„Oreschnik“

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von Dr. Walter Post

Die „Haselnuß“ und die Eskalationsdominanz

Das russische Verteidigungsministerium gab am 19. November 2024 bekannt, daß die Ukraine in der Nacht zuvor sechs US-amerikanische Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS auf ein Munitionsdepot in der russischen Grenzregion Brjansk abgefeuert hat. Fünf der sechs Raketen wurden von der russischen Flugabwehr abgeschossen, die sechste beschädigt, der von ihr angerichtete Schaden war begrenzt. Kurz darauf wurden insgesamt zwölf britische „Storm-Shadow“-Marschflugkörper sowie etliche HIMARS-Raketen auf ein Hauptquartier der russischen Armee im Raum Kursk abgefeuert. Das Hauptquartier wurde nach russischen Angaben nicht getroffen, allerdings gab es Verluste unter den Sicherungstruppen. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hielt diese beiden Angriffe für so wichtig, daß er sie in seiner Fernsehansprache vom 21. November 2024 ausrücklich erwähnte:

„Am 19. November haben sechs in den USA hergestellte operativ-taktische ATACMS-Raketen und am 21. November während eines kombinierten Raketenangriffs der in Großbritannien hergestellten Systeme Storm Shadow und der in den USA hergestellten HIMARS militärische Ziele auf dem Territorium der Russischen Föderation in der Regionen Brjansk und Kursk getroffen. … Unsere Luftverteidigungssysteme haben diese Angriffe abgewehrt, sie haben die vom Gegner gesetzten Ziele offensichtlich nicht erreicht.

Ein durch herabstürzende Fragmente von ATACMS-Raketen verursachter Brand in einem Munitionsdepot in derRegion Brjansk wurde gelöscht; es gab keine Opfer oder ernsthafte Schäden. In der Region Kursk wurde ein Angriff auf einen der Kommandoposten unserer Gruppe Nord verübt. Infolge des Angriffs und der Flugabwehrschlacht kam es leider zu Opfern, zu Toten und Verletzten, unter dem Personal der äußeren Sicherheitseinheiten der Anlage.“[1]

Der britische Angriff mit den „Storm-Shadow“-Marschflugkörpern auf das Hauptquartier bei Kursk hing möglicherweise mit einem dortigen Besuch des russichen Verteidigungsministers Andrei Beloussow zusammen, was im Kreml natürlich besondere Verägerung hervorgerufen hat. Beloussow und der dortige Kommandeur Generaloberst Alexander Lapin blieben aber unverletzt.[2]

Admiral John Kirby, Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, gab auf einer Pressekonferenz in Washington am 25. November bekannt, daß die Ukraine vom Weißen Haus die Erlaubnis erhalten habe, Ziele im russischen Hinterland mit ATACAMS-Raketen anzugreifen.[3]

Da jeder Start von ATACMS-Raketen ohne Satellitenübertragung von Zieldaten und Einsatz von westlichem Personal nicht möglich ist, sind die USA bzw. die NATO zu direkten Kriegsteilnehmern im Ukrainekonflikt geworden.[4] Die Reaktion Moskaus ließ nicht lange auf sich warten.

Am 21. November 2024 trafen insgesamt 36 Gefechtsköpfe einer neuen russischen Mittelstreckenrakete bzw. eines Hyperschallflugkörpers die Raketenfabrik „Juschmasch“ im ukrainischen Dnjepropetrowsk. Diese neue Rakete, die von den Russen „Oreschnik“ („Haselnuß“) genannt wird, war im Westen bisher völlig unbekannt. Am folgenden Tag führte Präsident Putin In einer Fernsehansprache dazu aus:

„Als Reaktion auf den Einsatz amerikanischer und britischer Langstreckenwaffen haben die russischen Streitkräfte am 21. November dieses Jahres einen kombinierten Angriff auf ein Objekt des militärisch-industriellen Komplexes der Ukraine gestartet. Eines der neuesten russischen Mittelstreckenraketensysteme wurde unter Kampfbedingungen getestet, in diesem Fall mit einer ballistischen Rakete, die mit nichtnuklearer Hyperschallladung ausgestattet war. Unsere Raketenwissenschaftler haben sie ‚Oreschnik‘ genannt. Die Tests verliefen erfolgreich, das Ziel des Starts wurde erreicht. Auf dem Territorium der Ukraine wurde in der Stadt Dnjepropetrowsk einer der größten, seit derSowjetunion bekannten Industriekomplexe getroffen, der auch heute noch Raketentechnik und andere Waffen produziert.“[5]

Raketen werden im Allgemeinen nach ihrer Reichweite klassifiziert:

1. Kurzstreckenraketen (Short-Range Ballistic Missiles = SRBM) sind darauf ausgelegt, feindliche Streitkräfte in einem Umkreis      von bis zu 1.000 Kilometern zu bekämpfen.

  1. Mittelstreckenraketen (Intermedium-Range Ballistic Missiles = IRBM) erweitern die Einsatzreichweite auf etwa 3.500 Kilometer.
    3. Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missiles = ICBM) stellen die Kategorie mit der größten Reichweite dar, die mehr als 5.500 Kilometer beträgt. Diese Raketen dienen der strategischen Abschreckung.

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten die USA und die Sowjetunion auf Initiative des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU Michail Grobatschow den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme. Der INF-Vertrag[6] verbot alle nuklearen und konventionellen bodengestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper beider Nationen mit Reichweiten von 500–1.000 Kilometern (erweiterte Kurzstrecke) und 1.000–5.500 Kilometern (Mittelstrecke). Der Vertrag galt nicht für luft- oder seegestützte Raketen. Bis Mai 1991 hatten die beiden Nationen 2.692 Raketen außer Dienst gestellt und verschrottet, was von Waffeninspektoren vor Ort überprüft wurde.

Die Stationierung von Raketen mittlerer Reichweite  war verboten, die Entwicklung wurde jedoch fortgesetzt. Um das Jahr 2008 verwendete die Russische Föderation den Grundentwurf der Interkontinentalrakete RS-24 „Yars“, um eine flexibler einsetzbare Version mit einer geringeren Nutzlast zu entwickeln. Das Ergebnis war die RS-26 „Rubesch“. Diese hatte zwar die erforderliche Reichweite, um als Interkontinentalrakete zu gelten, aber ihre Nutzlast war für eine wirklich effektive Waffe zu gering. Anfang 2018 beschloss die Russische Föderation, die weitere Entwicklung der RS-26 einzustellen, und investierte ihr Geld in den vielversprechenderen Stratosphären-Hyperschallgleiter „Awangard“.

Der INF-Vertrag wurde am 1. Februar 2019 unter der Regierung Trump durch die USA mit der vorgesehenen sechsmonatigen Frist aufgekündigt. Der Grund dafür war aus der Sicht Washingtons die Notwendigkeit, einer chinesischen Aufrüstung im Pazifik, insbesondere im Südchinesischen Meer, entgegenzuwirken, da China dem INF-Vertrag nicht beigetreten war. Der Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag fiel jedoch mit dem Rückzug der USA aus dem ABM-Vertrag im Jahr 2002 zusammen, der eine Begrenzung der Raketenabwehr vorsah. Kurz darauf kündigten die USA an, in Osteuropa „Raketenabwehrsysteme“ zu stationieren. Diese können aber leicht so umfunktioniert werden, daß sie offensive Marschflugkörper auf Ziele in Rußland abschießen können. Im Juli 2024 kündigte die NATO an, daß die USA beabsichtigen, ab 2026 neue nuklearfähige Hyperschallraketen mittlerer Reichweite vom Typ „Dark Eagle“ in Deutschland zu stationieren. Dies würde genau jene gefährliche Situation wiederherstellen, die in den 1970ger und 1980er Jahren geherrscht hatte, als ein auf Europa beschränkter Atomkrieg ohne Beteiligung der USA möglich erschien.

Wenige Wochen nach besagter NATO-Ankündigung reagierte Wladimir Putin auf das von Washington und Berlin angekündigten Vorhaben:

„Die US-Regierung und die deutsche Regierung haben eine bemerkenswerte Erklärung zu ihren Plänen abgegeben, im Jahr 2026 US-Präzisionsraketensysteme mit großer Reichweite in Deutschland zu stationieren. Die Raketen könnten wichtige russische Staats- und Militäreinrichtungen, Verwaltungs- und Industriezentren sowie der Verteidigungsinfrastruktur erreichen. Die Flugzeit solcher Raketen, die in Zukunft mit Atomsprengköpfen ausgestattet werden könnten, zu Zielen auf unserem Territorium würde etwa zehn Minuten betragen.
Die Vereinigten Staaten haben bereits Übungen durchgeführt, um die Stationierung von Typhon-Raketensystemen von ihrem Territorium aus nach Dänemark und auf die Philippinen zu üben.
Diese Situation erinnert an die Ereignisse des Kalten Krieges im Zusammenhang mit der Stationierung amerikanischer ‚Pershing‘-Mittelstreckenraketen in Europa.
Wenn die Vereinigten Staaten diese Pläne umsetzen, betrachten wir uns als von dem zuvor angenommenen einseitigen Moratorium für die Stationierung von Mittel- und Kurzstreckenwaffen, einschließlich der Erhöhung der Fähigkeiten der Küstentruppen unserer Marine als nicht mehr gebunden. Heute steht die Entwicklung solcher Systeme in Rußland kurz vor dem Abschluß. Wir werden spiegelbildliche Maßnahmen ergreifen, um sie einzusetzen, und dabei die Aktionen der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten in Europa und in anderen Regionen der Welt berücksichtigen.“[7]

Der Angriff auf den „Juschmasch“-Industriekomplex in Dnjepropetrowsk am 21. November 2024 war die erste Demonstration des neuen russischen Waffensystems „Oreschnik“. Theodore A. Postol (Jahrgang 1946) ist ein amerikanischer Physiker, emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology und Spezialist für Nuklearwaffen und ihre Trägersysteme. Als Prof. Postol mit den Filmaufnahmen konfrontiert wurde, die den Einschlag der „Oreschnik“ in Dnjepropetrowsk zeigen, bemerkte er, daß er etwas derartiges noch nie gesehen habe. Er könne daher keine definitiven Aussagen zu diesem neuen Waffensystem machen, sondern nur einige mehr oder weniger gut begründete Hypothesen aufstellen.

Die „Oreschnik“  wurde offenbar vom russischen Testgelände Kapustin Jar gestartet, das im Oblast Astrachan an der Grenze zum Oblast Wolgograd liegt. Sie flog an Wolgograd vorbei, um schließlich in Dnjepropetrowsk niederzugehen und dort das riesige „Juschmasch“-Werk zu zerstören. „Juschmasch“ war früher einer der wichtigsten Hersteller von militärischen Großraketen in der Sowjetunion.

Die „Oreschnik“ legte nach Postol eine Strecke von 2.100 bis 2.200 km zurück, wobei sie nicht einer ballistischen Flugbahn folgte, sondern vielmehr in einer Höhe von 60 bis 70 km nahezu horizontal flog und dabei quasi auf der Erdatmosphäre „ritt“ (der Weltraum bzw. die Mesopause beginnt laut NASA in 80 km Höhe). Obwohl die Atmosphäre in dieser Höhe, die den Grenzbereich zum Weltraum bildet, äußerst dünn ist, genügt ihre Dichte, um den Flugkörper aufgrund der Reibungshitze in einem Plasmamantel fliegen zu lassen, der aufgrund seiner Leuchtkraft weithin sichtbar ist. Nach Meinung von Postol handelt es sich bei der „Oreschnik“ um einen Hyperschall-Flugkörper, der von einer Mittelstreckenrakete, vermutlich einer RS-26 „Rubesch“, auf seine Flugbahn gebracht wird. Die RS-26 verwendet Festbrennstoff und ist straßenmobil, sie kann kurzfristig aus getarnten Positionen abgefeuert werden. Der Hyperschallflugkörper selbst verwendet vermutlich ein „Scramjet“-Triebwerk, eine Variante des außenluftabhängigen Staustrahltriebwerks, wobei exotisch anmutende Baumaterialien und Treibstoffe verwendet werden. Die Amerikaner haben diese Technik bis heute nicht in den Griff bekommen.

Kurz vor Erreichen des Zieles stößt der Hyperschallflugkörper der „Oreschnik“ sechs unabhängig ins Ziel steuerbare Gefechtsköpfe aus, die als „MIRV“ bezeichnet werden. Das Akronym „MIRV“ steht für „Multiple independently targetable reentry vehicles“, deutsch „unabhängig zielbarer Mehrfach-Wiedereintrittskörper“. Jeder der sechs Gefechtsköpfe der „Oreschnik“ zerlegt sich wiederum in sechs „Bomblet“ oder „Penetratoren“, sodaß im Ergebnis insgesamt 36 Gefechstköpfe das Ziel mit Hyperschallgeschwindigkeit ansteuern. Die Gefechtsköpfe der „Oreschnik“ erreichen im Zielanflug eine Geschwindigkeit von Mach 10 bis Mach 12 (3.000 bis 3.500 m/sek), und allein ihre kinetische Energie  genügt, um im Ziel verheerende Wirkungen zu entfalten. Selbstverständlich können die Gefechtsköpfe und ihre Submunition auch konventionelle Sprengsätze tragen, ebenso ist der Einsatz von nuklearen Gefechtsköpfen und Täuschkörpern möglich.

Das neueste weltraumbasierte Frühwarnsystem der USA ist laut Prof. Postol in der Lage, mit Hilfe eines hochentwickelten Infrarot-System diesen Hyperschallflugkörper zu erfassen und seine Flugbahn auf ihrer gesamten Länge zu verfolgen. Ein Abfangen der „Oreschnik“ ist nach Postol mit der derzeitigen westlichen Technik allerdings nicht möglich.

Die USA entwickeln derzeit eine ähnliche Kombination von Mittelstreckenrakete und Hyperschallflugkörper, die ab 2026 in Deutschland stationiert werden soll. Ein großer Vorteil von Hyperschall-Flugkörpern ist für den Angreifer die drastisch reduzierte Vorwarnzeit, die gleichzeitig aber auch das größte Probleme darstellt, denn die Chancen auf die Auslösung eines Nuklearkrieges durch Versehen oder durch Unfall steigen erheblich. Die Vorwarnzeiten für eine in Rußland gestartete „Oreschnik“ liegen in Europa einschließlich Großbritannien bei unter 20 Minuten. Das bedeutet, daß nach Erfassung eines Hyperschall-Flugkörpers durch das eigene Radar bleibt praktisch keine Zeit mehr bleibt, um noch irgendwelche sinnvollen Entscheidungen zu treffen. Die Kündigung des INF-Vertrages durch die Regierung Trump 2017 war nach Meinung von Prof. Postol ein schwerer Fehler, derzeit sei Wladimir Putin der einzige bedeutende Politiker, der die Probleme, die diese Waffensysteme schaffen, wirklich verstanden hat.[8]

Europa ist gegenüber diesem neuen russischen Waffensystem, das jedes politische und industrielle Ziel in Europa mit verheerender Wirkung und innerhalb weniger Minuten Vorwarnzeit erreichen kann, völlig schutzlos.[9]

Der ukrainische Geheimdienst SBU hat das Gelände des „Juschmasch“-Werks in Dnjepropetrowsk vollständig abgesperrt und läßt keine Informationen nach außen dringen. Laut einem Washingtoner Insider sollen die Schäden enorm sein.[10] Tatsächlich wurden wichtige Teile des „Juschmasch“-Werks nach dem Zweiten Weltkrieg unter die Erde verlegt und mit massiven Betondecken geschützt, sodaß die unterirdischen Anlagen selbst Atombomben widerstehen können. Bei „Juschmasch“ wurde u.a. an der Entwicklung neuer ukrainischer Raketen gearbeitet.

Andrei Martyanov, ein ehemaliger Offizier der Sowjetmarine, der heute in den USA lebt, veröffentlichte dazu folgenden aus der Ukraine stammenden Bericht:

„Wie uns Einwohner von Dnjepropetrowsk jetzt berichten, gab es praktisch keine Explosionen, aber die Erschütterungen der Erde, wie bei einem Erdbeben, waren sogar einen Kilometer vom Werk entfernt zu spüren … Am Morgen war das Gebiet von Juschmasch bereits [vom SBU] völlig abgesperrt, alle detaillierten und wichtigen Informationen wurden blockiert und niemand wußte, was im Werk vor sich ging. Es gibt jedoch keine Geheimnisse, die nicht nach außen dringen – Informationen begannen aus Dnjepropetrowsk einzugehen. Wir haben die maximale Menge an Informationen gesammelt, um sie Ihnen zur Verfügung zu stellen, buchstäblich aus Krümeln, aus den Worten verschiedener Personen.
Wir sind uns durchaus bewußt, daß der Grad der Zuverlässigkeit dieser Informationen nicht absolut ist, aber hier ist die Zusammenfassung … Der Schlag traf das Gebiet zwischen den Werkshallen Nr. 7 und 8, im Bereich der Dreh- und Schmiedewerkstätten. Alle oberirdischen Gebäude und Bauwerke in diesem Bereich wurden in Schutt und Asche gelegt, an manchen Stellen blieben nur kleine Betontrümmer übrig. Es gibt keine großen Krater, sondern ein Dutzend Löcher im Boden mit einem Durchmesser von etwa zwei Metern. Augenzeugen beschreiben die Szene als unheimlich, apokalyptisch. Die Sicherheitskräfte rund um das Gelände beschlagnahmen alle Mittel zur Foto- und Videoaufzeichnung, sogar Stifte und Notizbücher wurden weggenommen. Man erzählt uns, daß ständig ‚Offizielle‘, die Englisch, Polnisch und Französisch sprechen, in Kleinbussen mit stark getönten Scheiben auf das Werksgelände kommen. Sie sagen, daß ein unbekannter Waffentyp genau jene unterirdischen Produktionsanlagen getroffen hat, mit denen Wolodymyr Selenskyj geprahlt hat, als er vom bevorstehenden Erscheinen einiger ‚gewaltiger Raketenwaffen‘ in den Streitkräften der Ukraine sprach. Aus den fragmentarischen Gesprächen der Rettungskräfte gewinnt man den Eindruck, daß bis zum 4. Untergeschoß eine Zone der völligen Zerstörung herrscht, die Retter konnten noch nicht nach weiter unten gelangen. Das sind die Informationen, die uns bis heute vom Ort des Geschehens erreicht haben. Wir versuchten, die offensichtlichen Absurditäten und Übertreibungen der ‚klassischen Zeugenaussagen‘ auszumerzen und haben nur das übrig gelassen, was unserer Meinung nach der Wahrheit entspricht.“[11]

In der bereits zitierten Rede vom 22. November, in der er die neuen militärischen Fähigkeiten Rußlands ankündigte, machte der russische Präsident Wladimir Putin auch ein Angebot, deren Verbreitung und Einsatz zu begrenzen:

„Der Test des ‚Oreschnik‘-Raketensystems unter Kampfbedingungen war eine Reaktion auf die aggressiven Aktionen der NATO-Staaten gegenüber Rußland. Über die Frage der weiteren Stationierung von Kurz-und Mittelstreckenraketen entscheiden wir abhängig vom Vorgehen der USA und ihrer Satelliten[-staaten]. Die Ziele zur Zerstörung bei weiteren Tests unserer neuesten Raketensysteme werden wir auf der Grundlage der Bedrohungen für die Sicherheit der Russischen Föderation bestimmen. Wir betrachten uns als berechtigt, unsere Waffen gegen militärische Ziele derjenigen Länder einzusetzen, die den Einsatz ihrer Waffen gegen unsere Ziele erlauben, und werden im Falle einer Eskalation der aggressiven Aktionen ebenso entschieden und in gleicher Weise reagieren. Ich empfehle den herrschenden Eliten jener Länder, die Pläne für den Einsatz ihrer Militärkontingente gegen Rußland schmieden, ernsthaft darüber nachzudenken.“[12]

Am 28. November 2024 nahm Präsident Putin an einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Staaten der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, kurz: OVKS[13], in Astana/Kasachstan teil. Putin nutzte die Gelegenheit, um in seiner Rede auch kurz über „das neueste Hyperschall-System ‚Oreschnik‘ in der nicht-nuklearen Version“ zu sprechen. In Reaktion auf die „Angriffe mit westlichen Waffen auf die Regionen Brjansk und Kursk mit ATACMS- und „Storm-Shadow-Raketen“ sei Rußland gezwungen gewesen, dieses System  „unter Gefechtsbedingungen“ zu testen:

„Auf der Welt gibt es natürlich keine Pendants zur ‚Oreschnik‘. Und ich denke, daß solche Pendants nicht so bald auftauchen werden. Weil Sie mich darum gebeten haben, lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, wie die Oreschnik funktioniert. Dutzende von Gefechtsköpfen, die ihre Ziele selbst finden, greifen das Ziel mit einer Geschwindigkeit von Mach 10 an, das sind etwa drei Kilometer pro Sekunde. Die Temperatur der Sprengköpfe erreicht 4.000 Grad Celsius. … Alles, was sich im Epizentrum der Explosion befindet, wird also fragmentiert, in Elementarteilchen zerlegt, im Grunde genommen zu Staub. Die Rakete trifft selbst stark geschützte und tief liegende Objekte.

Nach Ansicht von Militär- und Technikexperten ist die Kraft dieser Raketen im Falle eines massiven, gruppenweisen Einsatzes, also mehrerer ‚Oreschniks‘, eines Bündels von Raketen in einem Angriff, mit dem Einsatz von Atomwaffen vergleichbar. Dabei ist die ‚Oreschnik‘ sicherlich keine Massenvernichtungswaffe. Erstens, weil sie eine Präzisionswaffe ist, und das hat der Test am 21. November bestätigt, und zweitens, und das ist das Wichtigste, hat sie keine nukleare Ladung und somit gibt es nach dem Einsatz keine nukleare Verseuchung.

Wir haben heute einige einsatzbereite Muster dieser Art auf Lager. Und natürlich werden wir, wie bereits erwähnt, auf die andauernden Angriffe westlicher Langstreckenraketen auf russisches Territorium reagieren, auch indem wir die ‚Oreschnik‘ möglicherweise weiterhin unter Gefechtsbedingungen testen, wie es am 21. November geschehen ist.“[14]

Gegenwärtig seien das Verteidigungsministerium und der Generalstab der Russischen Armee  dabei, so Putin, Ziele in der Ukraine wie „militärische Einrichtungen, Unternehmen der Rüstungsindustrie oder Entscheidungszentren in Kiew“ auszuwählen. Rußland sei dazu berechtigt, da das Kiewer Regime bereits wiederholt versucht habe, staatliche Einrichtungen in St. Petersburg und Moskau anzugreifen.

Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden hat mit der Entscheidung, Angriffe mit ATACAMS-Raketen und „Storm-Shadow“-Marschflugkörpern auf Ziele im russischen Hinterland zu führen, den Versuch unternommen, Wladimir Putin in die Enge zu treiben und ihn letztlich vor die Alternative zu stellen: Rückzug oder Einsatz von Atomwaffen. Die Entwicklung der „Oreschnik“ ist zweifellos eine direkte Folge der Kündigung des INF-Vertrages. Mit dem überraschenden Einsatz dieses Waffensystems kann Moskau nun seinerseits im Konflikt mit der Ukraine und Europa jederzeit eskalieren, ohne auf Nuklearwaffen zurückgreifen zu müssen. Die „Eskalationsdominanz“ liegt nun eindeutig bei Moskau, nicht mehr bei Washington und Brüssel. Treibt der Westen den Konlikt in der Ukraine weiter auf die Spitze, bietet sich aus russischer Sicht als nächstes Ziel beispielsweise die neue amerikanische Raketenbasis bei Redzikowo in Polen an.[15]

Die Biden-Administration ist nur noch bis zum 20. Januar 2025 im Amt, und es stellt sich die Frage  was sie mit der beständigen Eskalation des Ukraine-Konflikts eigentlich erreichen will. Offensichtlich soll der Krieg so verschärft werden, daß es dem neuen Präsidenten Donald Trump nicht mehr möglich ist, ihn zu beenden, oder aber daß die absehbare Niederlage in seine Verantwortung fällt. Dieses Verhalten ist für eine aus dem Amt scheidende Regierung mehr als ungewöhnlich. Im Grunde geht es um den Konflikt zwischen dem amerikanischen „tiefen Staat“ und den „Neocons“ auf der einen und Donald Trump mit der MAGA-Bewegung auf der anderen Seite. In den USA wird derzeit in gut informierten Kreisen darüber gerätselt, ob es streng geheime Kontakte zwischen Donald Trump und Wladimir Putin gibt, die darauf abzielen, die Lage unter Kontrolle zu bringen und einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.[16]

Ende November nominierte Donald Trump Generalleutnant a.D. Keith Kellogg zu seinem Sondergesandten für die Ukraine und Rußland. Kellogg hat zusammen mit dem ehemaligen Analysten der CIA Fred Fleitz einen Plan für eine Beendigung des Rußland-Ukraine-Krieges ausgearbeitet. Dieser sieht einen Waffenstillstand und ein Einfrieren des Konflikts nach dem Vorbild des Koreakrieges 1950/53 vor.[17] Die Russische Regierung hat bereits deutlich gemacht, daß eine solche Lösung von den von Präsident Putin im Juni 2024 genannten Friedensbedingungen weit entfernt und nicht akzeptabel ist. Auf der anderen Seite signalisiert die Nominierung General Kelloggs die Bereitschaft Donald Trumps, wieder in direkte Gespräche mit Moskau einzutreten, was gegenüber dem Zustand der vergangenen zweieinhalb Jahre eine erhebliche Verbesserung darstellt.

[1] Statement by the President of the Russian Federation; The Kremlin, Moscow, November 21, 2024; http://en.kremlin.ru/events/president/news/75614;

Deutsche Übersetzung: Rede im O-Ton: Putin kündigt Angriffe auf Länder an, die Kiew mit ihren Waffen auf Ziele in Russland erlauben; Anti-Spiegel 22.11.2024;

https://anti-spiegel.ru/2024/putin-kuendigt-angriffeauflaender-an-die-kiew-mit-ihren-waffen-auf-ziele-inrusslanderlauben/

[2] Russian Defence Minister Andrei Belousov inspects Sever Group of Forces; Ministry of Defense of the Russian Federation, 22.11.2024;

https://eng.mil.ru/en/special_operation/news/more.htm?id=12538270@egNews

[3] Swell of ‚WWIII‘ Red Herrings Aims to Drown Out Mounting Russian Success; Simplicius the Thinker 27.11.2024; https://simplicius76.substack.com/p/swell-of-wwiii-red-herrings-aims

[4] M.K. Bhadrakumar, Why ending with a whimper may be better, The New Indian Express 21.11.2024; https://www.newindianexpress.com/opinions/2024/Nov/21/why-ending-with-a-whimper-may-be-better

[5] Rede im O-Ton: Putin kündigt Angriffe auf Länder an, die Kiew mit ihren Waffen auf Ziele in Russland erlauben; Anti-Spiegel 22.11.2024;

https://anti-spiegel.ru/2024/putin-kuendigt-angriffeauflaender-an-die-kiew-mit-ihren-waffen-auf-ziele-inrusslanderlauben/

[6] Englisch: Intermediate Range Nuclear Forces Treaty

[7] Why These New Russian Missiles Are Real Game Changers;  Moon of Alabama 22.11.2024;

https://www.moonofalabama.org/2024/11/why-these-new-russian-missiles-are-real-game-changers

[8] Prof. Ted Postol Assessing Russian Attack on Ukraine by Hypersonic Missile; Dialogue Works 23.11.2024; https://www.youtube.com/watch?v=h8LvIkGkfes

[9] Why These New Russian Missiles Are Real Game Changers;  Moon of Alabama 22.11.2024;

https://www.moonofalabama.org/2024/11/why-these-new-russian-missiles-are-real-game-changers

[10] Oreshnik and US escalation w/ Brian Berletic (Live); The Duran, 25.11.2024

https://www.youtube.com/watch?v=ntHoxWlNaw4;

Ray McGovern : Taking Russia Seriously. Judge Napolitano Judging Freedom 25.11.2024

https://www.youtube.com/watch?v=3FkZCq5FA58

[11] More Testimonies. Andrei Martyanov, Reminiscence of the Future 25.11.2024;

https://smoothiex12.blogspot.com/2024/11/more-testimonies.html

[12] Rede im O-Ton: Putin kündigt Angriffe auf Länder an, die Kiew mit ihren Waffen auf Ziele in Russland erlauben; Anti-Spiegel 22.11.2024;

https://anti-spiegel.ru/2024/putin-kuendigt-angriffeauflaender-an-die-kiew-mit-ihren-waffen-auf-ziele-inrusslanderlauben/

[13] Russisch: Organisazija Dogowora o Kollektiwnoi Besopasnosti

[14] Speech at a restricted attendance meeting of the CSTO Collective Security Council

  1. November 2024; http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/75687

Deutsche Übersetzung: Putin über Beschuss Russlands mit ATACMS: „Dies bedeutet eine direkte Beteiligung dieser Länder am bewaffneten Konflikt“, Anti-Spiegel 28.November 2024;

https://anti-spiegel.ru/2024/dies-bedeutet-eine-direkte-beteiligung-dieser-laender-am-bewaffneten-konflikt/

[15] Alastair Crooke : Deep State vs Trump; Judge Napolitano Judging Freedom 25.11.2024

https://www.youtube.com/watch?v=A_0KHWZyPao

[16] LtCOL. Tony Shaffer : Can Trump End Ukraine War in 24 Hours? Judge Napolitano Judging Freedom 26.11.2024; https://www.youtube.com/watch?v=pES2iZF7P_I

[17] Keith Kellogg/Dan Negrea, What Donald Trump’s Ukraine Strategy Could Look Like; The National Interest 20. December 2023;

https://nationalinterest.org/feature/what-donald-trumps-ukraine-strategy-could-look-208066

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