Droht ein erneuter Krieg zwischen Deutschland und Rußland? Die Gefahr ist jedenfalls da und real. Sie wird hervorgerufen durch eine ideologiebefrachtete Politik, die nur die Schwarz-Weiß-Malerei kennt. Die einen sind die Guten, die anderen die Bösen. Wir wollen nicht behaupten, dass die Schuld dafür nur auf einer Seite liegt. Zum Kriegführen gehören immer wenigstens zwei Kontrahenten. Allerdings ist nicht entscheidend, wer den ersten Schuss abgibt, sondern wie die Vorgeschichte eines Konfliktes aussieht. Und wir dürfen sagen, dass dies im aktuellen Fall des Krieges in Europa nicht in ausreichendem Maße geschieht, jedenfalls nicht von offizieller politischer Seite.
Otto von Bismarck wusste, dass derjenige, der Frieden will, die Interessen des anderen berücksichtigen muss. Dies ist schlicht eine Forderung der praktischen Vernunft, welcher der deutsche Reichskanzler, der auch Außenminister war, in internationalen Angelegenheiten stets gefolgt ist. Emotionen mussten dabei in die Schranken gewiesen werden. Sei es in Form des Nationalismus, sei es in Form des Internationalismus. Dem jeweils anderen nur böse Absichten zu unterstellen, hat noch nie dazu beigetragen, den Frieden zu erhalten.
Die gegenwärtige deutsche Außenpolitik ist leider ideologiebefrachtet und von Emotionen geprägt. Sie hat den gesunden Menschenverstand ausgeschaltet. Wer sich über den Frieden in Europa und der Welt Gedanken macht, muss Wege aufzeigen, wie dieser zurückkehren kann. Da hilft ein Blick in die Geschichte und auf den Mann, dessen Credo die Politik mit Maß und Ziel und der praktischen Vernunft war. Denn nur eine solche Politik kann eine des Gemeinwohles sein, die tatsächlich im deutschen Interesse liegt.
Einen Blick auf Bismarcks Außenpolitik im Sinne des eben Gesagten gibt der folgende Beitrag, den wir hiermit zur Lektüre empfehlen.
Auszug aus Marklein, Günter G.A.: Berufen auf Bismarck. In: SWG e.V. (Hg.), Wider die Bismarckhatz. Fünf Beiträge zur Verteidigung des großen deutschen Staatsmannes. Hamburg, 2024, S. 18ff. (Hier können Sie dieses Heft bestellen.)
Drei Monate nach dem Frieden von Frankfurt (10.5.1871, nach dem Krieg gegen Frankreich) gestand Bismarck bereits dem französischen Geschäftsträger, es sei absurd gewesen, den Franzosen Metz zu nehmen, und überhaupt ein Fehler, Elsass-Lothringen zu annektieren. Durch sein ganzes übriges Leben, auf dem Gipfel seines Ansehens, als er, gleich Metternich, der „Kutscher Europas“ war, immerfort stand Bismarck im Schatten jenes Fehlers.
„Was sie (die Franzosen) uns nie verzeihen werden, ist unser Sieg“. Auch das ist wahrscheinlich ein Grund für die viel zitierte Erbfeindschaft, die heute erfreulicherweise einer freundschaftlichen Zusammenarbeit gewichen ist. Bismarcks Bemühen war es, die neu entstandene Großmacht in der Mitte Europas durch ein Geflecht defensiver Bündnisse abzusichern. Das Reich sollte eine Mittlerstellung gewinnen, damit es gewissermaßen zum ruhenden Auflagepunkt eines Gleichgewichtssystems in Europa werden könnte.
Voraussetzung dafür war einmal, dass Deutschland sich territorial für saturiert erklärte und außenpolitisch ein Arrangement mit den anderen Mächten suchte, indem es Selbstbeschränkung übte. Bismarck hat die Grundsätze seiner Friedenspolitik in dem berühmten Kissinger Diktat von 1877 niedergelegt, dessen Kernsatz lautet: „Das Bild, welches mir vorschwebt, ist nicht das irgendeines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unserer bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“. Dazu zunächst eine Fußnote. Sie bezieht sich auf die zwei Worte „außer Frankreich“. 1860 hatte Bismarck noch in einem Brief an seinen damaligen Mentor Leopold von Gerlach geschrieben, er müsse sich die Möglichkeit eines Zusammengehens auch mit Frankreich trotz aller Bedenken offen halten, „weil man nicht Schach spielen kann, wenn einem 16 Felder von 64 von Hause aus verboten sind“. Jetzt nahm er diese Einschränkung als unvermeidlich hin. Ein furchtbares Hemmnis, wenn man es bedenkt.
Im Übrigen bedeutete Bismarck Politik viel strengen Verzicht, wie es Sebastian Haffner beschreibt. Sie lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen:
- Verzicht auf jede territoriale Vergrößerung in Europa.
- Im Zusammenhang damit Niederhaltung aller expansionistischen Bestrebungen in Deutschland, insbesondere aller großdeutschen Bestrebungen.
- Ständige Entmutigung aller Anschlusswünsche der „unerlösten“ Deutschen, die von der Reichsgründung ausgeschlossen geblieben waren, insbesondere der österreichischen und baltischen Deutschen.
- Strikte Nichtbeteiligung an der überseeischen Kolonialpolitik der übrigen europäischen Mächte. Die sollte im Gegenteil gerade dazu dienen, diese Mächte nach außen, „an die Peripherie“ abzulenken und von Koalitionen gegen die europäische Mitte abzuhalten.
- Wenn nötig, aktive Verhinderung innereuropäischer Kriege, auch wenn das Deutsche Reich nicht unmittelbar beteiligt oder betroffen war. Das Deutsche Reich sollte „das Bleigewicht am Stehaufmännchen Europa“ sein. Dies in der Erkenntnis, dass europäische Kriege eine innewohnende Tendenz zur Ausbreitung hatten und haben.
Im Ganzen eine äußerst respektable Friedenspolitik und eine, die im nachbismarckschen Deutschen Reich niemals eine Nachfolge gefunden hat. Man kann übrigens nicht sagen, dass sie zu ihrer Zeit in Deutschland populär gewesen wäre. Die „weltpolitische“ Dynamik des wilhelminischen Deutschlands, der Revisionismus der Weimarer Republik und die Eroberungspolitik Hitlers erregten eine ganz andere Begeisterung. Das wirklich Außerordentliche ist nun aber, dass es auch Bismarck selbst bei bestem Willen und größter politischer Kunstfertigkeit nicht gelungen ist, sein Deutsches Reich aus gefährlichen Verstrickungen herauszuhalten. Insofern legt gerade die Geschichte der Bismarckzeit den Gedanken nahe, dass sein Reich von Hause aus eine unglückliche, möglicherweise eine nicht zu rettende Gründung war. Allen Nachfolgern Bismarcks kann man bestimmte vermeidbare Fehler nachweisen. Aber besser als Bismarck nach 1871 konnte man es eigentlich kaum anstellen, wenn man das Deutsche Reich erhalten, konsolidieren und seinen Nachbarn als festen Bestandteil des europäischen Staatensystems annehmbar, ja möglicherweise unentbehrlich machen wollte.
Teil der außenpolitischen Strategie Bismarcks war der Versuch, die Gegensätze zwischen den anderen Mächten – Russland, Großbritannien und Frankreich, Österreich, Italien und dem Osmanischen Reich – zu steuern. In dem Kissinger Diktat wurde das als „politische Gesamtsituation“ definiert. Die Gegensätze zwischen den genannten Staaten sollten erhalten bleiben, um der deutschen Außenpolitik Spielraum zu geben. Andererseits sollten die Gegensätze die Konfliktzonen in der Mitte Europas aussparen, um eine große Auseinandersetzung zu vermeiden, in welche das Deutsche Reich unvermeidlich mit der Möglichkeit eines Zweifrontenkrieges einbezogen werden könnte. Ein Erfolg dieser Strategie war der Berliner Kongress zum Abschluss der „orientalischen Krise“ der Jahre 1875 bis 1878, bei der es nach Aufständen der Bevölkerung Bosniens und Herzegowinas zum Kriege zwischen Russland und der Türkei gekommen war. Als „ehrlicher Makler“, der noch 1876 auf dem Balkan „für Deutschland kein Interesse“ gesehen hatte, das „die gesunden Knochen eines pommerschen Musketiers wert wäre“, trug Bismarck zum in Berlin gefundenen Frieden bei – hauptsächlich auf Kosten der Türkei. Aber auch Russland, dessen Truppen zum Schluss des russisch-türkischen Krieges vor den Toren Konstantinopels gestanden hatten, musste Federn lassen. Das war in St. Petersburg bei Beginn des Ersten Weltkrieges noch in Erinnerung.
Infolge der Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen nach dem Berliner Kongress schloss Bismarck mit Österreich-Ungarn 1879 ein geheimes Verteidigungsbündnis, den so genannten Zweibund, der 1882 zum Dreibund mit Italien erweitert wurde. Dieses Defensivbündnis richtete sich gegen einen französischen Angriff auf Deutschland oder Italien.
Ein Jahr vorher, 1881, gelang Bismarck der Abschluss eines geheimen Neutralitätsabkommens zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland, den so genannten Drei-Kaiser-Vertrag. Sein Inhalt: Wohlwollende Neutralität im Falle des Angriffs einer vierten Macht auf einen der Vertragspartner. Der Reichskanzler hat dieses Bündnis, das nur sechs Jahre hielt, „mit großer Mühe und mit etwas künstlichen Argumenten“, wie Sebastian Haffner in seinem zitierten Buche schreibt, zu Stande gebracht. Trotz der tiefen Verstimmung zwischen St. Petersburg und Berlin und der Dauergegnerschaft zwischen Österreichern und Russen konnte Bismarck den Zusammengang der drei Staaten auf der alten monarchischen Solidarität gründen, die zwischen Wilhelm I., Franz Joseph I. und Alexander III. bestand.
Der tiefen Sorge Bismarcks vor feindlichen Koalitionen gegen das Deutsche Reich ist vor allem der Rückversicherungsvertrag entsprungen, der 1887 für drei Jahre zwischen Deutschland und Russland als geheimes Neutralitätsabkommen geschlossen wurde, nachdem der Drei-Kaiser-Vertrag von 1881 wegen erheblicher Spannungen zwischen der Donau-Monarchie und dem Zarenreich nicht verlängert werden konnte. Der Rückversicherungsvertrag stand teilweise den deutsch-österreichischen Verträgen direkt entgegen, hielt Deutschland aber den Rücken im Falle eines Krieges mit Frankreich frei. Das Abkommen erkannte ferner die historischen Rechte Russlands auf dem Balkan, insbesondere in Bulgarien, an und gewährte wohlwollende Neutralität, sogar für den Fall einer Eroberung Konstantinopels durch zaristische Truppen. Der Rückversicherungsvertrag wurde von den Nachfolgern Bismarcks nicht verlängert, obwohl auf russischer Seite durchaus Bereitschaft dazu bestand.
Bismarck hat es als Außenpolitiker verstanden, für die Sicherheit des Reiches ein fein gewobenes Bündnisnetz zu schaffen. Seine Politik ist, zumindest was Deutschland angeht, von tiefer Friedensliebe geprägt.
Er hat mit dieser akrobatenhaften, ja widersprüchlichen Bündnispolitik unbedingt einen Krieg verhindern wollen. Das wird man ihm zugestehen müssen. Während die deutschen und österreichischen Generalstäbe in den späten 1880er Jahren bereits eifrig Präventivkriegspläne gegen Russland bastelten, schrieb er an den Chef des Militärkabinetts: „Unsere Politik hat die Aufgabe, den Krieg, wenn möglich, ganz zu verhüten, und geht das nicht, ihn doch zu verschieben. An einer anderen würde ich nicht mitwirken können“. Man könnte noch manches Ähnliche, nur für den inneren Dienstgebrauch geschriebene und daher völlig glaubwürdige Bismarckwort aus den späten 1880er Jahren zitieren, um nachzuweisen, dass Bismarck wirklich das Interesse seines Deutschen Reiches mit dem Interesse des europäischen Friedens identifizierte. Das hat keiner seiner Nachfolger mit gleicher Entschiedenheit getan, und es entwertet Bismarcks Haltung nicht, dass sie von tiefem Pessimismus getragen war. „Wenn wir nach Gottes Willen im nächsten Krieg unterliegen sollten“, heißt es in einem Brief von 1886 an den Kriegsminister, „so halte ich das für zweifellos, dass unsere siegreichen Gegner jedes Mittel anwenden würden, um zu verhindern, dass wir jemals oder doch im nächsten Menschenalter wieder auf eigene Beine kommen …, nachdem diese Mächte gesehen haben, wie stark ein einiges Deutschland ist. … Nicht einmal auf das einige Zusammenhalten des jetzigen Reiches würden wir nach einem unglücklichen Feldzuge rechnen können“. Bismarcks Politik nach der Reichsgründung war die einzige einschränkungslose Friedenspolitik, die das Deutsche Reich in der Zeit seines Bestehens gemacht hat.
Allerdings sollte man nicht verkennen, dass durch die Abkommen auch Sprengstoff für das Ausbrechen des Ersten Weltkrieges gelegt wurde; als z.B. in Nibelungentreue zu Österreich – eine Bindung, die Bismarck 1879, ohne Überschwang und in defensiver Absicht, eingegangen war, 1914 zur Kriegserklärung an Russland und Frankreich führte. Auch die Gründung des deutschen Kolonialreiches 1884/85 auf innenpolitischen Druck betrieben und von außenpolitischen Motiven flankiert – war letztlich gegen englische Interessen gerichtet und ein Grundstein der Weltpolitik Wilhelms II. Bismarck hat gegenüber Kolonialenthusiasten nach 1885 immer wieder betont: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Russland und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte. Das ist meine Karte von Afrika“. Und: „Der Wettlauf um Kolonien und um Weltmacht ist nichts für Deutschland, das können wir uns nicht leisten. Deutschland muss zufrieden sein, wenn es seine innereuropäische Stellung wahren und sichern kann“.
Nur zögernd und geleitet von innereuropäischen Gleichgewichtsüberlegungen gibt er dem Drängen des Kolonialvereins und der Gesellschaft für deutsche Kolonisation (Dr. Carl Peters) nach: In den Jahren 1884/85 werden Teile Südwestafrikas, Kamerun, Togo, einige Südseeinseln und ein Gebiet in Ostafrika Kolonien.