von Rechtsanwalt Rainer Thesen
Nein, wir leben gerade nicht im Sommerloch. Aber in der Sommerhitze. Und da ist offenbar möglich, was unter normalen Umständen hinter den Mauern der Anstalten bleibt, in denen die Wohnräume der Insassen innen keine Klinken haben, und deren Insassen auch schon mal Jacken tragen, deren Ärmel vorne verschlossen sind und die die von ihrem Träger nicht geöffnet werden können.
Der Skandal
Anders kann der Vorgang wohl nicht erklärt werden, den wir uns heute ein wenig näher anschauen wollen. Was ist geschehen? Die AfD hat im laufenden Thüringer Wahlkampf auf ein Heimatgedicht aus dem Jahr 1911 zurückgegriffen. Hier der Text:
Erntegruß
Rauscht ihr noch ihr alten Wälder
hoch vom Rennstieg euren holden Sang?
Wiegt ihr noch durch goldne Felder
graue Dome euren Feierklang?
Und du wunderkühle Sagenquelle
liebe Saale, spiegelst du noch helle
Berg und Burg und reifen, reifen Rebenhang?
Ja. es taucht aus trauten Fluren
und es glänzt mir her vom klaren Fluß
Vaterhaus und Wanderspuren
Schlägerklang und rascher Turnergruß
Hörselberg, aufspringt die wilde Pforte
Locken wehn im Wind und Mädchenworte
und die Lippe blüht vom ersten, ersten Kuß
Jahre, die da hingezogen
eure Pulse fühl ich warm und klar
und des Lebens bunter Bogen
überspringt was jung und selig war
Volle Ernte wogt zu meinen Füßen
und ihr rauscht, den Abend mir zu grüßen
Heimatwälder, auf mein weißes Haar.
Die Aufdeckung des Skandals
Das gefiel dem Grünen-Politiker Bernhard Stengele, derzeit Minister für Umwelt, Energie und Naturschutz in Thüringen und Schauspieler von Beruf, überhaupt nicht. (Nicht daß ich Schauspielern generell die Fähigkeit absprechen wollte, politisch wirken zu können. Seit Ronald Reagan wissen wir, daß das auch schon mal gutgehen kann.) Deswegen ließ er die Kanzlei des Würzburger Anwalts Chan-jo Jun gegen die Vorsitzenden der Thüringer AfD, Björn Höcke und Stefan Möller, Strafanzeige wegen Volksverhetzung erstatten. Schließlich sei der Verfasser des Gedichts Franz Langheinrich (1864 – 1945) ein Nazi gewesen. Ein Gedicht aus der Feder dieses Nazis, dazu noch von der in seinen Augen neuen Nazipartei im Wahlkampf verwendet, könne nur der Verherrlichung des NS-Regimes dienen und sei daher auch geeignet, den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer des NS-Regimes verletzenden Weise zu stören. Daß ein Thüringer Grünen-Politiker sich einer Würzburger Anwaltskanzlei bedient, ist insofern nicht weiter überraschend, als der Kollege Jun auf Vorschlag der Grünen das ehrenvolle Amt eines stellvertretenden nichtrichterlichen Mitgliedes des bayerischen Verfassungsgerichtshofs ausübt. Der im IT- und Äußerungsrecht ausgewiesene Anwalt fällt aber auch schon einmal durch abstruse Äußerungen auf, wie die, von den finsteren Vertreibungsplänen der Potsdamer Geheimkonferenz sei natürlich auch er als Abkömmling koreanischer Einwanderer betroffen und müsse dann, wenn diese Leute an die Macht kämen, wohl mit seiner Ausweisung rechnen. So jedenfalls hat er sich sinngemäß kurz nach Bekanntwerden der Lügengeschichte von Correctiv über das angebliche Potsdamer Geheimtreffen vom 23.11.2023 geäußert. Nun sind ja bekanntlich Einwanderer aus Ostasien nicht nur in Deutschland, sondern überall im westlichen Kulturkreis bestens integriert, weisen regelmäßig excellente Berufs- und Studienabschlüsse auf und tragen die Wirtschaft ihrer neuen Heimatländer zu einem erheblichen Teil. Was man von den Zwanderern aus Afrika und dem Orient, vor allem den Muslimen, nur eher selten sagen kann. Deswegen werden Zuwanderer aus dem ostasiatischen Raum gerade auch von den grundsätzlich migrationskritischen Parteien gewissermaßen als Musterbeispiele gelungener Integration von Migranten geschätzt. Auch Herrn Jun kann das nicht verborgen geblieben sein. Also muß sein erwähnter Thread als bullshit bezeichnet werden, um einmal in das gerade bei den Grünen so beliebte englisch zu wechseln.
Politik und Recht – zwei Welten begegnen sich
Es lohnt sich also, der Sache auch juristisch auf den Grund zu gehen, zumal Kollege Jun ja für sich ganz unbescheiden, wie es seine Art ist, in Anspruch nimmt, Rechtsverstöße auch da zu erkennen, wo andere sie nicht einmal vermuten. Schauen wir uns also zunächst die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuches an:
§ 1 StGB lautet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“
Das ist der gesetzliche Ausdruck des in allen zivilisierten Ländern der Welt, insbesondere des europäischen Kulturkreises, geltenden lateinischen Rechtsgrundsatzes nulla poena sine lege.
Die Langfassung der lateinischen Formel nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, praevia, certa et stricta umschreibt die vier Einzelprinzipien des Gesetzlichkeitsprinzips:
Notwendigkeit zur schriftlichen Fixierung der Strafbarkeit (Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts, nulla poena sine lege scripta)
Notwendigkeit der Fixierung vor Begehung der Tat (strafrechtliches Rückwirkungsverbot, nulla poena sine lege praevia)
Notwendigkeit hinreichender Bestimmtheit des Gesetzes (strafrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, nulla poena sine lege certa)
Verbot von Analogie zu Lasten des Täters über den Wortlaut des Gesetzes hinaus (Analogieverbot im Strafrecht, nulla poena sine lege stricta)
Vor allem dem Bestimmtheitsgrundsatz wollen wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Er ist nicht nur im europäischen, sondern auch im amerikanischen Rechtskreis von Bedeutung, denn nach einer Entscheidung des Supreme Court muß jeder Bürger vor Begehung einer Tat aus dem Gesetz entnehmen können, was verboten und was erlaubt ist. Vereinfacht ausgedrückt: das richtige Verständnis des Gesetzes muß mit dem gesunden Menschenverstand möglich sein, Recht darf keine Geheimwissenschaft sein. Das gilt auch für die Vorschrift, die der Abdruck des inkriminierten Gedichts im Wahlprogramm der Thüringer AfD verletzen soll, nämlich § 130 Abs. 4 StGB. Er lautet:
„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, daß er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht ooder rechtfertigt.“
Nun fehlt diesem Gedicht jeglicher Bezug zur nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft. Selbst in den Augen des Anzeigeerstatters Stengele und seines Anwalts Jun ist das Gedicht vielleicht kitschig, sentimental, melancholisch-heimattümeld und schwülstig, aber ansonsten völlig unbedenklich. Es braucht also offenbar einen erheblichen Begründungsaufwand, dennoch den Straftatbestand des § 130 Abs. 4 StGB als erfüllt anzusehen. Dieses Kunststück gelingt dem politisierenden Schauspieler und seinem ebenfalls politikaffinen Anwalt auf die Weise, daß die Person des Dichters ebenso wie die Partei, die es für ihren Wahlkampf verwendet, in den gesetzlichen Tatbestand gewissermaßen hineingelesen werden. Denn immerhin war Franz Langheinrich ein glühender Unterstützer des nationalsozialistischen Regimes. Und die AfD wird von Leuten der politischen Denkungsart des Anzeigeerstatters und seines Anwalts als gewissermaßen NSDAP des 21. Jahrhunderts gesehen. Mit anderen Worten: wenn ein heimattümelndes Gedicht eines Nazi-Dichters von einer Nazipartei im Wahlkampf verwendet wird, dann wird damit die NS- Gewalt-und Willkürherrschaft mindestens gebilligt, wenn nicht verherrlicht, was selbstverständlich die Würde der Opfer des Regimes verletzt und den öffentlichen Frieden stört.
Wie geht eigentlich Rechtsklitterung? Rechtsanwalt Jun weiß das.
Doch mit welchem Wort wird hier überhaupt nur auf den Nationalsozialismus Bezug genommen, geschweige denn dieses Terrorregime gebilligt oder gar verherrlicht? Und warum soll das bei einem Gedicht aus dem Jahre 1911 der Fall sein, einem Gedicht von einem Verfasser, den niemand kennt? Mir jedenfalls war dieser Dichter bis zum Bekanntwerden dieser Posse völlig unbekannt. Dabei habe ich mich mit der Geschichte des Nationalsozialismus durchaus beschäftigt und glaube mit Fug und Recht sagen zu können, daß mein Wissensstand insoweit überdurchschnittlich ist. Auch die Lebensdaten des Dichters (1864-1945) sind für sich allein genommen kein Hinweis darauf, daß er das NS-Regime unterstützt hat.
Die Argumentationstechnik des Kollegen Jun ist in zweifacher Hinsicht mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des § 1 StGB nicht vereinbar. Er entnimmt den NS-Bezug des inkriminierten Gedichts ausschließlich solchen Umständen, die im Gesetzeswortlaut nicht beschrieben werden. Ein juristisch unverfänglicher Text wird durch die Person seines Verfassers und durch seinen Verwender in einem bestimmten Kontext (Wahlkampf) zum Rechtsverstoß, zur strafbaren Volksverhetzung. Und diese Erkenntnis kann nur gewinnen, wer Umstände außerhalb dieses Textes kennt und „richtig“ einordnet.
An alle Jurastudenten: Bitte nicht im Examen sowas schreiben!
Wäre das richtig, so dürften zum Beispiel die Filme von Leni Riefenstahl, die sie vor den bekannten Filmen über die Reichsparteitage und die Olympischen Spiele gedreht hat, nicht mehr gezeigt werden, insbesondere aber nicht von Veranstaltern, die der sogenannten rechten Szene zugeordnet werden. Denn dann dienten ihre Bergfilme ja nur der Verherrlichung des NS-Regimes, das es nota bene zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch gar nicht gab, wie das auch hier mit dem Entstehungsjahr des inkriminierten Gedichts der Fall ist. Auch dürften Skulpturen des Bildhauers Arno Breker entweder gar nicht oder auf keinen Fall von Veranstaltern ausgestellt werden, denen man eine Nähe zur Identitären Bewegung, zur AfD oder vom Verfassungsschutz braun angestrichenen Vereinigungen nachsagen kann. Schließlich hat Hitler den Künstler Arno Breker sehr geschätzt. Und die ganz spannende Frage: darf sich Björn Höcke einen Schäferhund anschaffen und mit ihm spazieren gehen? Bekanntlich hatte Hitler einen Schäferhund. Diese Beispielsfälle zeigen wohl hinreichend deutlich, wie absurd die Argumentationslinie dieses grünen Kronanwalts ist. Dazu fällt mir eigentlich nur der Meister des subtilen Spotts Harald Schmidt ein: „Er hat Autobahn gesagt!“
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