Interview mit Thor von Waldstein: Russland wird wie ein kleines Land in Südamerika behandelt, und das ist keine gute Idee

(Dieser Beitrag erschien am 5.10.2024 auf eagleeyeexplore.com.)

Es ist sehr gefährlich, dass deutsche Drohnen nicht nur auf ukrainischem, sondern auch auf russischem Territorium feuern. Wenn es morgen zu entsprechenden Aktionen aus Russland kommen sollte, könnte man nicht behaupten, sie seien unprovoziert gewesen.

In den letzten Jahren haben die Amerikaner ihre Waffen und Raketen in Deutschland links des Rheins so stark ersetzt und aufgerüstet, dass die örtlichen Behörden und Bürgermeister nicht einmal mehr wissen, wo sich diese Arsenale befinden. In Frankreich, das ebenfalls ein NATO-Mitglied ist, ist kein einziger amerikanischer Soldat stationiert, während in Deutschland rund 40.000 Soldaten stationiert sind. All dies wird von deutschen Steuerzahlern finanziert. Die Amerikaner haben ihr größtes Militärkrankenhaus in Wiesbaden, was bedeutet, dass sie in Deutschland bleiben werden. Dies spiegelt das alte atlantische Konzept wider, dass das US-Militär auf der anderen Seite des Atlantiks sein muss, um von dort aus seine Interessen zu schützen, sagt Thor von Waldstein, Doktor der Politik- und Rechtswissenschaften, Verfassungsrechtler, Autor mehrerer Bücher und eine in deutschen Intellektuellenkreisen sehr geschätzte Persönlichkeit, in einem Interview mit unserem Portal.

Die EU wurde auf liberalen Prinzipien gegründet. Wie passen wirtschaftliche Freiheiten zu politischen Sanktionen und wandelt sich die EU von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen, sicherheitspolitischen und ideologischen Gemeinschaft?

Die EU betreibt schon lange keine Wirtschaftspolitik mehr, nicht nur was Sanktionen angeht, sondern auch was die Subventionspolitik im Inland betrifft, die oft rücksichtslos und problematisch ist. Wenn es darum geht, allgemeine europäische Interessen innerhalb der EU zu vertreten, ist Skepsis angebracht. Nationale Interessen werden zunehmend zu europäischen Interessen, aber bei realistischer Betrachtung scheint die Politik der EU eher mit amerikanischen Interessen übereinzustimmen. Es kann nicht im Interesse Europas sein, dass in Mitteleuropa ein Krieg geführt wird. Europas Interesse wäre es, eine gemeinsame Basis mit dem größten Land der Welt zu finden, um die Kriegsgefahr zu beseitigen. Da wir uns heute in Belgrad befinden, ist es erwähnenswert, dass Brüssel geografisch im äußersten Westen Europas liegt. Da Großbritannien nicht mehr in der EU ist, ist diese geografische Lage in gewisser Weise programmatisch. Wenn der Sitz der EU in Wien oder Budapest wäre, könnte die Regierungsführung anders aussehen.

Wie souverän kann Deutschland tatsächlich sein, wenn sich auf seinem Territorium amerikanische Militärbasen befinden? Und sind die Gerüchte wahr, dass jeder deutsche Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt ein Geheimdokument aus der Zeit nach der Besatzung des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet, in dem er seine Verpflichtungen gegenüber den westlichen Alliierten bestätigt?

Sie sind gut informiert. Es gibt sogenannte „Kanzlergesetze“, die jeder Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt unterzeichnen muss. Das ist allerdings nur ein Gerücht. Es gibt dafür keine konkreten Beweise, aber das ist auch nicht entscheidend. Unabhängig davon, ob es diese Gesetze gibt oder nicht, hat kein Bundeskanzler seit Adenauer 1948 eine Außenpolitik betrieben, die ausschließlich im Interesse Deutschlands lag. Deutschland war also während des Kalten Krieges ein potenzielles Schlachtfeld für einen Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA und bleibt ein potenzieller Ort für einen Atomkonflikt, wenn ein Krieg zwischen Russland und der NATO ausbricht.

Inwieweit verdanken die USA ihre Hegemonialstellung Deutschland?

Wenn sich die Amerikaner aus Westeuropa zurückziehen würden, wären sie keine Weltmacht mehr. Sie würden mit dem konfrontiert, was sie im Südchinesischen Meer erlebt haben, wo sie nach und nach ihre Truppen und Flugzeugträger zurückziehen mussten. Die amerikanische Hegemonie basiert auf ihrer Präsenz in Deutschland. Natürlich sind die USA mit anderen Ländern verbündet – wie Großbritannien, den Niederlanden, Spanien und Portugal –, aber die wichtigste Säule der US-Macht in Europa liegt in Deutschland. Nur wenige wissen, dass amerikanische Soldaten in Deutschland – auch rechtlich gesehen – vom Rechtssystem ausgenommen sind. Wenn ein amerikanischer Soldat in der Stadt ein Fehlverhalten begeht, etwa eine Frau vergewaltigt oder Unruhe stiftet, muss er sich nicht nach deutschem Recht verantworten, sondern vor Sondergerichten. Diese Situation ähnelt einem Krieg oder einem Besatzungsstaat.

Es gab Berichte, dass vertrauliche Dokumente aus dem Bundestag durchgesickert sind, in denen es um einen möglichen und engen Konflikt mit Russland und die deutschen Kriegsvorbereitungen geht. Ist die Debatte über die Lieferung von „Taurus“ und anderen Waffen an Kiew eine Provokation in diese Richtung?

Ich kenne keine konkreten Dokumente, aber es besteht kein Zweifel daran, dass Deutschland in den letzten zwei Jahren aufgerüstet hat. In dieser Zeit ist der Aktienkurs des Rüstungsherstellers Rheinmetall gestiegen, und die deutsche Verteidigungsministerin arbeitet an der Produktion neuer Waffen und Raketen. Natürlich kann man das auf zwei Arten interpretieren: Man könnte sagen, es geht rein um Verteidigung, aber bestimmte Waffen können nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zum Angriff eingesetzt werden. Über konkrete Details kann ich nicht sprechen, da ich kein Militärexperte bin.

Zeigt Deutschland durch die Zulassung des Einsatzes seiner Waffen bei Angriffen auf russisches Territorium, dass es auf eine mögliche russische Reaktion vorbereitet ist?

Es gibt Stimmen in Europa, die sagen, wir sind bereits im dritten Weltkrieg, wir haben es nur noch nicht bemerkt. Und natürlich ist es sehr gefährlich, wenn deutsche Drohnen nicht nur auf ukrainisches Territorium, sondern auch auf russisches Territorium feuern. Wenn es morgen entsprechende Aktionen aus Russland geben würde, könnte man nicht sagen, dass sie grundlos waren. Umso verantwortungsloser ist die Politik der deutschen Bundesregierung, um auf die vorherige Frage zurückzukommen: Unser Schutz gegen einen solchen Angriff aus Russland ist wirkungslos, er ist schlicht nicht vorhanden. Die deutsche Bevölkerung wird in einer solchen Situation bewusst schutzlos gelassen. Und Russland wird behandelt, als wäre es ein kleines südamerikanisches Land ohne Atomwaffen, was keine gute Idee ist. Russland kann militärisch nicht besiegt werden, und so scheint eine Aussöhnung mit Russland die einzige Lösung zu sein.

Sie sind Verfassungsrechtler. Das Bundesverfassungsgericht hat in unserem Verfassungsrecht eine große Autorität. Ist das eine realistische Einschätzung oder ein Irrtum?

Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Natürlich ist es gut, dass es ein Verfassungsgericht gibt, das die Grundrechte der Bürger schützt und dafür sorgt, dass die Verfassungsbestimmungen eingehalten werden. Die Theorie der Gewaltenteilung, wie wir sie von Montesquieu kennen, besagt, dass es neben der Legislative und der Exekutive auch eine Judikative geben sollte. Die Judikative hat die Aufgabe, die Exekutive und die Legislative zu überwachen und sicherzustellen, dass sie sich an das Gesetz halten. So die Theorie, aber die Realität ist, dass alle wichtigen Entscheidungen in der Legislative, Exekutive und Judikative – einschließlich des Gerichts in Karlsruhe – weitgehend von der Politik und den politischen Parteien bestimmt werden. Dies untergräbt die Gewaltenteilung und führt oft zu Entscheidungen in Karlsruhe, die nicht allein auf der Verfassung basieren, sondern von politischen Erwägungen beeinflusst sind. Viele Menschen in Deutschland glauben, dass das Karlsruher Gericht eher ein politisches als ein richterliches Gremium ist. Diese Wahrnehmung wurde durch Vorfälle wie das Abendessen der Richter des Gerichts mit Angela Merkel verstärkt. Während das Gericht einst einen guten Ruf hatte, hat sein Ansehen in den letzten Jahren aufgrund seiner Handlungen gelitten. Während der Covid-19-Pandemie wurden die Grundrechte der Deutschen mit Füßen getreten, und das Verfassungsgericht unternahm nichts, um dagegen vorzugehen. Es akzeptierte alle Entscheidungen der Exekutive, ohne kritische Fragen zu stellen. Vieles von dem, was beschlossen wurde, war äußerst problematisch.

Aber das Verfassungsgericht hat sich im Fall des Verbotsversuchs gegen das Magazin „Compact“ doch auf die Seite der Meinungsfreiheit gestellt, oder?

Das ist eine differenzierte Situation. Die Entscheidung im Verfahren „Compact“ ist vorläufig. Es geht nicht darum, ob die Entscheidung der deutschen Ministerin Nancy Faeser richtig oder falsch war, sondern um eine vorläufige Einschätzung. Das staatliche Interesse an der Durchsetzung des Verbots überwog nicht das Interesse von „Compact“, Schaden zu vermeiden. Das Verfassungsgericht entschied, dass der Prozess Jahre dauern könne, aber in dieser Zeit wäre die Zeitschrift tot. Dies ist jedoch eine völlig andere Frage als das Haupturteil. Es ist noch sehr fraglich, ob „Compact“ das Hauptverfahren gewinnen wird, da es ein früheres Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt, das besagt, dass die Anerkennung eines ethnischen Volkskonzepts verfassungswidrig ist. Wenn „Compact“ eine solche ethnische Position vertritt, könnte das Urteil in die Richtung gehen, dass die Befürwortung eines solchen ethnischen Konzepts die Menschenwürde von Ausländern verletzt. Basierend auf diesem Präzedenzfall scheint es wahrscheinlich, dass „Compact“ letztendlich verboten wird.

Was ist mit dem ethnischen Volksbegriff gemeint und was ist daran so bedenklich?

Das ethnische Volksbild, das heute von den nationalen Deutschen getragen wird und das bis 1999 rechtlich definiert war, betrifft Herkunft, gemeinsame Kultur und gemeinsame Geschichte. Das heißt, ein Deutscher ist jemand mit einem deutschen Vater oder einer deutschen Mutter. Aufgrund dieses ethnischen Prinzips wurden beispielsweise viele Deutsche aus Russland nach dem Krieg als Deutsche in Deutschland aufgenommen und integriert. Sie hatten russische Pässe, waren aber deutscher Abstammung, was sie auch zum Erhalt eines deutschen Passes berechtigte. Das ist das ethnische Volksbild. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die derzeit herrschende Orientierung in Deutschland ausschließlich auf die Nationalität bzw. den Pass. Und es ist bekannt, wie einfach es ist, einen deutschen Pass zu bekommen. Ein Witz besagt, dass es einfacher sei, einen deutschen Pass zu bekommen als ein US-Visum. In Ägypten traf ich sogar Menschen mit deutschen Pässen, die sich nur auf Englisch verständigen konnten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert