Selenskyjs Spiel mit dem nuklearen Feuer

von Dr. Walter Post

Die NATO und die Ukraine am Scheideweg

Ein grundlegendes Problem bei der Analyse aller militärischen Konflikte sind die Zahlen. Das gilt sowohl für die Kriege der Vergangenheit wie die der Gegenwart. Offizielle Zahlen sind oft ungenau oder aus propagandistischen Gründen manipuliert. Eine mehr oder weniger gute Annäherung an die Realität erzielt man erfahrungsgemäß nur dann, wenn man Zahlen aus verschiedenen Quellen kritisch gegeneinander abwägt. Aus diesen Gründen ist es höchst begrüßenswert, daß das renommierte  „Kieler Institut für Weltwirtschaft“ im September 2024 eine Untersuchung mit dem Titel „Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Europas und Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Russland“ veröffentlichte.[1] In dem Kieler „Report“ werden die Zahlen zur russischen Rüstung zusammengefaßt, die derzeit innerhalb der NATO in Umlauf sind. In seiner Einleitung stellt der Kieler „Report“ fest:

„Europa muß sich der Tatsache stellen, dass sich auf europäischem Boden erneut ein langanhaltender Zermürbungskrieg abspielt. … In einem Zermürbungskrieg sind drei Faktoren von zentraler Bedeutung für seinen Ausgang: (1) die politische Bereitschaft, den Krieg aufrechtzuerhalten; (2) die Produktionskapazitäten, um das notwendige militärische Material für die Aufrechterhaltung und den Aufbau von Streitkräften zu liefern (neben der Fähigkeit, Soldaten zu rekrutieren und auszubilden … ); und (3) die verfügbaren finanziellen Mittel und die Kosten der erworbenen Ausrüstung. … In der Zwischenzeit ist der militärisch-industrielle Komplex Russlands auf dem Vormarsch. Nach Angaben des ranghöchsten US-Offiziers in Europa, General Cavoli, ist Rußland auf dem besten Weg, über 1.200 neue Kampfpanzer pro Jahr zu produzieren oder zu überholen und mindestens 3 Millionen Artilleriegranaten oder Raketen pro Jahr herzustellen – mehr als das Dreifache der von den USA zu Beginn des Krieges geschätzten Menge – und mehr Munition als die gesamte NATO zusammen.“[2] Das russische Aufrüstungsprogramm und der Aufwuchs der Streitkräfte werden, so das Kieler Institut, Folgen haben, die über den Ukrainekonflikt weit hinausreichen: „Über den Krieg hinaus wird sich der Anstieg der russischen Produktion seit 2022 in einem größeren, besser ausgerüsteten und erfahreneren russischen Militär in der Nachkriegszeit niederschlagen.“[3]

Die russische Rüstungsproduktion ist seit dem vierten Quartal 2022 im Bereich aller Waffensysteme stark gestiegen. Die vom Kieler Institut erstellte folgende Tabelle zeigt die Gesamtproduktionsraten für die wichtigsten Systeme der Landkriegsführung pro Quartal. Dabei wird auch die Lancet- Langstrecken-Drohne mit einbezogen, da sich dieses Waffensystem als äußerst wirkungsvoll erwiesen hat:[4]

Tabelle  Russische vierteljährliche Produktion der wichtigsten Waffensysteme Quartal Panzer (MBT) Andere gepanzerte Fahrzeuge (IFV/APC/IMV) Artillerie (Geschütz) Artillerie (Rakete MLRS) Kurzstrecken- Luftverteidigung (SHORAD) Mittel- und Lang-strecken-Luftverteidigung Lancet „Lauernde Lenk-waffen“
Q4 2022 123 585 45 15 9 6 93
Q1 2023 186 814 62 23 11 8 128
Q1 2024 360 1290 102 36 27 12 440
Q2 2024 387 1409 112 38 27 12 535
Erhöhung 215% 141% 149% 153% 200% 100% 475%

Bisher, so das Kieler Institut, seien etwa 80 Prozent der russischen Produktion von gepanzerten Fahrzeugen durch Generalüberholung und Modernisierung von Fahrzeugen aus Depotbeständen der Sowjetära erzielt worden. Bei der NATO rechnet man damit, daß diese Bestände irgendwann erschöpft sind, aber das Kieler Institut warnt, daß die russisiche Produktion bis 2026 wahrscheinlich bei 350 völlig neu gebauten Kampfpanzern pro Jahr liegen werde, außerdem könnten die Russen ohne langen Vorlauf neue Fertigungsstraßen eröffnen.[5]

Bei der Produktion von Munition habe sich die Lage „dramatisch verändert“, Rußland habe jetzt „dank der nordkoreanischen Bestände und Produktion ein starkes Überangebot“. Man geht davon aus, daß die Russische Armee in der Ukraine täglich im Durchschnitt 10.000 Artilleriegranaten verschießt. Selbst wenn die russische Produktion auf 3 bis 3,5 Millionen Granaten pro Jahr gesteigert werde, sei die Zahl von 10.000 täglich verschossenen Granaten nicht durchzuhalten.[6]

Allerdings kommt nun Nordkorea ins Spiel. Bis Mitte 2024 hat Nordkorea nach westlichen Schätzungen aus seinen Beständen bis zu 4,8 Millionen Granaten und Raketen geliefert, die Jahresproduktion Nordkoreas wird auf 2 Millionen veranschlagt. Die nordkoreanische Produktion ist insbesondere für die Bevorratung von Artilleriemunition zur Vorbereitung großer Offensiven von Bedeutung, bei denen täglich 60.000 oder mehr Granaten verfeuert werden. Nordkorea liefert auch eine Reihe von eigenen Raketen nach Russland, um das umfangreiche und hocheffektive Arsenal an russischen „Iskander“-Kurzstreckenraketen zu ergänzen.[7]

Ein besonderes Merkmal des Krieges in der Ukraine ist der massive Einsatz von russischen Überschall- und Hyperschallflugkörpern, der mittlerweile den Umfang einer „strategischen Bombenkampagne“ erreicht habe. Die Folgen seien darmatisch: die ukrainische Luftabwehr ist „erschöpft“, Logistikknoten und Kommandozentralen sind „zerstört“ und fast alle Kraftwerke „lahmgelegt“. Die Kieler halten fest: „Überschall- und Hyperschallraketen unterscheiden sich von westlichen Unterschall-Marschflugkörpern dadurch, daß sie nur schwer oder gar nicht abzufangen sind und eine deutlich höhere Zerstörungskraft haben.“[8]

Die ganze Misere der westlichen, insbesondere der deutschen Aufrüstungspläne, läßt sich daran ermessen, wie lange es dauern würde, bis die Bundeswehr wieder den Ausrüstungsstand des Jahres 2004 erreichen könnte. Das Kieler Institut schreibt: „Nimmt man das Bestelltempo der letzten zweieinhalb Jahre, so würde es mehr als 10 Jahre dauern, bis Deutschland den Bestand an Kampfflugzeugen von 2004 erreicht hat, und über 40 Jahre für Kampfpanzer. Am auffälligsten ist, daß der Bestand an Haubitzen von 2004 erst nach 100 Jahren erreicht werden würde.“[9] Das Kieler Insitut stellt außerdem fest, daß bei einer Verschußrate von 10.000 Granaten täglich, wie sie bei der Russischen Armee üblich ist, die gesamten Vorräte der Bundeswehr innerhalb von zwei Tagen verbraucht wären.

Die Produktion von  Artilleriesystemen bleibe, so das Kieler Insitut, sowohl in Deutschland wie in Europa nach wie vor „gering“. Nach Angaben des französischen Verteidigungsministeriums hat „Nexter“ (seit 2024 „KNS“) zu Beginn des Ukraine-Konflikts, im Februar 2022, jeden Monat zwei CAESAR-Haubitzen im Kaliber 155 mm fertiggestellt. Im Oktober 2023 war das Unternehmen in der Lage, monatlich sechs CAESAR-Haubitzen zu produzieren. Die Herstellung der deutschen Panzerhaubitze 2000 wurde von „Rheinmetall“ erst im Juni 2024 wieder aufgenommen, die ersten Lieferungen sind für Mitte 2025 geplant. Das Kieler Institut schätzt, daß die Produktion bei fünf bis sechs PzH 2000 pro Jahr (!) liegen wird. Zum Vergleich: Die russische Fertigung von Panzerhaubitzen liegt derzeit bei jährlich 480 Stück. Obwohl Mehrfachraketenwerfer-Systeme sich in der Ukraine als äußerst wirksam erwiesen haben, haben die europäischen Staaten noch keine neuen Systeme dieses Typs bestellt.[10]

Soweit der Kieler „Report“. Aber auch auf dem Gebiet der Personalstärke entwickelt sich die Lage für die Russischen Streitkräfte sehr günstig. Westliche Beobachter schätzen, daß sich derzeit monatlich etwa 30.000 neue Freiwillige zum Dienst in der Russischen Armee melden, weit mehr als nötigt ist, um die laufenden Verluste auszugleichen.[11]

Die Internetseite „Mediazona“ vertritt die anti-Putinistische russische Opposition im westlichen Ausland und versucht seit Beginn des Ukrainekonfliktes die Zahl der gefallenen russischen Soldaten anhand von Todesanzeigen, Nachrufen etc. zu erfassen. „Mediazona“ hat 2024 für den Zeitraum 4. Januar bis 9. Oktober 12.929 russische gefallene Soldaten registriert.[12] Wenn man für jeden Gefallenen vier Verwundete hinzurechnet, ergibt dies ca. 13.000 Gefallene plus 52.000 Schwer- und Leichtverwundete, zusammen 65.000 Ausfälle. 30.000 neue Freiwillige pro Monat ergibt in neun Monaten (Januar – September) 270.000 Mann, d.h. Die russischen Streitkräfte sind seit Beginn des Jahres 2024 ungeachtet ihrer Verluste um mindestens 200.000 Mann gewachsen.

Die Personaldecke der ukrainischen Streitkräfte wird dagegen immer dünner: Selbst nach der Verabschiedung eines neuen Mobilmachungsgesetzes im Mai 2024 durch das ukrainische Parlament, die „Werchowna Rada“, ist ihr Pool an in Ausbildung begriffenen Ersatztruppen um mehr als 40 Prozent geschrumpft, derzeit stehen nur 20.000 Mann Reserven in Ausbildung. Wegen des Mangels an Nachersatz sind die Fronttruppen sowohl physisch wie psychisch erschöpft, Desertionen und Gehorsamsverweigerung nehmen zu. Die Versuche der Ukraine, ihre Rekrutierungsquoten zu verdoppeln, waren bisher wenig erfolgreich, da viele Wehrpflichtige es vorziehen, sich zu verstecken oder die Ukraine zu verlassen.[13]

Im Februar 2022 marschierte die Russische Armee mit weniger als 100.000 Mann in die Ukraine ein, die Truppen waren in taktische Bataillonsgruppen d. h. in Friedensformationen, gegliedert.  Die ukrainische Armee hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 260.000 Mann, denen sich bald eine große Zahl von Freiwilligen anschließen sollte. Gegenwärtig, im Herbst 2024, haben die russischen Streitkräfte in der Ukraine einen Umfang von ca. 800.000 Mann und sind kriegsmäßig in Brigaden gegliedert. Außerdem stehen in Südrußland und in Belarus weitere russische Großverbände in Armeestärke. Es gibt auf russischer Seite genügend Reserven, um die Fronttruppen alle paar Tage abzulösen, d.h. ihnen regelmäßig Ruhepausen zu gönnen.

Das ukrainische Militär ist ebenfalls im Umfang gewachsen, aber das Wachstum betraf vor allem die rückwärtigen Dienste, Logistiktruppen und Stabsformationen. Die ukrainischen Fronttruppen sind tatsächlich erheblich geschrumpft und werden jetzt auf weniger als 100.000 Mann geschätzt. Diese Soldaten sind mittlerweile stark demotiviert, ihnen fehlen zunehmend erfahrene Führer und sie liegen seit Wochen, wenn nicht Monaten, ohne Ablösung in ihren Stellungen.

Der Mangel an Artilleriemunition war für die ukrainische Armee seit jeher ein Problem, aber die Situation scheint sich in letzter Zeit etwas  gebessert zu haben. Es gibt jetzt ausreichend Nachschub, aber das liegt u.a. daran, daß die Zahl der ukrainischen Artilleriegeschütze durch die laufenden Verluste geschrumpft ist. Fast die Hälfte der ukrainischen Artilleriesysteme, die in den russischen Tagesberichten als vernichtet gemeldet werden, sind mittlerweile ausländischer Herkunft. Geschütze vom Typ D-20 und D-30 aus der Sowjetära, die einst das Rückgrat der ukrainischen Artillerieformationen bildeten, sind noch nicht selten, werden aber immer weniger.

Was für die ukrainische Armee jedoch wirklich katastrophale Auswirkungen hat, ist die massive russische Überlegenheit an Artillerie und Drohnen sowie die nahezu uneingeschränkte Luftherrschaft. Von den russischen Drohnen vom Typ „Shahed“ bzw. „Geran“ 2“[14] kommen mittlerweile mehr als 50 pro Tag gegen die ukrainische Infrastruktur und Industrie zum Einsatz. Die „Shahed“ sind eigentlich nur billige Einweg-Drohnen, aber durch ihre schiere Zahl können sie die ukrainische Luftabwehr überwältigen, die damit von der Bekämpfung der hochwertigen russischen Drohnen, Marschflugkörper und Raketen abgelenkt wird. Die Lage der ukrainischen Flugabwehr ist aufgrund des Mangels an Luftabwehrraketen ohnehin prekär.

Ein noch größeres Problem sind die russischen Gleitbomben, von denen pro Tag durchschnittlich

140 abgeworfen werden. Bei den FABs („Fugasnaja Awiazionnaja Bomba“, deutsch „Spreng-Fliegerbombe“) handelt es sich um einfache ungelenkte Fliegerbomben aus der Sowjetära, die mittels eines modernen Rüstsatzes in präzisionsgelenkte Gleitbomben verwandelt werden. Diese werden von Kampfflugzeugen in Entfernungen von 60 bis 120 Kilometern vor dem Ziel ausgeklinkt und ins Ziel gesteuert, wobei das Flugzeug in der Regel  außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftabwehr bleibt. Die FABs gibt es derzeit in den Gewichtsklassen 500 kg, 1.500 kg und 3.000 kg. Die Wirkung insbesondere der 1.500 kg und 3.000 kg-FABs gegen ukrainische Stellungen, Feldbefestigungen und Bunker soll absolut verheerend sein.[15]

Die russische Offensive 2024 in Süd-Donezk hat die Ukrainische Armee aus ihren gut befestigten Stellungen vertrieben, die sie seit Kriegsbeginn behauptet hatte: Ugledar, Krasnogorowka und Awdejewka sind gefallen, und Torezk (die nördlichste dieser Festungsstädte) ist umkämpft. Die beiden Städte, die früher als wichtige Stützpunkte der Ukrainischen Armee im Hinterland fungierten, Pokrowsk und Kurachowo, sind mittlerweile zu Frontstädten geworden.

Die letzte erfolgreiche Offensive der Ukrainischen Armee liegt mehr als zwei Jahre zurück, seither hat sie eine ununterbrochene Kette von Niederlagen hinnehmen müssen: die vergebliche Verteidigung von Bachmut und Awdejewka, die gescheiterte Großoffensive 2023 bei Robotyne, der desaströse Überraschungsangriff auf Kursk und der Zusammenbruch der ukrainischen Stellungen im südlichen Donbaß.[16]

Aus den Bulletins des russischen Verteidigungsministeriums geht hervor, daß fünf russische Armeegruppen auf den fünf Operationsachsen der Hauptfront im Donbaß stetig und mit zunehmendem Tempo vorrücken. In der Ukraine kursieren derweilen Gerüchte, daß die Russische Armee für den kommenden Winter eine Großoffensive in Richtung auf die Stadt Saporoschje plane. Dazu soll auch ein Bericht des deutschen Bundesnachrichtendienstes vorliegen. Dieser Quelle zufolge sollen die für die Offensive bestimmten russischen Truppen ihre Ausbildung auf einem der Übungsgelände bereits abgeschlossen haben. Da die Operationen über offenes Gelände führen sollen, sind diese Truppen mit einer ungewöhnlich großen Zahl von Kampf- und Schützenpanzern ausgestattet. Dieser Bericht wird indirekt dadurch bestätigt, daß auf ukrainischer Seite bei Dnipro und Pawlograd umfangreiche Feldbefestigungen errichtet werden.[17]

Seit Beginn der Kämpfe im Raum Kursk hat die Ukrainische Armee dort nach Angaben des Russischen Verteidigungsministeriums 29.100 Mann, 180 Kampfpanzer, 101 Schützenpanzer, 106 gepanzerte Mannschaftstransportwagen, 1.063 gepanzerte Fahrzeuge, 780 ungepanzerte Fahrzeuge, 255 Artilleriesysteme, 40 Mehrfachraketenwerfer, 10 Flugabwehrraketensysteme und 39 Pionierpanzer verloren.[18] An dem Vorstoß auf Kursk waren insgesamt 14 ukrainische Brigaden mit zusammen 50.000 Mann beteiligt, die jetzt mehr oder weniger aufgerieben sind.[19]

Seit Beginn der „Besonderen Militärischen Operation“ im Februar 2022 haben die Ukrainischen Streitkräfte laut Russischem Verteidigungsministerium 647 Flugzeuge, 283 Hubschrauber, 35.169 Drohnen, 585 Flugabwehr-Raketensysteme, 19.023 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 1.484 Mehrfachraketen-werfer, 17.176 Feldgeschüzte und Mörser sowie 27.930 Militärfahrzeuge aller Art verloren.[20]

 In den vergangenen Wochen wurde in den westlichen Medien ausführlich über die Anwesenheit nordkoreanischer Truppen in Rußland und der Ukraine berichtet bzw. spekuliert. Falls es sich nicht nur um Desinformation oder ein Ablenkungsmanöver handelt, ergeben sich theoretisch folgende Möglichkeiten:

  1. Nordkoreanische Truppen wurden zur Ausbildung nach Sibirien geschickt, mit dem Ziel, den Westen zu verunsichern, es besteht jedoch nicht die Absicht, sie tatsächlich an die Front in der Ostukraine zu schicken.
  2. Nordkoreanische Truppen leisten irgendwo in Frontnähe in begrenztem Umfang logistische Unterstützung, um Erfahrungen zu sammeln und die Partnerschaft mit Rußland zu stärken.
  3. Nordkoreanische Truppen beabsichtigen tatsächlich, sich an den Kämpfen an der Front in der Ostukraine oder im Kursk-Oblast zu beteiligen, um der NATO die Botschaft zu übermitteln, daß Moskau nunmehr genug hat und alle westlichen Provokationen symmetrisch oder asymmetrisch beantworten wird.

Laut dem Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes HUR, General Kyrylo Budanow, soll Ende Oktober ein Kontingent von 2.600 nordkoreanischen Soldaten in die russische Region Kursk verlegt worden sein.[21] Manche Beobachter haben den Eindruck, daß das systematische Hochspielen der Anwesenheit von nordkoreanischen Truppen durch die westliche  Presse in erster Linie dazu dient, von den ukrainischen militärischen Niederlagen bei Selidowo, Torezk und Ugledar abzulenken.[22] Der russische Botschafter bei der UNO, Wassili Nebensia, äußerte sich am 27. Oktober vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Frage der Anwesenheit nordkoreanischer Truppen in Rußland wie folgt:

„Ich möchte betonen, daß die russische Zusammenarbeit mit der Demokratischen Volksrepublik Korea im militärischen und anderen Bereich im Einklang mit dem Völkerrecht steht und keine Verletzung desselben darstellt. … Selbst wenn wir annehmen, daß sich alles, was unsere westlichen Kollegen über die militärische Zusammenarbeit zwischen Rußland und der Demokratischen Volksrepublik Korea behaupten, sich plötzlich als wahr erweisen sollte, warum versuchen die USA und ihre Verbündeten, der ganzen Welt die faule Logik aufzunötigen, daß sie das Recht haben, dem Selenskyj-Regime zu helfen und zu diesem Zweck das gesamte militärische und nachrichtendienstliche Potential der NATO zu mobilisieren, während Rußlands Verbündete dieses Recht nicht haben?“[23]

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj präsentierte am 16. Oktober 2024 seinen lang angekündigten „Siegesplan“ erstmals öffentlich in einer Rede vor der „Werchowna Rada“. Die wichtigsten Punkte lauten:

  1. Sofortige Einladung der Ukraine zum Beitritt in die NATO.
  2. Steigerung der ukrainischen Rüstungsproduktion und Erhöhung der Hilfe der westlichen Partner.
  3. Stationierung einer umfassenden nicht-nuklearen strategischen Abschreckungsstreitmacht auf ukrainischem Territorium, um die Ukraine vor jeder militärischen Bedrohung durch Rußland zu schützen.
  4. Verstärkung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Rußland, Selenskyj erklärte wörtlich: „Frieden wird durch wirtschaftliche Stärke und Druck auf Rußland erreicht: insbesondere durch die Begrenzung der Ölpreise und -exporte.“
  5. Frieden durch Stärke, dazu Selenskyj: „Nach dem Krieg werden wir eines der erfahrensten Militärkontingente haben. Leute mit militärischer Erfahrung, Erfahrung mit internationalen Waffen. Dies ist eine Garantie für die Sicherheit in Europa. Dies ist eine würdige Mission für unsere Helden.“

Der Siegesplan, so Selenskyj, sei eine Garantie dafür, daß die „Verrückten“ im Kreml die Fähigkeit verlieren, den Krieg fortzusetzen. Rußland müsse für alle Zeit die Kontrolle über die Ukraine entzogen werden.[24] Die NATO wird aufgefordert, die ukrainische Luftabwehr und die ukrainischen Heerestruppen wieder aufzubauen und ihre offensive Schlagkraft wiederherzustellen. Außerdem sollte die Ukraine durch die NATO-Mitgliedschaft und die westliche Ausbeutung der ukrainischen Naturschätze dauerhaft in den Westen integriert werden.[25]

Selenskyjs „Siegesplan“ enthält außerdem noch mehrere geheime Anhänge, von denen einer mittlerweile durch einen Artikel der „New York Times“ bekannt geworden ist. Selenskyjs fordert von den USA die umgehende Lieferung von strategischen Marschflugkörpern des Typs BGM-109 „Tomahawk“.[26] Dieses Waffensystem hat eine Reichweite von 2.400 km und kann Atomwaffen tragen. Die Programmierung und Bedienung der „Tomahawk“ könnte nur durch amerikanisches Personal erfolgen. Eine Stationierung von „Tomahawk“-Marschflugkörpern in der Ukraine würde wahrscheinlich einen russischen Präventivschlag mit taktischen Atomwaffen, mithin den dritten Weltkrieg, auslösen. Der Wunsch Selenskyjs stieß daher in Washington auf strikte Ablehnung. Der ukrainische Präsident soll auf die amerikanische Weigerung und die Veröffentlichung dieses geheimen Zusatzes höchst verärgert reagiert haben.

In seinem Gespräch mit dem 45. und künftigen 47. Präsidenten der USA, Donald Trump, am 27. September in New York hatte Selenskyj seinen „Siegesplan“ bereits näher erläutert und hinzugefügt, entweder nehme die NATO die Ukraine als Vollmitglied auf, oder die Ukraine werde sich Atomwaffen beschaffen.

Der Ukraine-Korrespondent der Boulevardzeitung „Bild“, Julian Röpcke, berichtete, ein anonymer hochrangiger ukrainischer Beamter habe erklärt, daß die Ukraine „innerhalb weniger Wochen“ eine Atombombe bauen könne. Der auf Rüstung spezialisierte Beamte habe in einer geschlossenen Runde geäußert: „Wir haben das Material, wir haben das Wissen. Wenn es die Vereinbarung gibt, brauchen wir nur wenige Wochen bis zur ersten Bombe.“ Der Westen solle sich „weniger um Rußlands rote Linien kümmern, sondern statt viel mehr über unsere roten Linien nachdenken“, warnte der Beamte. Laut Röpke habe Selenskyjs Aussage auf westliche Journalisten wie ein „Schock“ gewirkt. Er behauptete weiter, ein hochrangiger ukrainischer Beamter habe gegenüber Mitgliedern eines engen Kreises von Politikern und Beamten vor einigen Monaten geäußert, daß die Ukraine eine zweite Offensive der russischen Armee auf Kiew nicht mehr hinnehmen werde.

Nachdem dieser Bericht im Westen einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, war Selenskyjs Pressestelle gezwungen, ein offizielles Dementi von Röpckes Bericht zu veröffentlichen.

Selenskyj selbst sah sich gezwungen, seine Aussagen zu einer ukrainischen Atombombe zurückzunehmen.[27]

Selenskyj fordert in seinem „Siegesplan“ von der NATO nicht nur mehr Militär- und Finanzhilfe, sondern de facto eine direkte NATO-Intervention, wobei er die Gefahr einer nuklearen Eskalation und eines dritten Weltkrieges sehenden Auges in Kauf nimmt. In Washington scheint man sich zumindest im Pentagon darüber darüber im klaren zu sein, daß Selsnskjy ein höchst problematischer Verbündeter ist. Inwieweit diese Erkenntnis mittlerweile auch in die verschiedenen europäischen Regierungskanzleien vorgedrungen ist, bleibt abzuwarten.[28]

Der russische Präsident Wladimir Putin wurde während des Gipfetreffens der BRICS-Staaten in Kazan von Journalisten nach den Äußerungen Selenskyjs und dem Bericht der „Bild“-Zeitung befragt. Putin kommentierte diese Aussagen mit folgenden Worten:

„In der modernen Welt ist es nicht schwer, Atomwaffen herzustellen. Ich weiß nicht, ob die Ukraine jetzt dazu in der Lage ist. Für die Ukraine von heute ist das nicht so einfach. Aber insgesamt gibt es hier keine großen Schwierigkeiten, jeder versteht, wie das gemacht wird. Das ist eine gefährliche Provokation, denn natürlich wird jeder Schritt in diese Richtung eine entsprechende Reaktion nach sich ziehen, das ist der zweite Punkt. Und der dritte und wichtigste Punkt ist, daß die politische Führung der heutigen Ukraine schon vor dem Eintritt in die heiße Phase der Krise [vor Beginn der „Besonderen Militärischen Operation“] gesagt hat, daß die Ukraine Atomwaffen haben soll. Ich kann sofort sagen: Rußland wird das unter keinen Umständen zulassen.“

Was den derzeit im Westen diskutierten Punkt betrifft, die Ukraine im Austausch für ihre verlorenen Gebiete in die NATO aufzunehmen, so fuhr Putin fort, so gebe es nichts zu verhandeln:

„Das sind unsere Gebiete. Das sind die Volksrepublik Lugansk, die Volksrepublik Donezk, die Region Saporoschje und die Region Cherson. Zweitens: Darüber hinaus müssen wir zweifellos auch die Frage der Sicherung der langfristigen Sicherheitsinteressen Rußlands lösen. Wenn wir über irgendwelche Friedensprozesse sprechen, dann dürfen das keine Prozesse sein, bei denen es um einen Waffenstillstand für eine Woche, zwei Wochen oder ein Jahr geht, damit die NATO-Länder aufrüsten und sich mit neuer Munition eindecken können. Wir brauchen Bedingungen für einen langfristigen, nachhaltigen und dauerhaften Frieden, der allen Teilnehmern an diesem schwierigen Prozeß die gleiche Sicherheit bietet. Und das ist es, was wir anstreben müssen. Und daß mal irgendjemand von der Notwendigkeit sprach, Rußland eine strategische Niederlage zuzufügen, den Sieg über Rußland auf dem Schlachtfeld zu erringen, da sind die selbst schon zu der Überzeugung gelangt, daß das unmöglich, daß das unrealistisch ist.“[29]

Inwieweit die von Präsident Putin genannten Friedensbedingungen für die kommende Trump-Administration akzeptabel sind, wird die Zukunft erweisen.

Den Text können Sie hier als PDF herunterladen.

Anmerkungen:

[1] Kieler Institut für Weltwirtschaft: Kiel Report No. 1 September 2024; Guntram B. Wolff, Alexandr Burilkov, Katelyn Bushnell, Ivan Kharitonov: Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Europas und Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Russland.

https://www.ifw-kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/IfW-Publications/fis-import/1bcebf8c-84e8-4f3d-a7d3-1793b3ba9850-Kiel_Report_Nr_1.pdf

[2] Ebenda, S. 11

[3] Ebenda, S. 22

[4] Ebenda, S. 23

[5] Ebenda, S. 24 f.

[6] Ebenda, S. 26

[7] Ebenda, S. 27

[8] Ebenda, S. 29

[9] Ebenda, S. 8

[10] Ebenda, S. 51

[11] The Forest and the Trees: Ukraine’s Strategic Dissipation. Russo-Ukrainian War: Autumn 2024

Big Serge 31.10.2024; https://bigserge.substack.com/p/the-forest-and-the-trees-ukraines

[12] Russian losses in the war with Ukraine. Mediazona count, updated

https://en.zona.media/article/2022/05/20/casualties_eng

[13] The Forest and the Trees: Ukraine’s Strategic Dissipation. Russo-Ukrainian War: Autumn 2024

Big Serge 31.10.2024; https://bigserge.substack.com/p/the-forest-and-the-trees-ukraines

[14] Die „Shahed“ 136 ist eine ursprünglich iranische Entwicklung, die in Rußland als „Geran“ 2“ in Lizenz gebaut wird.

[15] How Russia Is Overwhelming Ukrainian Frontlines; Moon of Alabama, 26.10.2024;

https://www.moonofalabama.org/2024/10/there-seems-to-be-a-bit-of-a-panic-along-the-ukrainian-front-lines-several-units-for-lack-of-men-have-recently-left-positi.html#more

[16] The Forest and the Trees: Ukraine’s Strategic Dissipation. Russo-Ukrainian War: Autumn 2024

Big Serge 31.10.2024; https://bigserge.substack.com/p/the-forest-and-the-trees-ukraines

[17] SITREP 11/2/24: Another Big Tone Change as West Now Fears Ukraine’s Doom; Simplicius the Thinker 3.11.2024; https://simplicius76.substack.com/p/sitrep-11224-another-big-tone-change

[18] Russian Defence Ministry reports on repelling AFU attempt to invade Russian territory in Kursk region (2 November 2024); https://eng.mil.ru/en/special_operation/news/more.htm?id=12535546@egNews

[19] Andrei Martyanov: Russia Set to DESTROY Ukraine’s Army! Turkey Joins BRICS – Is This the FINAL Blow? Dialogue Works, 24.10.2024; https://www.youtube.com/watch?v=Ujwv899QDh0

[20] Russian Defence Ministry reports on the progress of the special military operation (2 November 2024); https://eng.mil.ru/en/special_operation/news/more.htm?id=12535532@egNews

[21] BRICS 2024 Kazan Special Coverage; Simplicius the Thinker 25.10.2024

https://simplicius76.substack.com/p/brics-2024-kazan-special-coverage

[22] Ukraine military slow motion disaster; The Duran 31.10.2024

https://www.youtube.com/watch?v=vlg7_D-Lu9s

[23] Military interaction with N Korea doesn’t breach int’l law: Russia UN envoy; Al Jazeera 30.10.2024; https://www.aljazeera.com/news/2024/10/30/military-interaction-with-n-korea-doesnt-breach-intl-law-russia-un-envoy

[24] The Grand Poobah’s Not-So-Grand Victory Ploy Unveiled; Simplicius the Thinker, 17.10.2024

https://simplicius76.substack.com/p/the-grand-poobahs-not-so-grand-victory

[25] The Forest and the Trees: Ukraine’s Strategic Dissipation. Russo-Ukrainian War: Autumn 2024

Big Serge 31.10.2024; https://bigserge.substack.com/p/the-forest-and-the-trees-ukraines

[26] Zelenskiy strongly hints Ukraine seeking Tomahawk missiles from U.S.; Reuters, 30.10.2024;

https://www.reuters.com/world/europe/zelenskiy-strongly-hints-ukraine-seeking-tomahawk-missiles-us-2024-10-30/;

[27] Zelensky Once More Puts Allies Under Nuclear Shadow; Simplicius the Thinker 19.10.2024

https://simplicius76.substack.com/p/zelensky-once-more-puts-allies-under

[28] Zelensky wants Tomahawk missiles; The Duran 2.11.2024;

https://www.youtube.com/watch?v=qHvf7HsBWG0;

[29] Wie das russische Fernsehen über Selenskys „nukleares Ultimatum“ berichtet; Anti-Spiegel 21.10.2024; https://anti-spiegel.ru/2024/wie-das-russische-fernsehen-ueber-selenskys-nukleares-ultimatum-berichtet/

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