist eine Region, die sich durch eine stark entwickelte Landwirtschaft auszeichnet.“
Putin verwendet hier die geographische Bezeichnung „Noworossija“, was er sonst nur sehr selten tut. Man kann dies als einen Hinweis auf Diskussionen innerhalb der russischen Führung verstehen, ob man nicht eine Wiedergründung von „Noworossija“ anstreben sollte. Das 1764 unter der Herrschaft Katharinas der Großen gegründete Gouvernement „Noworossija“ („Neurußland“) diente der Neuansiedlung von Kolonisten und gleichzeitig als Militärgrenze gegen das Osmanische Reich, von dem man dieses Territorium erobert hatte. Eine Neugründung „Noworossijas“ würde auf eine Annexion der gesamten südlichen Hälfte der heutigen Ukraine durch die Russische Föderation hinauslaufen.
Kisseljow stellt anschließend die Frage, inwieweit es überhaupt ernsthafte Verhandlungen mit den Amerikanern geben könnte: „Während die Amerikaner scheinbar über Verhandlungen und strategische Stabilität sprechen, erklären sie es für notwendig, Rußland eine strategische Niederlage beizubringen. … Bedeutet das, daß es keine Verhandlungen geben wird?“
Darauf verdeutlicht Putin nochmals seine Position, wobei er nicht vergißt zu erwähnen, wie unzuverlässig die westlichen Verhandlungspartner in der Vergangenheit gewesen seien:
„Wir haben uns nie geweigert, zu verhandeln. … Aber wir sind definitiv nicht bereit für Gespräche, die auf einer Art ‚Wunschdenken‘ beruhen, wie es nach dem Konsum von Psychopharmaka entsteht, sondern wir sind bereit für Gespräche, die auf den Realitäten basieren … Das ist das Erste. Zweitens wurde uns schon oft viel versprochen. Uns wurde versprochen, daß die NATO nicht nach Osten expandieren würde, aber dann sahen wir die NATO an unseren Grenzen. Ohne uns in die Geschichte zu vertiefen, wurde uns versprochen, daß der interne Konflikt in der Ukraine mit friedlichen, politischen Mitteln gelöst werden würde. Wie wir uns erinnern, kamen [2014] drei Außenminister aus Polen, Deutschland und Frankreich nach Kiew und versprachen, daß sie Garanten dieser Abkommen sein würden. Einen Tag später kam es zum Staatsstreich. Uns wurde versprochen, daß die Minsker Vereinbarungen eingehalten würden, und dann verkündeten sie öffentlich, daß sie nie vorhatten, ihre Versprechen zu erfüllen, sondern nur eine Pause einlegten, um das Bandera-Regime in der Ukraine zu bewaffnen. … Es wäre lächerlich, wenn wir jetzt Verhandlungen führen würden, nur weil ihnen die Munition ausgeht. … Ich hasse es, dies zu sagen, aber ich vertraue [im Westen] Niemandem.“
Kisseljow kommt daraufhin auf den „deutschen Tanz mit den Taurus-Raketen“ zu sprechen: „Herr Scholz sagt: ‚Wir liefern nicht‘, aber es gibt Kräfte, die darauf beharren, die Taurus-Raketen in die Ukraine zu schicken. … Das Ziel ist die Krimbrücke. Die deutschen Generäle planen, wie wir gehört haben, bereits Operationen, die nicht nur auf die Krimbrücke abzielen, sondern auch auf Militärstützpunkte tief im Inneren des russischen Territoriums, wie sie sagen. Einige sagen bereits, daß diese Raketen den Kreml treffen könnten.“
Putin antwortet mit einer unmißverständlichen Warnung an die Washingtoner Regierung: „Die USA kündigten an, daß sie keine Truppen entsenden werden. Wir wissen, daß amerikanische Truppen auf russischem Territorium sind. Das sind Eindringlinge. So werden wir sie behandeln … Ich habe oft gesagt, daß es für uns um Leben und Tod geht, während es für sie darum geht, ihre taktische Position in der Welt insgesamt zu verbessern und insbesondere ihren Status bei ihren Verbündeten in Europa zu wahren.“
An diesem Punkt wirft Kisseljow ein, was denn mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron geschehen sei: „Ist er verrückt geworden? Er wird französische Truppen gegen unsere Armee schicken. Er sieht aus wie ein kämpfender gallischer Hahn.“
Putin holt nun zu einer ausführlichen Erwiderung aus, in der er auch eindringlich vor möglichen geopolitischen Folgen der westlichen Politik warnt: „Tatsächlich ist das Militärpersonal der westlichen Länder schon seit langem in der Ukraine präsent. Sie sind schon vor dem Staatsstreich [in Kiew 2014] dort gewesen, und nach dem Staatsstreich ist ihre Zahl um ein Vielfaches gestiegen. Heute sind sie sowohl direkt als Militärberater als auch als ausländische Söldner beteiligt und erleiden Verluste. … Auch wenn ausländische Länder ihre Truppen offiziell entsenden, wird sich dadurch die Situation vor Ort nicht ändern … Zweitens kann es schwerwiegende geopolitische Folgen haben. Wenn polnische Truppen beispielsweise ukrainisches Territorium betreten, angeblich zum Schutz der Grenze zwischen Weißrußland und der Ukraine … Es ist ihr Herzenswunsch, das Land zurückzugewinnen, das sie historisch als ihr Eigentum ansehen, das Land, das ihnen der ‚Vater der Völker‘ Josef Stalin weggenommen und der Ukraine geschenkt hat. … Wenn also polnische Truppen in die Ukraine einmarschieren, werden sie sie kaum jemals wieder verlassen. In einem solchen Fall könnten diesem Beispiel auch andere Länder [wie Ungarn und Rumänien] folgen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Teile ihres Territoriums verloren haben.“
Ein polnisch-ungarischer-rumänischer Streit um die Westukraine könnte unabsehbare Folgen für die europäische Politik haben. Putin läßt es sich an dieser Stelle nicht nehmen, den Westen daran, zu erinnern daß Rußland über ein umfangreiches und hochmodernes Arsenal an Atomwaffen verfügt:
„Sie [unsere nuklearen Truppen] sind ständig in Alarmbereitschaft. Das ist das Erste. Zweitens. Unsere nukleare Triade [Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber, Atom-U-Boote] ist fortschrittlicher als jede andere, und das ist auch eine allgemein anerkannte Tatsache. Wir und die Amerikaner sind tatsächlich die einzigen, die eine solche Triade haben … Wir haben die fortschrittlichere nukleare Komponente. Im Großen und Ganzen sind wir [mit den Amerikanern] bei Trägersystemen und Sprengköpfen in etwa gleichauf, unsere nukleare Komponente ist jedoch moderner. … Wir haben unsere eigenen Prinzipien, was besagen sie? Daß wir bereit sind, [Nuklear-]Waffen einzusetzen … wenn es um die Existenz des russischen Staates, um die Schädigung unserer Souveränität und Unabhängigkeit geht.“
Zuletzt legt Putin dar, daß der Konflikt zwischen der Russischen Föderation und der NATO mit einer neuen Welle der Entkolonialisierung verbunden sei, mit dem Bestreben des „Globalen Südens“, sich endgültig von der Dominanz amerikanischer und europäischer Banken und Konzerne zu lösen:
„Der Punkt ist, daß diese sogenannte ‚goldene Milliarde‘ [der Westen] seit Jahrhunderten, seit 500 Jahren, andere Völker praktisch ausgebeutet hat. Sie haben die unglücklichen Völker Afrikas auseinandergerissen, sie haben Lateinamerika ausgebeutet, sie haben die Länder Asiens ausgebeutet, und das hat dort natürlich niemand vergessen. … Sie [diese Länder] verbinden unseren Kampf für unsere Unabhängigkeit und wirkliche Souveränität mit ihrem Streben nach eigener Souveränität und unabhängiger Entwicklung. Dies wird jedoch durch die Tatsache erschwert, daß in den westlichen Eliten der sehr starke Wunsch herrscht, die derzeitige ungerechte Situation in der internationalen Politik einzufrieren. Sie haben Jahrhunderte damit verbracht, ihre Bäuche mit Menschenfleisch und ihre Taschen mit Geld zu füllen. Aber sie müssen erkennen, daß der Ball der Vampire sich seinem Ende nähert.“[9]
Putin erklärte in diesem Interview erneut die russische Bereitschaft, mit dem Westen in Verhandlungen über die Ukraine einzutreten. Der russische Gesandte bei den Vereinten Nationen in New York, Wassili Alexejewitsch Nebensja machte allerdings am 11. April 2024 in einer Rede vor dem Sicherheitsrat deutlich, daß diese Verhandlungen – aus Moskauer Sicht – wohl ziemlich einseitig verlaufen dürften:
„So wird es [das Kiewer Regime] in die Geschichte eingehen – als unmenschliches und haßerfülltes Regime von Terroristen und Nazis, die die Interessen ihres Volkes verraten und für westliches Geld und für Selenskyj und seinen engsten Kreis geopfert haben. Unter diesen Bedingungen sorgen die Versuche des Chefs des Kiewer Regimes, seine ‚Formeln‘ zu verbreiten und ‚Gipfeltreffen‘ zur Unterstützung des Kiewer Regimes einzuberufen, nur für Verwirrung. Sehr bald wird das einzige Thema aller internationalen Treffen zur Ukraine die bedingungslose Kapitulation des Kiewer Regimes sein. Ich rate Ihnen allen, sich im Voraus darauf vorzubereiten.“[10]
Der britische Außenminister Lord David Cameron forderte die Ukraine anlässlich eines Staatsbesuchs in Kiew auf, von Großbritannien gelieferte Waffen gegen russisches Territorium einzusetzen. Cameron erklärte, die Ukraine habe „absolut das Recht“, mit britischen Waffen Angriffe gegen russisches Territorium durchzuführen. Es liege an Kiew, zu entscheiden, wie die von Großbritannien gelieferte Munition eingesetzt werde: „Was die Ukrainer angeht, ist es unserer Ansicht nach ihre Entscheidung, wie sie diese Waffen einsetzen. Sie verteidigen ihr Land, sie wurden von Wladimir Putin illegal angegriffen und müssen diese Schritte unternehmen.“ Etwa zur gleichen Zeit verbreitete sich die Nachricht, Frankreich habe angeblich Teile der Fremdenlegion in die Ukraine entsandt. Anlaß waren offen geäußerte Überlegungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, französische Truppen in der Ukraine einzusetzen.
Daraufhin bestellte Moskau den britischen Botschafter in das russische Außenministerium ein und erklärte, dieser sei „einberufen“ worden, um ihn dazu zu bringen, „über die unvermeidlichen katastrophalen Folgen solcher feindseliger Schritte Londons nachzudenken“. Moskau drohte mit direkten Angriffen auf britische Militäreinrichtungen auch auf britischem Territorium.[11] Die russische Reaktion fiel deshalb so heftig aus, weil britische Militärangehörige seit geraumer Zeit den Ukrainern nicht nur Zieldaten liefern, sondern auch die britischen Storm Shadow-Marschflugkörper programmieren, was sich völkerrechtlich durchaus als aktive Teilnahme Großbritanniens am Krieg interpretieren läßt. Gleichzeitig wurde auch der französische Botschafter in das russische Außenministerium einbestellt, der ähnlich drastische Warnungen zu hören bekam.
Den Hintergrund zu diesen Ereignissen bilden Diskussionen in Washington, Brüssel und den europäischen Hauptstädten, europäische Kampftruppen in die Ukraine zu entsenden. Der Grundgedanke, der zuerst von Staatspräsident Macron geäußert wurde, ist der, dies nicht im Rahmen der NATO zu tun, sondern aufgrund der Initiative einzelner europäischer Staaten, die mit der Ukraine bilaterale Beistandsabkommen geschlossen haben. Der Artikel 5 des NATO-Vertrages bliebe damit außen vor, es würde keinen automatischen Beistand geben, die Entsendung europäischer Truppen würde allein auf Initiative und Risiko der einzelnen europäischen Staaten erfolgen. Diese Idee wird von einer Fraktion innerhalb der amerikanischen „Falken“ unterstützt, die die Verantwortung für das Ukraine-Desaster nach Möglichkeit auf die Europäer abschieben wollen.
In der vom äußerst einflußreichen „Council on Foreign Relations“ herausgegebenen Fachzeitschrift „Foreign Affairs“ erschien dazu am 22. April ein von Alex Crowther, Jahara Matisek, and Phillips P. O’Brien verfaßter Artikel, dessen zentrale Passagen wie folgt lauten:
„In Europa ist ein Tabu gebrochen worden. Noch vor wenigen Monaten wäre es für europäische Staats- und Regierungschefs unvorstellbar gewesen, die Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine vorzuschlagen. Doch am 26. Februar [2024] erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron, die Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine sei ’nicht auszuschließen‘. Der finnische Verteidigungsminister und der polnische Außenminister haben beide angedeutet, daß die Streitkräfte ihrer Länder in der Ukraine landen könnten. Diese Äußerungen in Verbindung mit der bestehenden Unterstützung für solche Maßnahmen in den baltischen Staaten zeigen, daß es einen wachsenden Block von Ländern gibt, die für ein direktes Eingreifen Europas in den Krieg offen sind. …
Da die russischen Streitkräfte ihren Vormarsch beschleunigen, besteht die Möglichkeit, daß sie die ukrainischen Verteidigungsanlagen entlang der Ostfront durchbrechen und die ukrainische Kontrolle über Charkow oder sogar Kiew herausfordern könnten – eine Sicherheitsbedrohung, die Europa nicht ignorieren kann. …
Die europäischen Staats- und Regierungschefs … müssen ernsthaft die Entsendung von Truppen in die Ukraine in Erwägung ziehen, um logistische Unterstützung und Ausbildung zu leisten, die ukrainischen Grenzen und kritische Infrastrukturen zu schützen oder sogar ukrainische Städte zu verteidigen. Sie müssen Russland gegenüber deutlich machen, daß Europa bereit ist, die territoriale Souveränität der Ukraine zu schützen. …
Die begrenzteste Form europäischer Kampfeinsätze könnte westlich des Dnjepr verbleiben und defensiver Natur sein. Eine solche Mission könnte darin bestehen, die ukrainischen Luftverteidigungskapazitäten in dieser Region durch die Entsendung von Personal, die Bereitstellung von Ausrüstung oder sogar die Übernahme von Kommando und Kontrolle über das ukrainische Luftverteidigungssystem zu stärken. Das Risiko einer Eskalation wäre minimal, da die europäischen Streitkräfte kaum eine Chance hätten, die russischen Militärpiloten zu töten, die ihre Munition vom weißrussischen und russischen Luftraum aus in die Ukraine abfeuern. Aber sie würden helfen, Marschflugkörper und Drohnen abzuschießen. … Schließlich muß Europa eine direkte Kampfmission in Betracht ziehen, die zum Schutz des ukrainischen Territoriums westlich des Dnjepr beiträgt.“
Das Risiko einer Eskalation wird also durchaus erkannt, aber als „überbewertet“ abgetan. Die Autoren folgen der Leitlinie, die die NATO seit Beginn des Ukrainekonflikts verfolgt, nämlich der, daß Rußland in Wirklichkeit viel schwächer sei, als es erscheine:
„Es [Rußland] hat bereits mehr als 90 Prozent seiner Vorkriegsarmee verloren, Hunderttausende von Opfern zu beklagen, Zehntausende von Kampffahrzeugen zerstört und den größten Teil seiner modernsten Waffensysteme bei Angriffen auf die Ukraine verbraucht. Die Sanktionen haben die russische Waffenproduktion erschwert und verteuert … Die eigentliche Frage ist, ob Rußland tatsächlich Atomwaffen einsetzen würde, wenn europäische Streitkräfte in der Ukraine einmarschieren. Diese Frage stellt sich bereits jetzt, da Spezialeinheiten aus westlichen Ländern derzeit in der Ukraine operieren. Moskau bedient sich regelmäßig einer aggressiven Rhetorik gegenüber den NATO-Mitgliedern, aber bisher hat es nur gebellt und nicht gebissen.“[12]
Abgesehen davon, daß die angeführten russischen Verlustzahlen schlicht von der ukrainischen Propaganda übernommen sind, folgen die Autoren dem sattsam bekannten Narrativ der „Neocons“, daß die russische Führung nur „bluffen“ würde. Das russische Außenministerium sah sich daraufhin veranlaßt, eine Übung der russischen Streitkräfte anzukündigen, die den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen auf dem Schlachtfeld simulieren sollen. Die Übung soll vom Südlichen Militärbezirk der russischen Streitkräfte abgehalten werden, der maßgeblich an der „Besonderen Militärischen Operation“ in der Ukraine beteiligt ist:
„Im Zusammenhang mit der anstehenden Übung der russischen Streitkräfte zum Einsatz von nicht-strategischen Nuklearwaffen[13] wollen wir festhalten, daß diese Maßnahme im Kontext der neuerlichen militanten Äußerungen westlicher Vertreter und der von einigen NATO-Ländern getroffenen drastisch destabilisierenden Maßnahmen anzusehen ist, mit denen der militärische Druck auf Russland aufgebaut werden soll und zusätzliche Sicherheitsgefahren für unser Land in Verbindung mit dem Ukraine-Konflikt geschaffen werden sollen. Es geht vor allem um die offen bekundete Unterstützung und direkte Militärhilfe für Terroranschläge gegen Rußland, die vom Regime in Kiew unter Einsatz der aus dem Westen gelieferten und immer fortschrittlicheren Waffen ausgeführt werden. Da diese Angriffe häufig und bewußt der zivilen Infrastruktur gelten, führt es zu zahlreichen Opfern unter Zivilisten. …
Es wird damit gerechnet, daß in nächster Zeit auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz die F-16-Mehrzweckkampfflugzeuge aus US-amerikanischer Produktion in Erscheinung treten werden. Wie von der russischen Seite mehrfach betont, können wir nicht darüber hinwegsehen, daß es derlei Flugzeuge in zweierlei Ausführung gibt, nuklear und konventionell. Gerade diese Kampfflugzeugmodelle bildeten über lange Jahre die Grundlage der Kampfflugzeugflotte im Rahmen der sog. nuklearen Teilhabe der NATO. Unabhängig davon, in welcher Ausführung die Kampfflugzeuge geliefert werden sollen, werden wir sie als Nuklearwaffenträger ansehen und diese Maßnahme der USA und der NATO als gezielte Provokation verstehen. …
Erstaunlich verantwortungs- und bedenkenlos sind zudem die Äußerungen des französischen Präsidenten Macron, in die Ukraine könnten französische Militärkontingente und die anderer NATO-Länder geschickt werden. Mehr noch, in den westlichen Medien wurde berichtet, in der Ukraine kämpften bereits Söldner aus der französischen ‚Fremdenlegion‘. Das läßt sich schwer als etwas anderes als die Bereitschaft und Absicht verstehen, in eine direkte militärische Konfrontation mit Rußland zu treten, was ein frontales Aufeinandertreffen von Nuklearmächten bedeuten würde. … Diese und einige andere Handlungen der NATO-Mitgliedstaaten deuten de facto darauf hin, daß sie bewußt auf eine weitere Eskalation der Ukraine-Krise und einen offenen militärischen Zusammenstoß zwischen den NATO-Staaten und Rußland hinwirken …
Das Regime in Kiew und seine westlichen Schirmherren sollten schließlich verstehen, daß ihre rücksichtslosen Schritte die Situation immer weiter zum kritischen Explosionspunkt führen … Die oben genannten Einschätzungen bildeten die Grundlage für die Entscheidung, Militärübungen durchzuführen und dabei einen Teil von Mitteln der nuklearen Abschreckung einzusetzen, die ein ernüchterndes Signal an den Westen und seine Marionetten in Kiew senden sollen. Wir gehen davon aus, daß diese Übungen die ‚Hitzköpfe‘ in den westlichen Hauptstädten abkühlen, sie zur Einsicht über die möglichen katastrophalen Folgen der von ihnen verursachten strategischen Risiken gelangen läßt, und sie davon abhalten, … sich auf eine direkte bewaffnete Konfrontation mit Rußland einzulassen.“[14]
Diese Erklärung des russischen Außenministeriums ist außergewöhnlich scharf, und die Warnungen, die dem britischen und französischen Botschafter übermittelt hat, sollen noch deutlich drastischer ausgefallen sein. Unabhängige kritische Beobachter sind der Meinung, daß die Drohungen der russischen Führung absolut ernst gemeint seien, der Glaube, es handele sich nur um einen „Bluff“ könnte für die westliche Welt katastrophale Folgen haben.
Die russischen Drohungen scheinen zumindest vorläufig gewirkt zu haben. London hüllt sich seither in Schweigen und Paris gab nun öffentlich bekannt, daß eine Entsendung französischer Bodentruppen in die Ukraine nicht in Frage käme. Die angekündigte Übung des Südlichen Militärbezirks der russischen Streitkräfte zum Einsatz von nicht-strategischen Nuklearwaffen begann am 21. Mai 2024.[15]
Eine wichtige Rolle bei der oben beschriebenen Kehrtwendung scheint die italienische Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gespielt zu haben, die eine direkte militärische Intervention in der Ukraine strikt ablehnt. Einem Bericht des „Corriere Della Sera“ (der führenden Tageszeitung Italiens) zufolge soll bei einer NATO-Konferenz im kommenden Juli eine Erklärung veröffentlicht werden, der zufolge eine Entsendung von NATO-Bodentruppen in die Ukraine ausgeschlossen werde.[16]
Wenn dies tatsächlich geschehen sollte, würde die Position von Macron und anderer europäischer Staatschefs, die die Entsendung von Truppen in Erwägung ziehen, unhaltbar. Theoretisch würde eine solche Erklärung der NATO die einzelnen europäischen Staaten nicht daran hindern, Truppen in nationaler Regie zu entsenden. Es wäre jedoch sehr fraglich, ob die NATO diesem Staat im Falle eines russischen Angriffs zu Hilfe kommen würde.[17] Sollte diese Erklärung tatsächlich abgegeben werden, dann wäre das der Anfang vom Ende des „Projekts Ukraine“ der „westlichen Wertegemeinschaft“.[18] Ob allerdings die „Falken“ innerhalb des amerikanischen „tiefen Staates“ dies zulassen werden, ist eine offene Frage.
Anmerkungen:
[1] Crunching Numbers: Ukraine Munitions „Ramp-up“ Buzz, Real or Hype? Simplicius the Thinker 8.5.2024; https://simplicius76.substack.com/p/crunching-numbers-ukraine-munitions?utm_source=profile&utm_medium=reader2
[2] Gustav Gressel, Markus Welsch, Factsheet und Positionen zur Munitionsproblematik 2024 in 12 Punkten, 6.2.2024;
https://admin.govexec.com/media/general/2024/2/paper_munition_ukraine_gressel_welsch_v3final.pdf?
[3] Russo-Ukrainian War: The Deluge; Big Serge, 1.3.2024; https://bigserge.substack.com/p/russo-ukrainian-war-the-deluge?utm_source=profile&utm_medium=reader2
[4] Jack Watling/NickReynolds, Russian Military Objectives and Capacity in Ukraine Through 2024; RUSI 13 February 2024;
[5] Russo-Ukrainian War: The Deluge; Big Serge, 1.3.2024; https://bigserge.substack.com/p/russo-ukrainian-war-the-deluge?utm_source=profile&utm_medium=reader2
[6] Hindustan Times 27.3.2024; https://www.youtube.com/watch?v=GtJfEef_Lww
[7] Constant Méheut, Maria Varenikova, Michael Schwirtz, Facing Russian Advance, a Top Ukrainian General Paints a Bleak Picture; New York Times 14.5.2024; https://www.nytimes.com/article/russia-ukraine-kharkiv.html
[8] Presidency ends, mobilization begins; The Duran 21.5.2024; https://www.youtube.com/watch?v=fRuGFvSJhQs
[9] Interview to Dmitry Kiselev. Vladimir Putin answered questions from Dmitry Kiselev, 13.3.2024
The Kremlin, Moscow; http://en.kremlin.ru/events/president/news/73648
[10] Statement by Permanent Representative Vassily Nebenzia at UNSC briefing on Ukraine; Permanent Mission of the Russian Federation to the United Nations, 11.4.2024; https://russiaun.ru/en/news/2110424
[11] Ukraine SitRep: Eating The Seed Corn – Intervention Threats And Responses; Moon of Alabama, 7.5.2024; https://www.moonofalabama.org/2024/05/ukraine-sitrep-eating-the-seed-corn-intervention-threats-and-responses.html#comments
[12] Europe—but Not NATO—Should Send Troops to Ukraine. To Halt Russia’s Advance, Kyiv Needs More Boots on the Ground. By Alex Crowther, Jahara Matisek, and Phillips P. O’Brien
Foreign Affairs, April 22, 2024; https://archive.is/8ho8Z#selection-1697.319-1697.562 ;
Deutsche Übersetzung: Council on Foreign Relations fordert Kriegseintritt Europas, aber ohne die USA; Anti-Spiegel, 27.4.2024; https://www.anti-spiegel.ru/2024/council-on-foreign-relations-fordert-kriegseintritt-europas-aber-ohne-die-usa/
[13] Nach russischem Verständnis sind „nicht-strategische Nuklearwaffen“ taktische Atombomben mit einem Energieäquivalent von 10 bis 50 Kilotonnen des konventionellen Sprengstoffs TNT.
[14] Erklärung des russischen Außenministeriums im Zusammenhang mit der Durchführung der Übung der russischen Streitkräfte zum Einsatz von nicht-strategischen Nuklearwaffen; Botschaft der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland, 8.5.2024;
[15] Putin’s Nuclear Move At Ukraine Border After Zelensky’s NATO Attack Plea: Kinzhal, Iskander Drills; Hindustan Times 22.5.2024; https://www.youtube.com/watch?v=1qAi_LCNk7U
[16] Come difendere Kiev? La Nato accentrerà a Bruxelles lo smistamento degli aiuti (senza inviare truppe); Giuseppe Sarcina, Corriere Della Sera, 5.5.2024;
[17] NATO To Officially Reject Ukraine Intervention; Moon of Alabama, 9.5.2024;
https://www.moonofalabama.org/2024/05/nato-to-officially-reject-ukraine-intervention.html#more
[18] NATO & Ukraine Inc. Capture Chasov Yar and win war; The Duran 11.5.2024