Kriegsverbrechen an Deutschen: Nemmersdorf 1944

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel: „Nemmersdorf wurde zum Menetekel des Schreckens“ am 16.10.2024 auf JF-Online.
von Thorsten Hinz
Im Herbst 1944 verübten Sowjets im ostpreußischen Nemmersdorf grausame Kriegsverbrechen. Die deutsche Propaganda mußte angesichts der dort vorgefundenen Greueltaten nichts erfinden.

Am 16. Oktober 1944 begann auf breiter Front der Angriff der Roten Armee, der ins Innere Ostpreußens zielte. Erbitterte Gegenwehr brachte die Übermacht ein letztes Mal zum Stehen, doch die Frontlinie lag nun diesseits der Reichsgrenze. Bereits im August hatte die Wehrmacht auf die Evakuierung der Bevölkerung aus den östlichen Teilen Ostpreußens gedrängt, doch Gauleiter Erich Koch wollte von einem Räumungsbefehl nichts wissen. So nahm der Schrecken seinen Lauf.

Nemmersdorf, eine 600-Seelen-Gemeinde südlich der Kreisstadt Gumbinnen an der Angerapp, bildete den Auftakt. Die Brücke über den Fluß verlieh dem Ort strategische Bedeutung. Am Freitag, dem 20. Oktober, herrschte hier Chaos. Flüchtlingstrecks und Militärtransporte blockierten sich gegenseitig. Die meisten Bewohner schlossen sich den Trecks an, einige warteten ab. Am 21. Oktober morgens um sechs begann die Beschießung, um 7.30 Uhr drangen sowjetische Soldaten über die Angerapp-Brücke in Nemmersdorf ein.

Bei Beginn der Kämpfe hatten sich vierzehn Dorfbewohner und Flüchtlinge in einen Unterstand begeben. Als ein von Flugzeugen unterstützter deutscher Gegenangriff erfolgte, suchten auch russische Soldaten den Bunker auf. Nach dem Abflauen der Kampfhandlungen befahlen sie den Zivilisten – Frauen, Kinder und alte Männer –, den Bunker zu verlassen. Sofort eröffneten sie das Feuer. Nur eine junge Frau überlebte, weil der Kopfschuß, den sie erhalten hatte, durch den Mund wieder heraustrat.

Alliierte bezeichneten Nemmersdorf-Bericht als Fälschung

Am 23. Oktober gegen 4.30 Uhr zogen die Russen sich auf die andere Seite der Angerapp zurück. Den nachrückenden deutschen Soldaten boten sich Bilder des Grauens. Die dreizehn ermordeten Bunkerinsassen waren nicht die einzigen Toten, die Gesamtzahl lag mindestens doppelt so hoch. Am 27. Oktober traf eine internationale Ärztekommission ein. Die Untersuchungsergebnisse wurden am 31. Oktober in der Berliner Charité vorgestellt. Der Völkische Beobachter startete eine Artikelserie unter der Überschrift „Das Wüten der sowjetischen Bestien – Furchtbare Verbrechen in Nemmersdorf“. Reihenweise seien „geschändete und ermordete Mädchen“ vorgefunden worden. „Lebend an die Wand genagelt – bisher 61 Opfer des bolschewistischen Mordterrors“, lautete eine andere Schlagzeile. Nemmersdorf sollte zum Fanal des Widerstands werden, doch es wurde zum Menetekel.

Propagandaminister Goebbels notierte am 3. November 1944: „Im übrigen leisten die Sowjets sich den schaurigen Scherz, ihre von uns festgestellten Greueltaten in Ostpreußen als deutsche Erfindung zu bezeichnen und darüber hinaus zu behaupten, daß wir Zivilisten (…) selbst erschießen lassen, um Tote für die Wochenschau zu haben.“ Sie würden eben von sich auf andere schließen. Die russische Taktik war vorerst erfolgreich. Das britische Außenministerium machte sich die Darstellung zu eigen, und noch die US-Ankläger im Nürnberger Prozeß hielten die Nemmersdorf-Berichte für gefälscht („faked“). Die Protokolle der internationalen Untersuchungskommission sind verschollen, nur die Fotos blieben erhalten.

In der von der Bundesregierung herausgegebenen Dokumentation zur Vertreibung wird die Zahl der Toten von Nemmersdorf mit 62 oder 72 angegeben. 1997 veröffentlichte der Historiker Bernhard Fisch das Buch „Nemmersdorf, Oktober 1944“. Fisch, selber Ostpreuße, war im Oktober 1944 nach Nemmersdorf abkommandiert worden. Fünfzig Jahre später befragte er überlebende Zeugen und überprüfte die vorliegenden Berichte und Darstellungen. Sein Ehrgeiz, nebenbei auch Geschichtslegenden aus dem Kalten Krieg zu widerlegen, verleitete ihn zu einigen abstrusen Schlußfolgerungen. Doch sein Buch enthält aufschlußreiche Details. Er wies nach, daß sich in einigen der Nemmersdorf-Berichte Erlebtes und Gehörtes vermischten und die ursprünglich genannte Zahl von über 60 Toten die Opfer aus den Nachbardörfern Tutteln und Alt-Wusterwitz mit einschließt.

Die Goebbels-Propaganda mußte im wesentlichen nichts erfinden

Zudem befragte er den Schriftsteller Harry Thürk, der in der DDR als „Ost-Konsalik“ populär war. Thürk hatte zu den ersten Soldaten gehört, die am 23. Oktober 1944 in Nemmersdorf eingerückt waren. Ausdrücklich bestätigte er ein besonders scheußliches, heute vehement bestrittenes Detail: „An einem Scheunentor, am rechten Torflügel, war eine Frau angenagelt.“ In Guido Knopps Buch „Die große Flucht“ faßte Thürk rückblickend zusammen, daß „das Ganze“ von der Goebbels-Propaganda im wesentlichen nicht erfunden werden mußte: „Man hatte ihnen die Leichen und das, was dort geschehen war, sozusagen auf dem Präsentierteller serviert.“

Jedenfalls steht Nemmersdorf für ein Kriegsverbrechen der Roten Armee, dem im deutschen Osten vor allem nach der Offensive im Januar 1945 noch viele weitere folgen sollten. Wobei zu bedenken ist, daß deutsche Truppen in der Sowjetunion verbrannte Erde hinterlassen hatten und die Rotarmisten nach jahrelangem Kampf verroht und von einem tiefen Rachebedürfnis erfüllt waren. In Rechnung zu stellen ist zudem die Brutalisierung der russischen Gesellschaft, die aus Zarenzeiten herrührte und sich unter Stalin weiter verschärfte.

Als nachträgliche Pointe sei vermerkt, daß das Russische Außenministerium im April 2022 den Meldungen über ein durch russische Soldaten verübtes Massaker bei Butscha unter Hinweis auf die vermeintliche Inszenierung des Nemmersdorf-Massakers entgegentrat. In Deutschland, wo die Vertreibungsgreuel jahrzehntelang verdrängt oder bagatellisiert wurden, entdeckt man unterdessen ihren kriegspsychologischen Nutzwert. Auch Nemmersdorf wurde in einigen Medien bereits als Butscha-Vorläufer zitiert. Glücklich kann man aus deutscher Sicht diese Wendung nicht nennen.

Foto: Deutsche Soldaten bergen die Leichen der in Nemmersdorf von der Roten Armee ermordeten Zivilisten Foto: picture-alliance / akg-images | akg-images

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