Wie eine woke Zeigefinger-Kultur Sprachgefühl und Verstand beleidigt
von Bernd Kallina
„Deutschland hat ein echtes Problem“ titelte die stets gut informierte „Neue Züricher Zeitung“ (NZZ) Ende August mit dem kritischen Blick aus der neutralen Schweiz. Die Politik habe versagt, der Staat sei überfordert und die Bürger verlieren das Vertrauen.
Die problematische Lage der Bundesrepublik Deutschland äußert sich – gemäß demokratischer Verfassung – in einem zunehmenden Stimmenanteil der AfD, der größten Oppositionspartei. In aktuellen Umfragen hat sie die Unionsparteien schon mehrfach überholt. Es mehren sich nun Stimmen in der CDU/CSU, die die „Brandmauer-Strategie“ für gescheitert erklären und nach neuen Wegen im Umgang mit der unbequemen Oppositionspartei suchen. Nur der sauerländische „Neo-Merkelianer“, wie der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz inzwischen spöttisch genannt wird, hält an der Totalausgrenzung der AfD verbissen fest.
In der prekären Lage für den alten Parteienblock kommt hinzu, dass selbst in nachdenklichen Kreisen der linken Publizistik sowie in Beiträgen parteinaher Publikationen der sogenannten „Mitte-Parteien“ plötzlich Stimmen
auftauchen, die von einem „falschen Framing“ sprechen. O-Ton Nils Meyer-Ohlendorf im ipg-Journal der SPD-nahen „Friedrich-Ebert-Stiftung“: „Wer rechte Parteien reflexhaft als Faschisten abstempelt, verliert Glaubwürdigkeit und schwächt die Demokratie“. Dort fordert der Programm-Leiter am Berliner „Ecologic Institut“ ein gründliches Überdenken der antifaschistischen Feindfixierung, die er für kontraproduktiv hält.
Zentrale Thesen: „1. Eine gefestigte Demokratie setzt auf offene Debatten und Überzeugungen, nicht auf Ausgrenzung und Verbote. 2. Viele rechtsextreme Parteien in Europa seien moderater geworden. 3. Wenn sie sich an die demokratischen Spielregeln halten, können sie Regierungsämter bekommen. 4. Für die US-Republikaner und viele europäische Rechtsaußenparteien hat sich Europa zu einem Brennpunkt digitaler Zensur, übergriffiger Behörden, undemokratischen Brandmauern und unfairer Wahlen entwickelt. 5. Viele Menschen fühlen sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten – es gibt eine echte Repräsentationslücke. 6. In einer Phase starker Polarisierung brauchen wir eher ein ‚Manifest für Pluralismus‘ als ein ‚Manifest gegen die Rückkehr des Faschismus‘“.
Auch im Leitorgan des deutschen Linksliberalismus, in der Wochenzeitung „Die Zeit“, waren ähnliche Stimmen zu vernehmen. So warf der „Zeit“-Autor Jens Jessen, begleitet von Repräsentanten aus Wissenschaft, Kunst und Kultur, der politischen Linken vor, einen nicht unerheblichen Anteil am Aufstieg der Rechten zu haben Beispiele: „Tatsächlich gibt es ja linke Diskurswächter, die es schon für ausländerfeindlich halten, von Clankriminalität zu sprechen, für antimuslimisch, das Kopftuch für problematisch zu finden und für sexistisch, mindestens für ‚transphob‘, an der Existenz zweier biologischer Geschlechter festzuhalten.“
Jessens Folgerung: „Wenn es der Linken wirklich darum ginge, die Rechten kleinzuhalten, müsste sie die Produktion dieses Unfugs herunterfahren und sich ernsthaft fragen, ob sie als zuverlässiger Lieferant rechter Propaganda weiterarbeiten will.“
An anderer Stelle meint Thomas Ostermeier, Intendant der Berliner Schaubühne: „Die Überheblichkeit von Redakteurinnen und Redakteuren in Rundfunkanstalten und Zeitungen, die mehrheitlich aus privilegierten Verhältnissen stammen, blendet weiter Bevölkerungskreise einfach aus.“
Und die Soziologin Eva Illouz von der Hebräischen Universität Jerusalem analysiert nüchtern: „Von den USA bis Polen wählt ein
beträchtlicher Teil der Arbeiterschaft extreme Rechte. Das alte Dogma, die ‚unteren Klassen‘ seien von Natur aus progressiv, gilt nicht mehr. Für viele Angehörige der weniger gebildeten Mittelschichten ist identitärer Nationalismus zum Identitätskern geworden. Während Akademiker, Künstler oder Finanzleute kosmopolitisch leben, reisen, Englisch sprechen, halten Arbeiter und die untere Mittelschicht an der Nation fest und lehnen Zuwanderung ab.“
Auch die Schauspielerin Iris Berben kann dem linken Sprachdiktat mit dem erhobenen Zeigefinger nichts abgewinnen und erzählt: „Unlängst wies mich jemand mit eben diesem Finger darauf hin, dass man nicht mehr ‚Mann‘ sagt, sondern ‚Person, die als Mann gelesen werden möchte‘. Ich arbeite ein Leben lang mit Sprache: Ein solcher Unsinn beleidigt mein Sprachgefühl. Und auch meinen Verstand.“
Und zur Haltung der linken Szene gegenüber Israel und den Juden sagt sie: „Schon früher tummelten sich in dieser Szene eine Menge Antisemiten. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.“
Dieser Beitrag erschien in der österreichischen Zeitschrift „Zur Zeit“ Nr. 43-44/2025.

