… gehalten von dem unvergessenen Publizisten, Philosophen und in der „DDR“ politisch verfolgten Prof. Dr. Günter Zehm (1933 – 2018) im Schillerjahr 2005. Sie wurde abgedruckt im Deutschland-Journal der SWG desselben Jahres.
Im Ringen um die Bewahrung unserer ethnokulturellen Identität angesichts von Überfremdung und Islamisierung durch illegale Massenzuwanderung, haben wir uns auch immer wieder zu fragen: „Was ist deutsch?“ Wer das tut, kommt an unserem Nationaldichter Friedrich von Schiller natürlich nicht vorbei. Was er als Erzieher zum Wesen der Deutschen beizutragen hat, das beleuchtet Günter Zehm in dieser bemerkenswerten Rede, die hiermit zum Wiederlesen herzlich empfohlen wird.
Friedrich Schiller als Erzieher der Deutschen – Eine Rede
„Schiller als Erzieher der Deutschen“ lautet das Thema, über das ich hier vor Ihnen eine gute dreiviertel Stunde lang reden will. Ist das nicht ein bißchen riskant, aus mancherlei Gründen? In den vielen Gedenkreden und Gedenkartikeln zum Schillerjahr kommt Schiller ja, wenn ich richtig zugehört und gelesen habe, weder als Erzieher noch als jemand vor, der sich bevorzugt um die Deutschen gekümmert hat. Man stellt ihn ganz überwiegend als sogenannten „Weltbürger“ dar und außerdem als einen ungebärdigen Jüngling und Freiheitshelden, dem der Sinn gerade nicht sonderlich nach Erziehung und Erzogenwerden stand.
In der Karlsschule des Herzogs von Württemberg, in der er selbst erzogen wurde, hat er sich bekanntermaßen nicht wohlgefühlt, hat immer wieder gegen den harten Erziehungsdrill dort aufbegehrt, und als er endlich – nach einer zweiten Abgangs-Dissertation (die erste war abgelehnt worden) – den Status des Schülers ablegen konnte, um als Regimentsmedikus tätig zu sein, hatte er nichts Eligeres zu tun, als Württemberg heimlich und illegal zu verlassen, regelrecht zu fliehen, an das Nationaltheater Mannheim zu gehen und daselbst sein erstes Drama, „Die Räuber“, aufführen zu lassen. Und „Die Räuber“ sind nun genau als das Anti-Erziehungsstück in die Literaturgeschichte eingegangen, und zwar vollkommen zu Recht.
Es wimmelt in dem Stück, wie Sie sich erinnern, von wildmähnigen jungen Leuten, die von Erziehung nicht das geringste wissen wollen, sich vielmehr über sie lustig machen und es im übrigen ganz wüst und toll treiben, andauernd gegen das „tintenklecksende Säkulum“ anstänkern und sich schließlich gänzlich außerhalb jeglichen Gesetzes stellen, sich als Diebe und Mörder in die böhmischen Wälder zurückziehen. Es gibt boshafte, schillerfeindliche und letztlich auch deutschfeindliche Kommentatoren (Adorno zum Beispiel), die just „Die Räuber“, ironisch natürlich und gleichsam ex negativo, als erzieherische Großtat feiern, welche bei den Deutschen denn auch die schönsten, will sagen: die bösesten Früchte getragen habe. Sie zitieren gern die Anekdote, wonach ein Deutscher einem Ausländer voller Verwunderung erzählt: „Schiller hat für alle möglichen Völker Erziehungs- und Identitäts-Dramen geschrieben , für die Franzosen die Jungfrau von Orleans, für die Engländer die Maria Stuart, für die Russen den Demetrius, für die Spanier den Don Carlos, für die Schweizer den Tell, – nur für sein eigenes Volk, die Deutschen, hat er kein solches Drama geschrieben“. Worauf dann der Ausländer erwidert: „Wieso denn? Er hat doch Die Räuber geschrieben“.
Das soll natürlich ein Witz sein, ist aber in jedem Fall verletzend sowohl für Schiller als auch für die Deutschen. Und es ist auch leicht zu widerlegen, wie ich Ihnen hoffentlich gleich zeigen kann. Doch vorher will ich doch noch einen Augenblick im gewissermaßen Negativen verweilen. . . Auch später ist Schiller nicht als das auffällig geworden, was wir eigentlich unter „Erzieher“ verstehen, also als Respektsperson, als jemand, der junge Menschen mit mehr oder weniger Zwang nach seinem Bilde zu formen strebt, sie auf den Ernst des Lebens, wie man so sagt, vorbereitet, ihnen praktisches, anwendbares Wissen
einbläut und Achtung vor der Obrigkeit usw.
Gewiß, Schiller war eine Zeitlang Professor für Geschichte an der Universität Jena, die heute seinen Namen trägt. Er hat dort mächtige Essays über den Abfall der Niederlande oder über den Dreißigjährigen Krieg vorgetragen, aber „erzogen“ hat er nicht, wollte es im Grunde auch gar nicht. Er hat keine Schüler um sich versammelt, auch nicht ansatzweise. Um die Belange der Uni hat er sich nicht gekümmert. Die Beziehungen zu Kollegen, zu Fichte etwa oder zu Schelling, blieben sporadisch und förmlich. Schiller war seiner Natur nach kein Hochschullehrer, überhaupt kein Lehrer, er war – außer natürlich, daß er Dichter war – in erster Linie Journalist, Zeitschriftengründer und Zeitschriftenherausgeber, großer, gelegentlich ätzender Literaturkritiker, Debattenredner, in allen Sätteln des ästhetischen Diskurses gerecht, elegant und sicher, nie pompös oder oberlehrerhaft (was Goethe in seiner Art ja durchaus sein konnte), vielmehr auch noch in späteren Jahren (er ist bekanntlich nur 46 geworden) durchaus jungenhaft, verwegen, pathetisch, herzhaft zupackend.
Hier, meine Damen und Herren, kommen nun wieder die Deutschen ins Spiel, die Schiller, wie Sie hören werden, eben doch erziehen wollte, wenn auch in einer ganz spezifischen und originellen Weise, nämlich ästhetisch. . . Die Deutschen ihrerseits, lange bevor sie der Idee ihres Erzogenwerdens ausgerechnet durch Schiller überhaupt nähertraten, hatten von Anfang an ein ganz besonderes Verhältnis zu diesem Feuerkopf, zu diesem großen Jungen, der doch so früh schon so vollkommen war, so vollendet und so geradezu. Nämlich: die Deutschen liebten ihn. Tatsächlich von Anfang an, gleich nachdem „Die Räuber“ zum ersten Mal aufgeführt worden waren und die Druckausgabe des Stückes erschienen war, liebten sie ihn.
Das Verhältnis der Deutschen zu Schiller war und ist und bleibt vielleicht auch und für immer – eine Liebesgeschichte, ein fou d`amour, wenn Sie so wollen, eine Sache des Eros. Und wenn Sie sich nun daran erinnern, daß schon Platon in der Antike, der die unsterbliche Figur des Groß- und Jugenderziehers Sokrates geschaffen hat, äußersten Wert darauf legte, daß Liebe und Erkenntnis bzw. Erziehung, also Eros und Logos, zusammengehören, daß nur jener Logos, zu dem wir durch Eros liebend hingetrieben werden, wirklich Wurzeln in unserem Geist schlägt und dauerhafte Früchte trägt – dann sehen Sie, daß für Herrn Friedrich Schiller als Erzieher der Deutschen die Dinge von Anfang an äußerst günstig standen, daß es im Grunde nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sich beide, Schiller und die Deutschen, im Status des Erziehers, bzw. des Schülers, zusammengefunden haben würden.
„Die Räuber“ spielten dabei – da haben Adorno e tutti quanti durchaus recht – eine nicht unbeträchtliche Rolle, als Initialzündung gewissermaßen. Sie kamen ja nicht aus heiterem Himmel, waren vielmehr Teil einer schon seit längerem im Schwange befindlichen Literatur- und Geistesbewegung: des von Rousseau, von Herder und Goethe angestoßenen „Sturms und Drangs“, des machtvollen, alles hinwegfegenden Gefühls gegen den lange, allzu lange unumschränkt geherrscht habenden Absolutismus, der die Welt nach Art einer mathematischen Gleichung ins Lot und zum optimalen Stillstand bringen wollte.
Schillers frühes Drama war, neben und nach Goethes „Werther“, Gipfelpunkt und Schlußakkord des „Sturm und Drang“. Wer das Stück sympathetisch, also im Takt der damaligen Zeit und in der Intention des jungen Schiller, liest, der spürt sofort, daß hier, in einem letzten, gewaltigen Aufbäumen, schon der dialektische Umschlag einsetzt, daß zwar die alte Ordnung, die im Empfinden der lebendigen Seelen eine monströse Unordnung war, für immer begraben wird, aber eine neue Ordnung schon am Horizont aufscheint, eine Ordnung, in der Verstand und Gefühl, Notwendigkeit und Freiheit, Wahrheit und Schönheit, miteinander „v e r s ö h n t“ sind, um nun gleich einmal den Schlüsselbegriff des seine Deutschen erziehenden Schiller ins Spiel zu bringen.
Im Mittelpunkt von Schillers Erziehungsprogramm steht und stand von Anfang an als Ziel die „V e r s ö h n u n g“. Mit diesem Begriff ist Schiller gleichsam in die Philosophiegeschichte eingegangen. Er war ja ein eminent philosophischer Kopf und hatte in der von ihm so ungeliebten Karlsschule zu Ludwigsburg eine äußerst gründliche Ausbildung in Philosophie nebst den zugehörigen klassischen Sprachen und theologischen Weiterungen erhalten. Wie faktisch alle damals in Jena lehrenden Professoren war er begeisterter Kantianer, hatte die drei „Kritiken“, insbesondere die „Kritik der Urteilskraft“, sofort gelesen und verinnerlicht, und nun entwickelte er, davon ausgehend, seine eigene praktische Philosophie und Erziehungslehre. Und diese mündete im Begriff der „V e r s ö h n u n g“, die nach Auffassung von Schiller nur als ästhetische praktiziert werden konnte und deren Exekutionsfeld, wenn ich so sagen darf, das „S p i e l“ war, ein weiterer Grundbegriff der Schillerschen Erziehungslehre.
Ich muß nun, meine Damen und Herren, für einige Minuten doch ein bißchen sehr fachphilosophisch werden, um den Schillerschen Theoriebestand einigermaßen in den Griff zu bekommen; bitte, sehen Sie mir das nach. . . Kant hatte es in der „Kritik der Urteilskraft“ unternommen, „apriorische“, also unter allen Bedingungen gültige Beurteilungs-Maßstäbe für das ästhetische Gefühl aufzurichten. Dem ästhetische Leben, schrieb er, fehlt sowohl die Gefühlsgewalt des persönlichen Wohl und Wehe wie der Ernst allgemeiner Arbeit für sittliche Zwecke, es ist bloßes Spiel der Vorstellungen in der Einbildungskraft. Wobei das Wort „bloß“ nicht auf die falsche Fährte führen darf, daß das Spiel, da ihm doch weder erkenntnistheoretische noch moralische Kraft zukommt, eine äußerliche, randständige, unwichtige Sache sei. Im Gegenteil, gerade weil das Spiel von unmittelbaren erkenntnistheoretischen wie moralischen Zwecken befreit ist, ermöglicht es höchste Freiheit. Keine Regel ist so frei gesetzt wie die des Spiels, keiner Regel unterwerfen wir uns so freiwillig wie der des Spiels. Einzig im Spiel fallen Freiheit und Notwendigkeit zusammen, und so ist die Kunst, sofern sie als Inkarnation des Spiels definiert wird, die Sphäre höchsten transzendentalen Glücks.
Schiller hat genau diesen Aspekt aufgenommen und zu einer eigenen ästhetischen Doktrin ausgebaut. Die beiden Seiten der menschlichen Natur, schrieb er in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung“, sind nicht versöhnt, wenn der sittliche Trieb den Sinnentrieb immer nur überwinden oder niederhalten muß; das war bei Kant der Fall, der die sittliche Tat ausschließlich als Pflicht sehen wollte und sie scharf gegen die Neigung abhob. Entweder herrschte der sinnliche Trieb über die Pflicht oder die Pflicht über den sinnlichen Trieb. Damit war Schiller nicht einverstanden. Er zielte auf eine Versöhnung von Pflicht und Neigung, und eben diese Versöhnung, führte er aus, geschehe in der Sphäre der Ästhetik, die eine durch und durch spielerische sei.
Der Mensch ist nach Schiller nur da wahrhaft Mensch, wo er spielt, wo der Kampf mit der Natur und mit seinen inneren, natürlichen, „barbarischen“ Trieben schweigt, die sinnliche Natur in ihm zur „edlen Empfindung“ erhoben ist. Dem Ideal des Kantschen Pflichtmenschen stellt er die „schöne Seele“ gegenüber, welche den Kampf zwischen Pflicht und Neigung nicht mehr kennt. Und wie und wo bildet sich die „schöne Seele“? Sie bildet sich im und mit dem Spiel. Mit dem Spiel, das heißt vor allem im Nachspielen edler Kunstwerke im Theater, auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“ (ein Zitat von ihm). Dort, sagt er, werden wir wahrhaft erzogen, zu vollwertigen, selber edlen Menschen emporgebildet.
Alles ist freiwillig, niemand prügelt uns ins Theater hinein. Theater als „moralische Anstalt“, als die es Schiller apostrophierte: das markiert gewissermaßen das höchste Stadium der Versöhnung. Das Theater ist da also so etwas wie ein Modell des gesellschaftlichen, nationalen Lebens. An ihm kann und soll sich der politische und werktätige Alltag ausrichten. Als schlimmes Gegenmodell beschreibt Schiller in den „Briefen über die ästhetische Erziehung“ die Zustände während der gerade zu seiner Zeit in England voll in Fahrt kommenden industriellen Revolution, besonders die durch sie bewirkte strikte Arbeitsteilung, und er beschreibt sie so, wie sie später die Sozialisten, etwa Friedrich Engels, kaum anders, kaum aggressiver beschrieben haben.
Schiller-Zitat aus den „Briefen zur ästhetischen Erziehung“: „Dadurch allein, daß wir die ganze Energie unseres Geistes in einem Brennpunkt versammeln, setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an und führen sie künstlicherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zu haben scheint. Andererseits aber sehen wir schon ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen wie bei verkrüppelten Gewächsen kaum mit matter Spur angedeutet sind“ (Zitat Ende).
Genau diesen verkrüppelnden Tendenzen des Arbeitslebens sollte die ästhetische Erziehung gegensteuern. Ästhetisches Spiel also als Kompensation für Defizite in der heraufdämmernden modernen Arbeitswelt – auch diese These, die kürzlich von Odo
Marquard bei Verteidigung der Geisteswissenschaften wieder ins Spiel gebracht worden ist, stammt von Schiller. Und der treibt seinen Kompensationsgedanken – in der Schrift über „Naive und sentimentalische Dichtung“ – noch sehr viel weiter: Nicht nur für die Verkrüppelung im Prozeß der Arbeitsteilung soll das ästhetische Spiel Ausgleich sein, sondern auch – hier klingt nun sehr stark Rousseau an – für unsere unwiderrufliche Trennung von der Natur im technischen Arbeitsprozeß, für unsere im Arbeitsprozeß erfolgende „Befreiung“ (in Gänsefüßchen diese „Befreiung“) von der Natur.
Schiller sieht seinen Freiheitsbegriff durchaus janusköpfig. Ja, es ist die Arbeit, die bewußte Umwandlung der Natur und ihre Indienstnahme durch den Menschen, die uns überhaupt erst Freiheit verschafft, uns zur Freiheit durchstoßen läßt. Aber andererseits ist das auch eine höchst traurige, beklemmende, tragische Affäre. Der Arbeitsprozeß hat uns gewissermaßen in die Freiheit verstoßen. Zitat aus der „Naiven und sentimentalischen Dichtung“: „Als bloße Naturkinder waren wir glücklich und vollkommen, mit der Freiheit aber haben wir beides verloren. Es ist nun des Dichters, dieses angestammten Bewahrers der Natur, uns durch die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal die naive und geistreiche Jugendwelt zurückzubringen“ (Zitat Ende).
Indem die Kunst den sinnlichen, von der Physis des Menschen ausgehenden „Stofftrieb“, wie Schiller sagt, durch das Wirken des freien „Spieltriebs“ in einen naturidealen „Formtrieb“ überleitet, bringt sie Schönheit hervor, Versöhnung zwischen Trieb und Form, und erfüllt so die große, die einzig und wahrhaft menschliche Aufgabe der ästhetischen Erziehung. Ziel dieser Erziehung ist es (Zitat), „das Ganze unserer sinnlichen und geistigen Kräfte in möglichster Harmonie auszubilden“ (Zitat Ende).
Dabei verhält sich Schiller, nicht zuletzt belehrt durch den Verlauf der französischen Revolution, deren Anbrechen er zunächst begrüßt hatte, bewußt antiutopisch. Er ist sich darüber klar, daß es nicht möglich, ja, nicht einmal wünschenswert ist, einen Staat nach strikt ästhetischen Gesichtspunkten zu schaffen und in Gang zu halten. Das wäre, glaubt er – und wir glauben es spontan ja auch – politisch-wirtschaftlich gesehen geradezu lächerlich. Erfülltes Leben unter dem Gesetz der Ästhetik, postuliert er, muß ein Schein bleiben, der über der Wirklichkeit liegt wie ein humanisierender Äther und der sich letztlich wohl lediglich in einigen erlesenen Zirkeln von auserwählten einzelnen zu etwas dichterer Gesellschaftsmaterie zusammenfügt.
Schiller war nichts weniger als ein „Demokrat“ im Sinne der heutigen „Political Correctness“. Lebte er heute, er würde mit Sicherheit vom Verfassungsschutz „beobachtet“. Der bloßen Masse, der bloßen Quantität, traute er keine Heil stiftende Weisheit zu. In seinem Demetrius heißt es: „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn; / Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen. . ./ Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen. / Der Staat muß untergeh`n, früh oder spät, / Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“
Jeder Versuch, den ästhetischen Schein per Mehrheitsentscheid in handfestes politisches Sein zu verwandeln, ist nach Schillers Meinung zum Desaster verurteilt. Es kann immer nur darum gehen, daß die herrschenden, die kulturell und politisch ausschlaggebenden Kreise sich glaubhaft und sichtbar um ästhetische Vervollkommnung bemühen und damit ein edles Beispiel setzen, das auf die übrigen Volksgenossen ausstrahlt, sie zur Nachahmung anstiftet und so ein allgemein human-humanistisches Gesellschaftsklima erzeugt. . .
Das ist also der Kern der Schillerschen Erziehungslehre, meine Damen und Herren, und sie werden mir zugeben: Sie klingt beim ersten Hören ungeheuer idealistisch, auch ungeheuer anspruchsvoll und hochgestochen, mit einem Wort: weltfremd. Aber ist sie das wirklich: weltfremd? War dieser Mann und Dichter Friedrich Schiller vielleicht nichts weiter als ein weltfremder Idealist und Spinner, der sein Leben lang in höheren Sphären schwebte und vom „wirklichen Leben“ keine Ahnung hatte? Nun, davon kann nicht im mindesten die Rede sein. Zunächst: Dieser Mann Schiller hat das Leben erfahren wie kaum ein zweiter, wurde von frühester Jugend an brutal mit ihm konfrontiert. Sein Vater war Feldscher, Wundarzt und Werbeoffizier der Württembergischen Armee, zog mit Frau und Kindern, immer der Truppe nach, in den Siebenjährigen Krieg und in andere blutige Unternehmungen; der kleine Fritz sah tote Krieger, und er sah Grenadiere und Musketiere, die wegen kleinster Vergehen von ihren Vorgesetzten aufs Grausamste bestraft wurden, Spießruten laufen mußten, zusammengeschlagen wurden.
Später auf der Karlsschule erfuhr er am eigenen Leibe jahrelang schärfsten Erziehungsdrill. Dann, bei den Schauspielern in Mannheim, oft ohne Gage am Rand des Existenzminimums lebend, machte er intimste, intensivste Bekanntschaften mit den
untersten Volksschichten, mit Manufakturarbeiterinnen, keifenden Zimmerwirtinnen, Prostituierten. 1791 zog er sich eine schwere Lungenentzündung zu, die nicht ordentlich ausgeheilt wurde und von der er nie wieder richtig genas. Es bekam Rippenfellvereiterung, Herzbeutel-Vereiterung, er war von da ab ein schwer kranker Mann, der gewissermaßen gegen seinen Körper lebte, ihm die Kraft zu seinen großartigen geistigen Aufbrüchen Tag für Tag regelrecht abringen mußte.
Also, wahrhaftig, dieser Schiller kannte das Leben, in all seinen triebhaften, stoffhaften Facetten. Und er kannte auch die Politik, das Treiben der höheren Stände, die schnöde Art, mit der sie nur allzu oft ihre Untertanen ausplünderten, ihre unbezähmbare Machtgier, ihre Gier nach Obenbleibenwollen um jeden Preis, ihre Intrigen- und Ränkesucht. Ich würde die Behauptung wagen: Kaum ein anderer Schriftsteller, sämtliche modernen Soziologen und Politologen eingeschlossen, wußte über die Politik und ihre Antriebe so gut Bescheid wie Schiller. Die Politik, wie sie jenseits aller Propagandaphrasen wirklich ist, war sein Haupt- und Magenthema.
Seine berühmten Dramen, Don Carlos, Fiesco, Kabale und Liebe, Wallenstein, Maria Stuart, auch Wilhelm Tell, sie alle drehen sich um nichts anderes als um große oder weniger große, in jedem Fall exzessiv entfaltete Politik. Und das Gleiche gilt für die Geschichtsvorlesungen, die Geschichte der Kreuzzüge, die Geschichte des Abfalls der Niederlande, die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Schiller war, dieses Urteil läßt sich wagen, der größte Politologe, den wir je gehabt haben. Er war in politischen Angelegenheiten völlig illusionslos, sowohl was die oberen als auch was die unteren Kreise betrifft. Deshalb ja auch seine von Anfang an bestehende Skepsis gegenüber der Französischen Revolution von 1789. Während andere deutsche Geistesgrößen, Klopstock, Forster, Wieland, sogar Kant, zunächst scharmuzierten und Preisreden anstimmten, hielt sich Schiller unverbrüchlich im Stande des kalten Beobachters.
Er sah ganz früh hinter den großen Rednern , von Mirabeau bis Robespierre, die „Schinder“, wie er sich ausdrückte, die Mörder und Henkersknechte, die „Furie des Verschwindens“, wie es Hegel später auf seinen Begriff gebracht hat. Nicht weil er von Politik und Leben keine Ahnung hatte, sondern weil er von ihnen nur allzu viel Ahnung hatte, allzu genau über sie Bescheid wußte, hat Schiller sein hochidealistisches Programm einer ästhetischen Erziehung durch Theater und Spiel unter die Leute gebracht. Schiller war Idealist, weil er Realist, großer, größter Realist war. Das drückt sich nicht zuletzt in seiner Bühnensprache aus, jenem „hohen Ton“, der es heute nach Auskunft vieler Kritiker angeblich unmöglich macht, Schiller zu spielen.
Sicher, der Ton ist tatsächlich „hoch“, die Akteure sprechen in strengen Jamben und mit gestochener Klarheit, und sie vermeiden die heute üblichen naturalistischen Banal- und Fäkalausdrücke. Aber hinwiederum ist der Ton der Schillerschen Dramen auch außerordentlich eingängig und allgemeinverständlich, ja geradezu volkstümlich, wenn auch ohne die geringste Anbiederei. Schillers Sprache ist über weite Strecken waschechte Volkssprache geworden, Sprichwörtersprache, er hat uns hier also schon mal „erzogen“, nämlich zu sich emporgehoben.
Wenn wir den Wallenstein oder den Tell hören, wundern wir uns immer wieder minutenlang, weil die Schauspieler sprechen, als würden sie unentwegt aus dem Büchmann, aus dem Sprichwörterlexikon zitieren. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Der Starke ist am mächtigsten allein. Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Rasch tritt der Tod den Menschen an. . . Das kommt uns alles höchst vertraut und alltäglich vor, es sind aber keine Volksweisheiten, sondern es sind Schauspielverse von Schiller, die in die Volkssprache Eingang gefunden haben.
Jeder große Dichter, der „erzieht“, also seine Zuhörer bzw. Leser wenigstens phasenweise zu Schülern macht, welche bei ihm lernen, ist in erster Linie Volkserzieher, Erzieher derjenigen, die seine Sprache ebenfalls als Muttersprache sprechen und sich an ihr bilden. Aber Schiller war nicht nur in dieser Weise Erzieher speziell der Deutschen, sondern noch in einem viel weiteren Sinne. Nämlich: Er war der Überzeugung, daß es den Deutschen auf Grund ihrer spezifischen Prägung und Nationalgeschichte besonders gegeben und auch nötig sei, ihr nationales Leben und ihre Politik ausdrücklich, bewußt und zielstrebig am Ideal der ästhetischen Erziehung auszurichten.
Er war, wie Sie gehört haben, ein scharfer und leidenschaftlicher Politikbeobachter. Er sah den Aufstieg Napoleons in Frankreich und erlebte noch die Anfänge des auf ganz Europa begierigen Napoleonischen Imperialismus. Er sah zu, wie die Engländer und die Niederländer ein gewaltiges Kolonialreich in Übersee zusammenraubten und die Russen nach Sibirien bis an den Pazifischen Ozean und bis nach Alaska ausgriffen. Nur die Deutschen, das große mitteleuropäische Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Fürsten und Freien Städte, versagten sich, so sah er es, diesem ungeheuren Macht- und
Ausbreitungsstreben.
Das erfüllte ihn mit tiefer Sorge, aber gleichzeitig auch mit Hoffnung. Er war Realist und konnte sich durchaus vorstellen, daß dieser an vielen Orten sich anbahnende europäische Imperialismus zu bösen Häusern führen würde, zumal wenn er – was ja offensichtlich der Fall war – im Zeichen neu-industrieller Technik und Arbeitsteilung, also im Zeichen von Entfremdung und Naturzerstörung, stattfand. Und der Realist Schiller konnte sich auch vorstellen, daß nicht nur Länder in Übersee, sondern auch und gerade Deutschland, das untätig, professoral und selbstgenügsam in sich ruhende Deutschland, ein Opfer dieser entfremdenden, zerstörerischen Aggressionen sein würde. All dies erfüllte ihn, wie gesagt, mit Sorge. Es gibt viele Verse von ihm, in denen sich diese Sorge artikuliert.
Denken sie an die Xenie mit dem Titel „Der Rhein“: „´Treu, wie dem Schweizer gebührt, bewach ich Germaniens Grenze!` / Aber der Gallier, er hüpft über den duldenden Strom,“ Und auf derselben Seite, unter dem Titel „Deutsches Reich“: „Deutschland, aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Freilich, sofort fügt sich an diese Xenie spürbarer Resignation eine Xenie eben der Hoffnung, unter dem Titel „Deutscher Nationalcharakter“: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!“. . . Der Deutsche als „bloßer Mensch“ – das klingt beim ersten Lesen zunächst mal überaus bescheiden. Der Deutsche will an sich gar kein Deutscher sein, am wenigsten will er als solcher anderen auf die Nerven fallen. Das ist doch bescheiden! Aber nein, nur beim ersten Lesen klingt so etwas bescheiden. Sobald man sich genauer auf den Text und sein Umfeld einläßt, erkennt man den gewaltigen Anspruch, der in ihnen steckt.
Die Deutschen, legt Schiller nahe, haben vor allen anderen das Zeug, die „eigentlichen Menschen“ zu werden, so wie die alten Griechen damals in der Antike auf Grund ihrer Kultur die „eigentlichen Menschen“ wurden und waren trotz der ihnen in vieler Hinsicht überlegenen politischen Großreiche um sie herum, Ägypten Persien, Karthago. Die aus der Kultur sich speisende überlegene Menschlichkeit, legt Schiller nahe, war der Nationalcharakter der klassischen Griechen, und sie ist heute, in der Neuzeit, der Nationalcharakter der Deutschen, genauer: der durch Klassik, Griechenerinnerung und ästhetisches Spiel erzogenen Deutschen. Sie allein, so immer weiter Schiller, wissen, daß die gewissermaßen urwüchsige Politik das Leben der Völker und darüber hinaus alles Lebendige in der Natur auf Dauer schwer beschädigt und ins Verhängnis führt, daß man folglich immer eine Distanz zu dieser urtümlichen Politik wahren muß, daß man sie veredeln, sie in Spiel, in eine Erziehung zum Schönen umwandeln muß.
Nein, solcher Anspruch ist gewiß nicht sonderlich bescheiden. Und Schiller selbst hat es auch keineswegs bescheiden gemeint. Er hatte durchaus seinen Nationalstolz. Es gibt von ihm das Fragment „Deutsche Größe“, und darin steht (Zitat): „Der Deutsche mag unglücklich aus dem politischen Kampf herausgehen, aber das, was seinen Wert ausmacht, verliert er nicht. Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von dem Politischen, hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn sein Imperium auch unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und dem Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist. Dem, der den Geist bildet, muß zuletzt die Herrschaft werden“ (Zitat Ende).
Ist das nun anmaßend, nationalistisch, „geistesimperialistisch“, wie Paul Valery, an sich ein Freund der deutschen Klassik, einmal gesagt hat? Viele andere, weit kleinere Geister als Valery behaupten das ja auch. Sie schimpfen die Deutschen „geborene Oberlehrer“, sie kichern oder empören sich darüber, daß sie immer die Klassenbesten sein wollen, sogar beim Sünden Begehen und anschließend beim Vergangenheit Bewältigen. Diese ewige Oberlehrerei, so sagen sie, ist entweder tatsächlich der Nationalcharakter der Deutschen, oder die deutsche Klassik, insbesondere Schiller, hat es ihnen eingeredet. Das eine sei so schlimm wie das andere. . .
Nun, wie schlimm ist es wirklich? Darüber will ich mich im letzten Teil meines Vortrags ein bißchen verbreiten. Zunächst: Jede Nation von einigem Format hegt den Mythos einer gewissen Auserwähltheit und eines gewissen „Auftrags“, den sie – angeblich oder wirklich – zu erfüllen hat. Die Amerikaner glauben, sie müßten der ganzen Welt die „Demokratie“ bringen. Die Russen sind, laut Dostojewski, dazu bestimmt, die Erinnerung an Jesus Christus gegenüber dem säkularisierten Abendland wachzuhalten. Die Franzosen haben es mit der „Clarté“, dem Licht der „puren“ Vernunft, das angeblich speziell bei ihnen leuchtet, die Engländer mit dem „gesunden Menschenverstand“ usw. usw.
Die deutsche Variante in der Version von Schiller, meine Damen und Herren, nimmt sich in dieser Gesellschaft, wie sie mir zugeben werden, durchaus gemäßigt aus. Ihre Pointe liegt ja just darin, daß die Deutschen an sich, von Haus aus, keinen spezifischen Nationalcharakter haben und folglich auch keine naturbedingte, genetisch vorgegebene Priorität gegenüber irgendeinem anderen Volk. Sondern sie gewinnen diese Priorität erst und nur insofern, als sie sich selbst erziehen, und zwar ästhetisch erziehen, ohne jeden Rohrstock, ohne jeden Zwang, einzig durch freies Spiel und Vorbild, durch die Aufrichtung eines überdimensionalen lebenden Bildes gewissermaßen, an dem sich andere orientieren können, eines Bildes aus „Anmut und Würde“, wie Schiller auch gesagt hat.
Dieser herrliche Geist ist leider so früh hingegangen und unter so viel Schmerzen – aber vielleicht ist er, geistes- und nationalpolitisch gesehen, auch genau rechtzeitig hingegangen. Er hat die napoleonische Totalinvasion, die Auflösung des alten Reiches, die Befreiungskriege und die Restauration nicht mehr erlebt, Entwicklungen, die ganz konkrete politische Aussagen erforderten, welche der hochpolitische und stürmische Schiller mit Sicherheit auch gemacht hätte. Vielleicht wäre da manches Kontroverse, die Geister notwendig Spaltende untergekommen, und Schiller wäre möglicherweise ein Mann der Partei geworden, nach dieser oder jener Richtung. Glücklicherweise, so möchte ich beinahe sagen, ist das ihm (und uns) erspart geblieben.
Schon den unmittelbar nachfolgenden Generationen stand er unveränderbar als ein Mann der Einheit und der Versöhnung, der Versöhnung auf höchstem, anspruchsvollstem Niveau, vor Augen. Nichts von jenem Gemeinen und Hinterhältigen, wie es ja auch in der besten, gelungensten Politik vorkommt, reicht an ihn heran. Und so ist die ausführliche und gründliche Erinnerung an ihn im sogenannten Schillerjahr 2005 vielleicht wirklich ein probates Mittel, um uns aus der fürchterlichen geistigen Erniedrigung, in der wir uns zur Zeit in Deutschland befinden, herauszuhelfen. Schiller steht jedenfalls auch heute noch als der reine, echte Lehrer und Meister und Erzieher vor uns, der er wirklich war.
Und so gestatten Sie mir, meine lieben Damen und Herren, mit einem Absatz aus jener Rede zu schließen, die der frisch nach Jena berufene Professor für Geschichte am 26. Mai 1789 zum Beginn des Semesters an seine Studenten richtete. Schiller hatte seine Vorlesung unter das Thema „Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ gestellt, und so also sprach er zu seinen jungen Zuhörern:
„Ein edles Verlangen muß in uns erglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt übernahmen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazusteuern können Sie alle. Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit, meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte“ (Zitat Ende).
Bild: Schillerdenkmal auf dem Gendarmenmarkt in Berlin. Geschaffen 1864 – 1869 von Reinhold Begas. Quelle: Wikipedia gemeinfrei.