Bernd Schwipper, Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten. Die Prävention durch die Wehrmacht, Juni 2021 Verlag Druffel & Vowinckel, gebunden, 2 Bände, 1110 Seiten, über 500 Dokumente, Dokumentenauszüge, Tabellen, Grafiken und Zitate, mehrfarbig, 59,80 €
Rezension von Manfred Backerra
Der deutsche Ostfeldzug gegen die Sowjetunion 1941 ist für das Deutsche Historische Museum (DHM) im Internet „Der Überfall auf die Sowjetunion“ und „von Beginn an als ideologischer Weltanschauungs- und rasseideologischer Vernichtungskrieg konzipiert“ in dem „im Vordergrund standen die Eroberung von `Lebensraum´ sowie die wirtschaftliche Ausbeutung […]“. „Die offensichtlich überraschte Sowjetunion“ hatte gemäß DHM angeblich schwächere Kräfte als die deutsche Seite.
Doch generell wird nicht mehr bestritten, daß die Rote Armee für eine Offensive gegen Deutschland sehr massiert aufmarschiert war. Doch, so Bernd Schwipper, „rettet sich die etablierte Geschichtsschreibung nun [um Deutschland als unprovozierten Aggressor zu behalten] mit der widersinnigen These“, [der „Angriff der Wehrmacht vom 22. Juni 1941 [könne] kein Präventivschlag gewesen sein, denn die deutsche Seite [habe] keinerlei Bedrohung festgestellt.“
Der Historiker Jürgen Förster des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr schrieb:
„Zu keinem Zeitpunkt der militärischen Planung gab es auf deutscher Seite eine Bedrohungsvorstellung von der Roten Armee“ (Resümee: in: Bianka Pietrow-Ennker: Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, S. 211.)
Bogdan Musial meinte in „Kampfplatz Deutschland (S. 457):
„Entscheidend in der ganzen Debatte ist jedoch der Umstand, daß die deutsche Seite keinerlei Kenntnisse vom Stand der sowjetischen Streitkräfte, geschweige denn über den Stand der auf Hochtouren laufenden Vorbereitungen zum Angriffskrieg hatte. Somit bestand auf deutscher Seite kein unmittelbarer Anlass zum Präventivkrieg.“
Welchen Zwängen müssen Historiker unterliegen, die Geschichtsbeflissenen eine solche intellektuelle Zumutung auftischen, die anerkannt beste Armee des Krieges habe bei ihrem Aufmarsch keine Aufklärung betrieben und sei blind gen Osten marschiert!
Diese Behauptungen werden von Dr. Bernd Schwipper, Generalmajor a.D. der NVA, Autor des Buches „Deutschland im Visier Stalins“, mittels sehr vieler Dokumente der Wehrmacht aus dem Deutschen Historischen Institut Moskau, dem Militärarchiv Freiburg und einem Privatarchiv ad absurdum geführt. Der sowjetische Aufmarsch zu einer grenznahen Kräftemassierung wurde sehr wohl aufgeklärt. Daraus zog die deutsche Führung schließlich den laut sowjetischen Quellen den zutreffenden Schluß, ein Angriff der Roten Armee stehe kurz bevor. Da für eine Defensive gegen die überwältigende Angriffwalze die erforderlichen Kräfte und der tiefe freie Raum fehlten, kam nur ein präventiver Angriff in Frage, der die Rote Armee in ihrem verwundbarsten Zustand traf: kurz vor dem Angriff.
Da Hitler nach dem Pakt vom August 1939 jegliche Aufklärung gegen die Sowjetunion verboten hatte, war im Wesentlichen nur meist grenznahe Luftaufklärung und Funkaufklärung bis in die westlichen Militärbezirke der Sowjetunion möglich. Deshalb blieben der weitere Aufmarsch in der Tiefe verborgen; es fehlten auch genaues Wissen über Ausrüstung und Bewaffnung.
Spätestens mit Annexion der baltischen Staaten, Bessarabiens und der Nordbukowina Ende Juni 1940 wurden Stalins grundsätzliche Absichten erkennbar und die Zukunft der „deutsch-russischen Freundschaft“ zweifelhaft. Das Heer forderte eine geringere Demobilisierung nach dem Sieg über Frankreich. Ende Juni wurde die während des Westfeldzugs fast ganz von Truppen entblößte Ostgrenze wieder durch 15 nach dem Westfeldzug auffrischungsbedürftige, Infanteriedivisionen gesichert. Die bisher im Osten stationierten Landwehrdivisionen wurden schrittweise zurückgeführt und demobilisiert.
Waren schon vorher wegen des Einmarsches von 120 sowjetischen Divisionen ins Baltikum Truppen in Ostpreußen zur Grenzsicherung ausgerückt, so wurden auch die zurückkehrenden Truppen beauftragt, die Grenzen zu Rußland und Litauen zu sichern, feindliches Eindringen zu stoppen und nach Zuführung von Verstärkungen zum Angriff überzugehen. Zur Auffrischung in ihre Heimatstandorte im Osten (z.B.: nach Wien-St. Pölten) verlegte Panzerverbände hatten kampfkräftige Teile zur Sicherung der Ostgrenze bereitzuhalten. Der OB der18. Armee im Osten stellte ab dem 9. Juli seine Divisionen im so bereit, daß sie sowjetische Angriffsvorbereitungen schon jenseits der Interessengrenze zerschlagen konnten.
Am 24. Juli und 1. August 1940 beurteilte das Oberkommando des Heeres, daß die Konzentration von Kräften in den Grenzmilitärbezirken Stalins Absicht offenbare, weiter zu expandieren. In den neu zugeschnittenen sowjetischen Grenzmilitärbezirken waren nämlich 116 Divisionen und 4000 Flugzeuge der Luftstreitkräfte erkannt worden; insgesamt stellte man 198 Divisionen und 5000 Flugzeuge fest.
In der Folge verfügte die deutsche Führung immer über aktuelle Erkenntnisse über den sowjetischen Aufmarsch, der im Juli ein wenig beruhigendes Kräfteverhältnis bei Kampfdivisionen von bestenfalls 1 zu 7,73 ergab. Hatte man hier mit 7 sowjetischen Divisionen zuviel gerechnet, so wurden im September nur 120 von 128,5 sowjetischen Divisionen erkannt.
Hitler hatte am 21. Juli angewiesen, „politische und militärische Sicherungen“ zu treffen und meinte am 31. Juli: „Bestimmter Entschluß, Russland zu erledigen.“ Nach seinem weiteren Verhalten zu urteilen, war das aber nur eine emotionale Äußerung.
Nach weiteren Erkenntnissen über den sowjetischen Aufmarsch auch gegenüber Finnland wurde ab Anfang August mit „sofort“ zugeführten, u.a. von der Operation „Seelöwe“ gegen England abgezogenen Divisionen die Heeresgruppe B gebildet. Dies geschah, obschon Hitlers Weisung vom 2. November 1940 den Schwerpunkt noch auf den Kampf gegen England legte, und Handlungen gegen Russland mit dem Hinweis auf eingeleitete politische Besprechungen auf vorbereitende Maßnahmen beschränkte.
Gegen die Bedrohung Finnlands wurden einige Vorbereitungen der deutschen Truppen in Norwegen getroffen. Wegen desbedrohlichen sowjetischen Aufmarsches gegen Rumänien erhielt eine vom König erbetene deutsche Militärmission im September den Auftrag eine Rundumverteidigung des Erdölgebietes Ploesti zu organisieren, dessen Lieferungen für Deutschland lebenswichtig waren.
Erst nachdem Stalin durch Molotow am 12./13. November in Berlin verlangt hatte, Deutschland solle vom Belt bis zur Donau die Peripherie des Reiches als sowjetisches Interessengebiet und damit seine strategische Kapitulation anerkennen, nach weiterem bedrohlichem Aufmarsch von Land- und Luftstreitkräften, nachdem die Vorbereitung chemischer Kriegführung Rot festgestellt sowie das sowjetisch-britische Zusammenwirken auf dem Balkan erkannt worden waren, unterschrieb Hitler am 18. Dezember 1940 die Weisung 21: „Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Fall Barbarossa).“ Nach den Aufträgen für die Operationsführung heißt es: „Alle von den Herren Oberbefehlshabern aufgrund dieser Weisung zu treffenden Anordnungen müssen eindeutig dahin abgestimmt sein, daß es sich um Vorsichtsmaßnahmen handelt für den Fall, daß Rußland seine bisherige Haltung gegen uns ändern sollte.“ Es war also kein endgültiger, sondern ein bedingter, vom Verhalten der Sowjetunion abhängiger Beschluß.
Im Januar 1941 erschien das das 243-seitige Handbuch über die “Kriegswehrmacht der UdSSR“.
Am 15. Januar waren 120,5 Divisionen (28 zu wenig) in den Grenzmilitärbezirken und 161,5 in den westlichen Militärbezirken insgesamt erkannt worden, gegen welche 32 Divisionen der Wehrmacht standen. Das Kräfteverhältnis nach eigenen Erkenntnissen betrug 1 zu 3,76 bzw. 1 zu 5.04.
Neufeststellung grenznaher Kampffliegergruppierungen.
Daher ergingen am 31. Januar Aufmarschanweisungen. Mittlerweile war neben der technischen Aufklärung auch die geheimdienstliche der Abwehr in Aktion.
Im Februar: Die Aufklärung wurde verstärkt; das Luftwaffen-Orientierungsheft erschien; Hitler war betroffen wegen der Bedrohung durch starke sowjetisch Luftstreitkräfte in Grenznähe. Fernbomber konnten Berlin, Prag, Wien und Sofia angreifen.
Aufgrund der Massierung von Kräften im Kiewer Besonderen Militärbezirk wurden weitere deutsche Divisionen nach Osten verlegt.
Für Norwegen, Finnland, Rumänien und Bulgarien wurden die Bedrohungen durch britische und sowjetische Aktionen immer akuter, britische und sowjetische Geheimdienste wirkten höchstwahrscheinlich zusammen. Das Risiko eines Krieges wurde größer.
Im März 1941 verstärkte man die Aufklärung über die Verkehrsinfrastruktur und das gesamte Wehrpotential der Sowjetunion erheblich, da nun die operativen Planungen begannen. Da es vorher keinerlei Vorbereitungen für eine Kriegsplanung gegen die Sowjetunion gegeben hatte, mußten alle Planungs- und Informationsunterlagen improvisiert werden.
Meldungen: Verlegung von Kräften an die Westgrenzen der annektierten baltischen Staaten, Einberufung von vier Rekruten-Jahrgängen, Teilmobilmachung der Roten Armee, Übungsfliegeralarme und Verdunkelungsübungen in der westlichen Sowjetunion, Vorgesetzte sprechen vor der Truppe über einen bevorstehenden Krieg mit Deutschland.
Am 15. März befahl das OKH, wehrwirtschaftliche Anlagen im besetzten Polen gegen sowjetische Fallschirmjäger-Aktionen zu sichern.
Anfang März hatten Briten einen norwegischen Hafen überfallen. Mitte März waren 18-20 000 Briten in Griechenland gelandet. Sowjetische Geheimdienste beteiligen sich am gegen Deutschland gerichteten Putsch in Jugoslawien, wahrscheinlich zusammen mit britischen!
Das OKH sieht Massierung sowjetischer Kräfte gegen Ostpreußen und das besetzte Polen wegen schwacher eigener Kräfte als größte Gefahr.
Denn wegen des langsamen eigenen Aufmarsches und des Abzugs von 7 Divisionen für der Balkanfeldzug am 2. März standen gegen 162 Divisionen nur 42 eigene Divisionen, ein Kräfteverhältnis von um 1 zu 4, dazu ein riesiges Übergewicht an sowjetischen Kampfflugzeugen .
Anfang April wies das OKW an, „Abwehrvorbereitungen“ zu verstärken. Zugleich befahl der OB Heeresgruppe B seinen drei Armeen, „das unmittelbare Grenzgebiet gegen jeden feindlichen Angriff zu verteidigen.“ Der Generalstabschef des Heeres stellt fest, „daß die russische Gliederung sehr wohl einen raschen Übergang zum Angriff ermöglicht“. Dennoch lehnt es Hitler ab, den Höchstleistungsfahrplan einzuführen.
Die Funkaufklärung erkannte neue Verbände des Aufmarsches Rot, und daß die Land- und Luftstreitkräfte sich bereits in der Kriegsstruktur befanden. Am 13. April meldete Fremde Luftwaffen Ost 39 Fliegerdivisionen mit 141 Geschwadern in der europäischen UdSSR, davon 29 Divisionen mit 141 Geschwadern in den Grenzmilitärbezirken und eine weitere Massierung im grenznahen Raum. Demnach mußte ihr Aufmarsch kurz vor dem Abschluß stehen.
Am 28. April meldete Fremde Heere Ost das Aufschließen der Roten Armee zur Grenze, bewegliche Kräfte-Gruppen, Verlegen von Kräften aus der finnischen Front und dem Kaukasus nach Westen, das Auftreten offenbar neu aufgestellter Truppen, Musterungen von Wehrpflichtigen und die Einberufung von Spezialisten.
In den westlichen Militärbezirken wurden 166 Divisionen festgestellt. Das waren zwar 95 weniger als der Autor uns wieder aus sowjetischen Quellen wissen läßt, doch die Erkenntnisse insgesamt ließen erkennen, daß der Aufmarsch praktisch abgeschlossen war und ein Angriff kurz bevorstand.
Am 1. Mai legte Hitler den Beginn des Angriffs auf den 22. Juni fest.
Entschlußfassung wahrscheinlich im letzten Drittel des April nach Abschluß des Balkanfeldzuges.
Gespräche mit Finnland, Ungarn und Rumänien zur Teilnahme an „Barbarossa“ waren nun freigegeben, allerdings spätestmöglich.
Während die Aufmarschbewegungen Rot Richtung West unablässig weiter gingen und eine neue Konzentration im und Richtung Frontvorsprung Lemberg festgestellt worden war, hatte de Wehrmacht wegen der langsamen Rückführung der Divisionen aus dem Balkan am 12. Mai nur erst 72 Divisionen im Osten, darunter nur zwei Panzerdivisionen. Kräfteverhältnis: 1 zu 2,3.
20. Mai: 194 Divisionen in der europäischen UdSSR gemeldet.
Erst nachdem der Krieg als sicher feststand, setzte auf deutscher Seite mit einer Reihe von Weisungen die Ideologisierung ein.
Die offensive Ausrichtung des Aufmarsches Rot wurde im Aufklärungsbild immer mehr und genauer durch die extreme Massierung z.B. im Balkon von Bialystok bestätigt.
Das erst am 1. Juni erschienene Informationsheft über die Panzer der Roten Armee zeigte nur die schon länger bekannten Panzertypen. Die neuen, streng geheim gehaltenen Panzertypen T-34 und KW hatte die ab September 1939 ausgesetzte Aufklärung noch nicht aufklären können.
Doch obschon auf der Karte eine für „defensives Verhalten“ absurde Konzentration der Kräfte Rot eingezeichnet war, behauptete Fremde Heere Ost am 13. Juni noch, daß „im großen gesehen“ eben dieses zu erwarten sei.
Am 18. Juni, 4 Tage vor Angriffsbeginn, hatte die deutsche Aufklärung die in den 5 Grenzmilitärbezirken Leningrad, Baltischer Besonderer MB, Westlicher Besonderer MB, Kiewer Besonderer MB, MB Odessa aufmarschierten Divisionen fast komplett erkannt: 211,5 von 216,5.
Am 22. Juni standen
120 deutsche plus 7 rumänische Divisionen mit 3.332 Panzern und 2.253 Flugzeugen gegen
die Rote Armee mit nach heutigen russischen Angaben 216,5 Divisionen, 12.379 Panzern und 8.240 Flugzeugen.
Die Wehrmacht hatte davon 212 Divisionen und 7.500 Flugzeuge im europäischen Teil der UdSSR aufgeklärt und rechnete mit 10.000 Panzern.
Wie schwer dem Diktator daher der Befehl zum Angriff gefallen ist, erkennt man u.a. aus diesen Worten gegenüber einem vertrauten Staatssekretär: „Schweres Entschließen, aber vertraue auf die Wehrmacht. [sowjetische] Jäger und Bomber zahlenmäßig überlegen. Etwas Angst für Berlin und Wien. […] Haben ihre ganze Kraft an der Westgrenze. Größter Aufmarsch der Geschichte. Wenn es schief geht, ist sowieso alles verloren.“
Bernd Schwipper fügt in seiner Darstellung noch gute Überlegungen über das mögliche Kalkül Stalins zu den besten Zeitfenstern für den Angriff ein. Dieses Kalkül hat anscheinend auch ein Brief Hitlers an Stalin vom 14. Mai beeinflußt, in dem er für die Invasion Englands den Abzug deutscher Divisionen aus dem Osten angekündigt hatte, die dort außerhalb der Reichweite feindlicher Bomber stationiert worden seien.
Der Vergleich des deutschen Aufklärungsbildes Rot mit den Fakten Rot stellt der deutschen Aufklärung ein sehr gutes Zeugnis aus als sich ständig verbesserndes, vorsichtig urteilendes System aus. Allerdings konnte die Aufklärung in der kurzen Zeit nicht die bisherige nachrichtendienstliche Vernachlässigung der UdSSR wettmachen: Die Modernisierung der Roten Armee (u.a. 30 mechanisierte Korps) und die militärisch-industrielle Leistungsfähigkeit blieben eine Überraschung.
Als Prüfsteine für die Seriosität eines Historikers, Publizisten oder Politikers sollten Bernd Schwippers Dokumentationen es unmöglich machen, weiterhin den Präventivangriff „Barbarossa“ als schon immer beabsichtigtes oder sogar beschlossenes Unternehmen zur Vernichtung des Bolschewismus oder für Lebensraum zu bezeichnen.
Die Fülle von Abdrucken originaler Dokumente aller Art, nicht zuletzt von Lagekarten, machen diese Bücher preiswerten Fundgruben zum Zweiten Weltkrieg.