Fremdsein und Fremdenfurcht

Die Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Die“, dem Eigenen und Fremden ist eine Naturkonstante im menschlichen Wesen. Auch krude linke Ideologien können das nicht auswischen. Was das mit der aktuellen „Stadtbild“-Diskussion in Deutschland zu tun hat, erklärt Karlheinz Weißmann auf JF-Online am 24.10.2025.

Was das Stadtbild mit Fremdsein und Fremdenfurcht zu tun hat

Die „Stadtbild“-Aussage von Merz löst beim Koalitionspartner erwartbare Beißreflexe aus. Was da angesprochen wurde, berührt anthropologische Konstanten, die jede Gemeinschaft hat. Nur im Westen werden diese auf den Kopf gestellt. Eine Betrachtung von Karlheinz Weißmann.

Der Vizekanzler ist mit dem Kanzler unzufrieden. Weil der sich über das Störgefühl geäußert hat, das ihn beim Betrachten von manchem „Stadtbild“ überkommt. So hat er nach Auffassung von Lars Klingbeil eine wichtige moralische Regel verletzt, die lautet: Du sollst nicht „das Falsche sagen“. Das „Falsche“ ist seiner Meinung nach das, was die Gesellschaft spaltet, indem eine Unterscheidung getroffen wird zwischen „Wir“ und „Die“.

Es ist im Grunde müßig, darauf hinzuweisen, daß Klingbeil mit seinem Vorwurf gegen Friedrich Merz selbst genau das getan hat: Hier das „Wir“ – also die Guten, Linken, Antifaschisten, Anständigen, Freunde – und dort das „Die“ – also die Bösen, Rechten, Faschisten, Unanständigen, Feinde. Womit Klingbeil nur das getan hat, was zum politischen Kerngeschäft gehört. Wahrscheinlich würde er widersprechen und entgegnen, daß solche Unterscheidung etwas ganz anderes ist als die zwischen Ureinwohnern und Zuwanderern, Menschen weißer Hautfarbe und allen Übrigen.

Womit er einer Agenda folgt, die seit Jahrzehnten darauf zielt, eine „farbenblinde“ Gesellschaft zu erziehen – und regelmäßig scheitert. Eine Ursache dafür ist, daß nicht jede kulturelle Bereicherung als solche wahrgenommen wird – die Welt zitierte einen vom Stadtbildwandel Betroffenen mit dem Satz „Empathie hört auf, wenn das erste Mal in deinen Hauseingang gekackt wird“ –, eine andere ist unsere optische Fixierung. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat die Folgen kurz und knapp erklärt: „Aber die bloße Proklamation der natürlichen Gleichheit aller Menschen und der Brüderlichkeit, die sie ohne Ansehen der Rasse oder der Kultur vereinigen sollte, ist intellektuell enttäuschend, weil sie die faktische Verschiedenheit übergeht, die sich der Beobachtung aufzwingt und von der man nicht einfach behaupten kann, daß sie das Problem im Kern nicht berühre, so daß man sie theoretisch und praktisch als nicht vorhanden ansehen könne. Die Präambel der zweiten Unesco-Erklärung über das Rassenproblem weist daher auch gewissenhaft darauf hin, daß das, was den Menschen auf der Straße von der Existenz verschiedener Rassen überzeugt, »die unmittelbare sinnliche Evidenz ist, wenn er einen Afrikaner, einen Europäer, einen Asiaten und einen Indianer nebeneinander sieht«.“

Fremdenfurcht gehört zu unserer natürlichen Ausstattung

Diese „sinnliche Evidenz“ führt aber nicht nur zur Wahrnehmung eines Andersseins, sondern eines Fremdseins. Das mag man bedauern, aber übergehen läßt es sich nicht, da Fremdenscheu und Fremdenfurcht zu unserer natürlichen Ausstattung gehören. Selbst diejenigen, die Fremdenangst für verwerflich halten, weil sie zu Fremdenhaß führen muß, würden die Forderung nach Fremdenfreundlichkeit nie so weit treiben, dem eigenen Kind das Mitgehen mit einem Fremden zu erlauben, der ihm lächelnd einen Bonbon anbietet. Daß das das Kind in der Regel auch nicht tun wird, hat damit zu tun, daß der Vorbehalt gegenüber Fremden zu seinem biologischen Verhaltensrepertoire gehört. Das wurde zwischen dem vierten und achten Lebensmonat verankert, als es zu „fremdeln“ begann, das heißt mit Abwehr, Furcht, fallweise Panik, auf Menschen zu reagieren, die unvermittelt auftauchen und unbekannt sind.

Dieses Verhalten bildet sich in dem Maß aus, in dem der Mensch die Fähigkeit erlangt, Gesichter zu „lesen“, das heißt „Detektoren“ (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) zu nutzen, die ihm mögliche Gefahren von seinesgleichen signalisieren. Evolutionsgeschichtlich erklärt sich das Fremdeln aus der Notwendigkeit, eine Schranke gegen die Bedrohung des hilflosen Kleinkinds zu errichten; Infantizid, also Kindsmord, ist unter Primaten ausgesprochen verbreitet, und der wird überproportional oft von männlichen, nicht zugehörigen oder erst vor kurzem in die Gruppe aufgenommenen Artgenossen begangen.

Im Fortgang der Reifung wird Fremdenfurcht oder Fremdenfeindschaft gedämpft und gehegt – zivilisiert, wenn man so will –, aber sie bleibt dem Menschen natürlich, insofern sie zu den regelhaft auftretenden, für das Bestehen und Funktionieren der Gemeinschaft notwendigen, nur justierbaren, aber nicht aufhebbaren Verhaltensweisen gehört. In seinem Entwurf für eine „Soziologie des Fremden“ stellte der Soziologe Robert Michels fest: „Der Fremde ist der Repräsentant des Unbekannten. Das Unbekannte ist die Absenz von Assoziation und flößt keimhafte Antipathie ein.“ Es kann bei diesem „Keim“ bleiben, das heißt einer mehr oder weniger ausgeprägten Zurückhaltung, Meidung oder Abschottung. Aber es kann auch zur Entfaltung und zur Eskalation kommen.

„Stadtbild“-Aussage von Merz ist nicht überzubewerten

 

Ob die einen sachlichen Grund hat, also wirklich eine Bedrohung vorliegt, spielt eine geringere Rolle, als man meinen möchte. Denn die Begegnung mit dem Fremden ist – noch einmal Michels – zuerst „Typbegegnung“, das heißt der Betreffende wird zuerst nicht als besonderer einzelner betrachtet, sondern als Repräsentant „der Anderen“. Der Schritt von „fremd“ zu „feindlich“ ist deshalb kurz. Das griechische echthros stand ursprünglich nur für den „Auswärtigen“, denjenigen, der nicht zur Polis gehörte, ganz ähnlich das lateinische hostis, bevor man diese Worte im Sinne von „Feind“ zu verstehen begann. Der Begriff hostis läßt aber auch auf einen indogermanischen Terminus „ghosti-s“ schließen, von dem sich unser „Gast“ ableitet und der auf die Möglichkeit der grundsätzlichen Erweiterung der Gemeinschaft deutet, wenn man den Fremden unter Gastrecht stellte. Nur war die Erweiterung ein mühseliger Prozeß.

Denn sie hemmt, daß gewöhnlich der Ablehnung des Anderen spiegelbildlich die Hochschätzung des Eigenen gegenübersteht. Daß man im Westen dazu übergegangen ist, die beiden Seiten zu vertauschen, also mit der Hochschätzung des Anderen die Ablehnung des Eigenen zu verknüpfen – Roger Scruton sprach von „Oikophobie“ –, ist nicht nur eine Anomalie, sondern eine Art von kollektivem Defekt, der letztlich auf Selbstauslöschung hinausläuft.

Das auszusprechen, fehlt Merz fraglos der Mut. Seinen Wählern hat er schon erklärt, daß es kein Zurück mit ihm geben wird – „Wie früher – das gibt es nicht wieder“ –, womit er auch die Fortentwicklung in Richtung Bunte Republik Deutschland als Fatum anerkennt. Der Hinweis auf das „Stadtbild“ und die Gefährdung unserer Töchter sollte man deshalb nicht überbewerten. Andererseits ist Klingbeil ein Sensorium für die politische Sprengkraft gewisser Nostalgien zuzugestehen. Seine politischen Freunde jenseits des Rheins waren schon überzeugt, daß ein Film wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“, der in einem weißen Frankreich der Nachkriegszeit spielte, den Stimmenzuwachs des Front National erklärte. Da möchte er den Anfängen wehren.

 

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