Im Interview mit der Jungen Freiheit (Nr. 38/25) äußert sich der ehemalige SPD-Politiker und Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, Sohn des Widerständlers Hans von Dohnanyi und Neffe Dietrich Bonhoeffers, über den Kampf seiner Familie gegen Hitler.
Herr Dr. von Dohnanyi, welche Bedeutung hat der deutsche Widerstand für Sie persönlich: Historische Erinnerung? Familiäres Erbe? Persönlicher Auftrag?
Klaus von Dohnanyi: Der Widerstand gegen die brutale Nazidiktatur ist mit nichts vergleichbar, das wir heute in unserer Nähe erfahren. Die Bereitschaft, aus moralischen Gründen sein eigenes Leben zu riskieren, entsprach der außerordentlichen Situation in der damaligen Zeit. Und deswegen weiß auch niemand, wie er sich damals und unter der damaligen Bedrohung durch die Gestapo verhalten hätte. Mut ist leider nicht erblich!
Aufgewachsen sind Sie nach dem Krieg in einer Gesellschaft, in der die große Mehrheit nicht im Widerstand war – womit sich Ihre Familie grundlegend von der Ihrer meisten Landsleute unterschied. Wie hat das Ihre Sicht auf die Menschen und die Gesellschaft geprägt? Hat das zum Beispiel wie bei anderen zu einer Distanzierung von Deutschland geführt oder haben Sie es dennoch als Ihr Vaterland betrachtet?
Dohnanyi: Widerstand gegen die Nazis war eine patriotische Haltung. Wie konnte ich da Deutschland als Vaterland verlassen?
Während es zu Ihrer Jugendzeit noch große Vorbehalte bis hin zu Anfeindungen gegen den deutschen Widerstand gab, gehört heute sein Lob zum guten Ton. Allerdings beobachtete schon der Journalist Johannes Gross: „Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler.“ Was halten Sie davon? Ist die – an sich ja positive – Wertschätzung des Widerstandes möglicherweise ein Januskopf? Sprich, haben Sie vertrauen darin, daß sie ehrlich gemeint ist und sich dahinter nicht ein neues Mitläufertum verbirgt?
Dohnanyi: Ich glaube nicht, daß sich heute im Falle einer diktatorischen Bedrohung von Leib und Leben die Menschen anders verhalten würden als damals. Es ist nämlich nur menschlich, Gefahren aus dem Wege zu gehen. Insofern finde ich das heutige Urteil über die vielen damaligen „Mitläufer“ auch befremdlich: Sich selber prüfen wäre angemessener. Wäre man selbst mutiger gewesen?
Im vergangenen Jahr hat der Widerstand gegen Hitler scheinbar ungeahnte Aktualität gewonnen, als unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt!“ bundesweit Hunderttausende gegen die AfD demonstrierten. Was halten Sie davon? Ist die AfD, wie Medien, Politiker und Aktivisten behaupten, die neue NSDAP und der Kampf gegen sie der neue Widerstand gegen den Faschismus?
Dohnanyi: Bei der Antwort auf die Frage „Was ist Faschismus“ orientiere ich mich gerne auch an dem Historiker und exzellenten Faschismusforscher Ernst Nolte. Für ihn ist „Angst“ eine wesentliche Voraussetzung faschistischer Tendenzen in einer Gesellschaft. Und es ist dann ein Zeichen faschistischer Politik, als Antwort auf diese „Angst“ Recht und Macht als zusammengehörig zu identifizieren: die Macht hat dann auch recht. Niemand wird bestreiten, daß es in der AfD Gruppen gibt, die so denken und, daß es der AfD nicht gelingt, oder ihr auch nicht wichtig ist, solche Gruppen aus ihren Reihen zu verbannen. Aus meiner Sicht ist die AfD als Ganzes keine „faschistische“ Organisation – aber sie birgt immer wieder diese Gefahr, indem sie mit einem ganz „anderen“ Weg der Demokratie eine Erlösung von dieser „Angst“ verspricht.
Ihr Vater, der leitende Beamte im Reichsjustizministerium Hans von Dohnanyi, und vor allem Ihr Onkel, der Theologe Dietrich Bonhoeffer, gehören heute zu den bekanntesten und geehrtesten Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus: Was denken Sie, hätten beide von dieser Art Widerstand heute gehalten?
Dohnanyi: Mein Vater hätte den Vergleich von damals mit heute wohl ziemlich lächerlich gefunden: Wo sind denn heute die Gefahren für jemanden, der den faschistoiden Tendenzen in der Gesellschaft Widerstand entgegensetzt?
Ihr Vater und Ihr Onkel schlossen sich bereits vor dem Krieg dem Widerstand gegen Hitler an. Warum und wie sah ihre Widerstandsaktivität bis 1938 aus?
Dohnanyi: Mein Vater war schon in dem Jahrzehnt vor Hitler, also in den sogenannten zwanziger Jahren, ein erklärter Gegner der aufkommenden Nazi-Bewegung. Dietrich Bonhoeffer, jüngster Bruder meiner Mutter, war als Pfarrer und Theologe ebenfalls ein Gegner der nazistischen Feinde des Christentums. Und es war dann mein Vater, der selber schon sehr frühzeitig Dokumente zum Beweis von Verbrechen der Nazis im Reichsjustizministerium sammelte, und der dann auch Dietrich Bonhoeffer in den Kreis des aktiven, politischen Widerstands zog.
1938 kam es zur – in dieser Zeitung bereits mehrfach vorgestellten – sogenannten Septemberverschwörung, für die Ihr Vater eine treibende Kraft war. Welche Rolle spielte Ihr Vater dabei genau?
Dohnanyi: Hitler ließ ja nicht nur politische Gegner und Menschen jüdischen Glaubens brutal verfolgen, er hatte auch unmißverständlich klargemacht, daß er durch Aufrüstung und Außenpolitik auf einen Krieg hinauswollte. Und so gab es natürlich eine entsprechende Gegenbewegung von Menschen, die versuchten, diese Diktatur abzuschütteln und den Krieg zu vermeiden. Zu diesen gehörte auch ein Mitglied des Generalstabs: der nach meiner Kenntnis tief christliche Oberst Hans Oster. Um sich herum gruppierte er einige wichtige Personen, die 1938 einen Staatsstreich vorbereitet hatten. Doch die „Friedensmission“ des damaligen britischen Premierministers Neville Chamberlain – Stichwort „Münchener Abkommen“ – brachte diese Planungen dann zum Scheitern.
Warum?
Dohnanyi: Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar 1933 war es unmöglich geworden, Hitler ohne die Teilnahme zentraler Kräfte des Militärs wieder zu stürzen. Doch nach der für den Diktator scheinbar so erfolgreichen Friedensmission Chamberlains konnte man nicht mehr auf eine Unterstützung des Militärs rechnen: Hitler galt mit dem „Münchener Abkommen“ nun als der „Reichskanzler des Friedens“, der ohne einen Schuß abzugeben das Sudetenland für das Deutsche Reich zurückerobert hatte.
Warum ist dieser Versuch führender Militärs und Beamter von 1938, Adolf Hitler abzusetzen und vor Gericht zu stellen, Otto Normalverbraucher heute kaum bekannt? Daß er weniger bekannt ist als der 20. Juli 1944, ist nachvollziehbar, da dieser noch einen Schritt weiterging und den Putschversuch tatsächlich wagte. Gleichwohl überragt die Septemberverschwörung Ihres Vaters aber doch alle sonstigen Widerstandsaktionen. Denn keine andere, weder die Weiße Rose noch die Bekennende Kirche, noch die Rote Kapelle, wurden dem Nationalsozialismus je so gefährlich wie diese. Ist es also nicht verwunderlich, daß dieser bürgerlich-konservative Großaufstand im Volk dennoch fast völlig unbekannt ist?
Dohnanyi: Es hatte ja schon vor dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 sehr viele Versuche gegeben, diesen zu töten, um seinen Verbrechen ein Ende zu setzen. Mein Vater, zum Beispiel, hatte noch im März 1943, also kurz vor seiner Verhaftung, eine Bombe von Berlin nach Smolensk in Rußland geflogen, wo sie an Bord von Hitlers Flugzeug, einer Ju 52, geschmuggelt wurde. Doch im Laderaum der Maschine war es dann offenbar so kalt, daß der Zünder versagte. Ereignisse mit Ergebnis oder deutlichen Folgen graben sich im Gedächtnis tiefer ein, und deswegen ist das Attentat vom 20. Juli 1944 heute so viel bekannter.
Als der Krieg begann und Hitler erfolgreich Paris besetzte, sagte Ihr Vater hellsichtig: „Das ist Deutschlands Ende.“ Wie kam er darauf? Wieso war ihm das, im Gegensatz zu den meisten anderen, bereits zu einer Zeit klar, als Hitler noch von Erfolg zu Erfolg eilte?
Dohnanyi: Nach diesem „Sieg“ in Europa waren ihm zwei Dinge klar: Die Welt, insbesondere die USA und Rußland würden den Sieg Hitlers in Europa nicht endgültig bestehen lassen – und dann konnte doch das Ende des Krieges nur in einer totalen Niederlage Deutschlands gefunden werden.
Welche Rolle spielte ergo die Rettung Deutschlands für die Motivation Ihres Vaters sowie Ihres Onkels Dietrich Bonhoeffer, in den Widerstad zu gehen? In der heutigen Rezeption werden in der Regel allein deren berechtigtes moralisches Entsetzen über die NS-Ideologie und die Verbrechen des Regimes als Motivation dargestellt. Das mag auch das Hauptmotiv gewesen sein – aber spielte daneben nicht auch eine Rolle, daß beide ihr Vaterland vor dem Untergang retten wollten?
Dohnanyi: Später schrieb mein Vater aus der Haft an meine Mutter, er habe doch nur als „anständiger Mensch“ gehandelt. Dieser Satz bezog sich aber offenbar auf die Rettung einiger jüdischer deutscher Bürger durch ihn. Daß er jedoch immer auch die Rettung Deutschlands vor Mord und Zerstörung im Auge hatte, dafür sprechen viele seiner Äußerungen und Handlungen. Dafür spricht ja auch, daß er als junger Mann zunächst bei seiner Arbeit im Auswärtigen Amt und dann am Hamburger Institut für Auswärtige Politik bemüht war, den fatalen Artikel 231 des Versailler Diktatfriedens – alleinige Kriegsschuld Deutschlands – zu widerlegen.
Ebenfalls im Widerstand engagierten sich Ihre weiteren Onkel Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher – beide wie auch Ihr Vater Juristen –, über die man aber sonst wenig erfährt, da sie in der historischen Darstellung meist hinter Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer verschwinden. Was waren deren Motive und Widerstandstätigkeit?
Dohnanyi: Ihre Motive unterschieden sich im Kern nicht von denen Dietrich Bonhoeffers oder denen meines Vaters.
Ihr Onkel Dietrich Bonhoeffer gilt heute als einer der bekanntesten und berühmtesten Widerstandskämpfer. Warum eigentlich? Denn tatsächlich hatte Ihr Vater doch kraft seiner hohen Position im Reichsjustizministerium weit mehr Einfluß und spielte eine viel bedeutendere Rolle?
Dohnanyi: Ja, aber Dietrich Bonhoeffer hat wundervolle Texte hinterlassen.
Mit dem Widerstand gegen Hitler wird heute alles Mögliche legitimiert, zum Beispiel auch die Unterstützung des Ukraine-Krieges. Motto: Appeasement stoppte Hitler nicht, daher muß der Westen mit allen Mitteln Putin bis zu seinem Sturz bekämpfen. Sie kritisieren diese Schlußfolgerung. Warum?
Dohnanyi: Ich habe dazu schon so viel geschrieben und gesagt, daß ich das hier nicht wiederholen möchte. Lesen Sie mein Buch „Nationale Interessen“ in der letzten, erweiterten Ausgabe mit dem langen neuen Vorwort. Kurz: Deutschland braucht beides, die Fähigkeit der Verteidigung und Abschreckung ebenso wie die Kraft zur Verständigung mit Rußland, unserem großen und offenbar auch gefährlichen Nachbarn.
Sehen Sie weitere Felder, auf denen heute aus Ihrer Sicht der Widerstand gegen Hitler falsch ge- oder gar mißbraucht wird?
Dohnanyi: Nein, das tue ich nicht.
Das Gespräch führte Moritz Schwarz.
Dr. Klaus von Dohnanyi
Der Sozialdemokrat war von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg sowie von 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft unter Helmut Schmidt. 1957 trat der Jurist der SPD bei, für die er von 1969 bis 1981 im Deutschen Bundestag saß und deren Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz er von 1979 bis 1981 war. Geboren wurde der Sproß einer ursprünglich ungarischen Adelsfamilie 1928 in Hamburg. Der Komponist Ernst von Dohnányi ist sein Großvater, der Dirigent Christoph von Dohnányi sein Bruder und der Schauspieler Justus von Dohnányi sein Sohn. 2022 erschien sein vielbeachtetes Buch „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“.
Hans von Dohnanyi
Der Vater Klaus von Dohnanyis, geboren 1902 in Wien, war persönlicher Referent des NS-Reichsjustizministers Franz Gürtner. Er rettete Juden und beteiligte sich an mehreren Verschwörungen gegen Hitler, bevor er 1943 verhaftet und am 9. April 1945 im KZ Sachsenhausen erhängt wurde.
Dietrich Bonhoeffer
Der Onkel Klaus von Dohnanyis, geboren 1906 in Breslau, war evangelischer Theologe. Als Mitglied der Bekennenden Kirche trat er offen gegen den Nationalsozialismus auf, bevor er dem Widerstand als Verbindungsmann diente. 1943 verhaftet, wurde er am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg erhängt.
Klaus Bonhoeffer
Der Onkel Klaus von Dohnanyis, geboren 1901 in Breslau, war Syndikus der Lufthansa. Der promovierte Rechtsanwalt fungierte als Netzwerker zwischen verschiedenen Widerstandsgruppen, bevor er 1944 verhaftet und beim Einmarsch der Russen am 23. April 1945 in Berlin von der SS erschossen wurde.
Rüdiger Schleicher
Der angeheiratete Onkel Klaus von Dohnanyis, geboren 1885 in Stuttgart, war NSDAP-Mitglied und ein wichtiger Luftrechtsjurist. Nach dem Attentat vom 20. Juli sollte er die Luftfahrt reorganisieren. 1944 verhaftet, wurde er mit Klaus Bonhoeffer am 23. April 1945 in Berlin von der SS erschossen.

