Original link: https://zgif.ch/2025/05/29/die-hetze-gegen-alles-russische-ist-einer-zivilisierten-gesellschaft-unwuerdig/
«Die deutschen ‹Eliten› haben sich von den alten menschlichen Werten schon lange verabschiedet»
Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger. Das Gespräch führte Thomas Kaiser für „Zeitgeschehen im Fokus“.
Zeitgeschehen im Fokus: Die EU- und Nato-Staaten wollen – bis auf wenige Ausnahmen – keinen Frieden. Sie rüsten auf und bereiten einen Krieg gegen Russland vor. Das ist ein Bruch des Völkerrechts. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Prof. Dr. Alfred de Zayas: Die Haltung der Regierungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland und in anderen Nato-Ländern ist inkompatibel mit Artikel 2(3) und 2(4) der Uno-Charta und stellt eine «Bedrohung des Weltfriedens und internationalen Sicherheit» im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta dar.
Gemäss Artikel 103 der Charta, die als eine Art «Weltverfassung» gilt, besitzt die Charta Priorität über alle anderen Verträge – die der EU und Nato eingeschlossen. Darum sind alle Staaten verpflichtet, ihre Verträge und ihre Handlungen in Einklang mit der Uno-Charta zu bringen und alle internationalen Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu lösen.
Hinzu kommt, dass jede Provokation, jede Eskalation eine «Androhung oder Anwendung von Gewalt» darstellt, die im Artikel 2(4) sowie in etlichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung, unter anderem in den Resolutionen 2625 und 3314 untersagt ist. Wenn ein Krieg ausbricht, dann gilt eine Verpflichtung zu Friedensverhandlungen.
Die Haltung der Ukraine und der Nato-Staaten, die die Friedensverhandlungen vom März 2022 ablehnten und die Umsetzung des Kompromisses von Recep Tayyip Erdoğan vereitelten, tragen eine enorme Schuld für den Tod von vielleicht einer Million Menschen. Ihre kriegerische Haltung stellt eine Verletzung der Uno-Charta und auch der menschlichen Ethik dar.
Auch die Bürger Deutschlands und der anderen Nato-Staaten müssen verstehen, dass die Uno-Charta Vorrang vor dem Nato-Vertrag hat. Sie müssten auch verstehen, dass die Nato-Osterweiterung, der von den USA und der EU unterstützte Putsch vom Februar 2014 in der Ukraine und die systematische Verletzung der Minsker Abkommen durch die Ukraine die direkten Ursachen der russischen Invasion bilden. Leider wollen die Nato-Staaten dies bis heute nicht zugeben.
Sie wollen den Krieg sogar eskalieren, obwohl es absolut keine Chance gibt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen könnte. Ein Sieg der Ukraine (und der Nato) wäre zudem ungerecht und eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der russischen Mehrheiten im Donbas und auf der Krim.
Das bedauerliche Kiewer Treffen Selenskyjs am 10. Mai mit Keir Starmer, Emmanuel Macron, Friedrich Merz und Donald Tusk war von einer intransigenten Rhetorik geprägt und bewies noch einmal, dass sie nicht bereit sind, ihre eigene Schuld einzugestehen. Deutschland zeigte sich hier besonders bellizistisch. Die Rechthaberei der Scholz/Baerbock-Regierung kann unter Merz noch schlimmer werden.
Dennoch ist der Friede die absolute Priorität der Uno. Der Friede ist auch das Gebot des Evangeliums, und dies wurde etliche Male durch Papst Franziskus im Bezug auf die Ukraine wiederholt. Der neue Papst Leo XIV. hat sein Pontifikat eben mit dem Wort «Friede» begonnen.
Deutschland gehört wieder einmal zu den Kriegstreibern und forciert die Aufrüstung. Sie hatten immer ein positives Verhältnis zu Deutschland, haben dort studiert, promoviert, entscheidende Bücher über Aspekte der deutschen Geschichte wie zum Beispiel «Die Nemesis von Potsdam» geschrieben. Wie beobachten Sie die Veränderungen?
In den 70er- und Anfang der 80er Jahre konnte man in Deutschland seriöse Forschung betreiben. Mein Projekt «Wehrmacht-Untersuchungsstelle» am Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen wurde seinerzeit sogar von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert und methodisch durch kompetente Berater unterstützt und begleitet.
Wir veranstalteten zwei internationale Tagungen – die eine in Göttingen mit zahlreichen auswärtigen Wissenschaftlern, die meisten Professoren und Archivare, und die zweite an der Universität Köln. Ich habe einen langen Schlussbericht für die DFG verfasst und in der 8. Ausgabe von Wehrmacht-Untersuchungsstelle erstveröffentlicht.
Der Bericht befindet sich auch auf meiner eigenen Website.1 Ein derartiges wissenschaftliches Unterfangen wäre heutzutage absolut undenkbar. Das Institut für Völkerrecht würde so etwas nicht wagen, und die DFG würde das Projekt sogar bekämpfen.
Ich habe nach wie vor ein positives Verhältnis zur deutschen Kultur, deutschen Musik und vor allem zur deutschen Literatur. Ich habe mehr als 120 Gedichte von Rainer Maria Rilke ins Englische übertragen (auch einige ins Französische und ins Spanische) und in einem erfolgreichen Buch in Amerika veröffentlicht, das sich einer zweiten ergänzten Ausgabe erfreut.
Kürzlich habe ich 220 Gedichte von Hermann Hesse übersetzt, die demnächst in Amerika erscheinen werden. Hinzu kommen meine Übersetzungen von Goethe, Eichendorff, Lenau, Miegel und so weiter. Ich liebe die deutsche Sprache, Musik, Kultur nach wie vor. Die heutigen Pseudo-Politiker in Berlin können mir meinen Genuss an der deutschen Kultur nicht verderben.
Warum gab es in den letzten drei Jahrzehnten diese negative Entwicklung?
Der Zeitgeist in Deutschland hat sich zum Totalitarismus verändert, und ich verstehe es auch nicht, denn der Zeitgeist in den 70er Jahren war ganz anders. Die Kriegsgeneration war noch am Leben, und sie hatte noch gewisse Werte, die inzwischen abhandengekommen sind.
Akademische Forschungsfreiheit existierte noch. Aber es begann schon mit Mobbing gegen unabhängige Forscher und deshalb wurde ich Mitglied des Bundes Freiheit der Wissenschaften. Als Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht habe ich bereits 1980 über die wachsenden Gefahren der Einschränkung der Meinungsfreiheit und für die Demokratie referiert.
Eine allmähliche geistige Zerstörung der deutschen Wissenschaft begann bereits Ende der 70er Jahre, die in dem sogenannten Historikerstreit der Jahre 1985 bis 1987 ihren Ausdruck fand. Auf der einen Seite standen Historiker in der Tradition Leopold von Rankes (Geschichtsschreibung «wie ist es eigentlich gewesen?») – unter anderem Andreas Hillgruber, Ernst Nolte, Hagen Schulze und Michael Stürmer.
Auf der anderen Seite waren die politisierten Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Hannes Heer und der Philosoph Jürgen Habermas. Ich selbst habe eine Reihe von Beiträgen zur Versachlichung der Auseinandersetzung geliefert, die unter anderem in der Zeitung Die Welt veröffentlicht wurden.
In der beschriebenen Entwicklung zeigte sich ganz deutlich die Verweigerung, unterschiedliche historische Erkenntnisse, Standpunkte und Perspektiven wissenschaftlich zu diskutieren und daraus eine Synthese zu formulieren, um so der Wahrheit näher zu kommen. Aber es ging vor allem um Ideologie und nicht um neutrale Forschung.
Das war nicht erwünscht. Bis heute konstatieren wir, dass in vielen Bereichen ein menschenrechtlicher und zivilisatorischer Rückschritt stattgefunden hat. Es gibt keine Meinungsfreiheit mehr, sondern Zensur, Angst, soziale Ausgrenzung und Selbst-Zensur.
Art. 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) stipuliert:
(1) Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit.
(2) Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen, Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.
Sie sprechen von einer allmählichen geistigen Zerstörung der Wissenschaften. Wo sehen Sie die Gründe für diese negative Entwicklung?
Die Regierenden sind nicht dieselben wie in den 70er und 80er Jahren. Wir haben es mit einer neuen politischen Klasse zu tun, die Opfer der Propaganda und Umerziehung ist. Die heutigen Politiker haben nicht dieselben Werte wie damals.
Anstand, Demut, Ehre, Ehrlichkeit, Integrität und Wahrheitsliebe sind nicht auf der Speisekarte. Überall beobachtet man ideologisierte Stellungnahmen oder einfachen Opportunismus und Karrierismus.
Für diese Politiker spielt das Wohl des deutschen Volkes keine Rolle mehr. Hinzu kommen die großen Medien, die die offizielle Regierungspropaganda tragen. Es geht um eine Verdummung und Indoktrinierung des Volkes.
Manchmal fragt man sich bei vielen Politikern wie Merz, Baerbock, Faeser, Pistorius, Strack-Zimmermann und vielen mehr, bei denen man einen unverhohlenen Russenhass feststellen kann, ob sie irgendetwas aus der Geschichte gelernt haben oder die deutsche Geschichte überhaupt kennen. Wie sehen Sie das? Was hätte es gebraucht, um nicht hinter das Ende des Kalten Kriegs zurückzufallen?
Keiner von diesen Politikern hat irgendetwas aus der Geschichte gelernt. Aber dies ist allgemein so. Bereits im Jahre 1830 kommentierte Georg Wilhelm Hegel: «Was die Erfahrung, aber auch die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.»2
Man lernt auch nichts von völkerrechtlichen Verträgen. Wenn man weiß, dass Artikel 20 des Uno-Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) die Kriegspropaganda und die Aufstachelung zu Hass und Gewalt expressis verbis verbietet, liegt hier ein krasser Verstoß vor.
Diese Vertreter Deutschlands agieren gegen das Völkerrecht und gegen die internationale Moral, wenn sie «Hate Speech» gegen die Russen, gegen die russische Kultur, gegen russische Künstler betreiben. In Deutschland gibt es regelrechte Aufstachelung zum Hass gegen die Russen.
Deutsche Bürger, die damit nicht einverstanden sind, sollten sich an den Uno-Menschenrechtsausschuss wenden, deren Sekretär ich war. Als ehemaliger Chef der Petitionsabteilung im Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, und in meinem Buch «United Nations Human Rights Committee Case Law»3 habe ich die Prozedur erklärt, wie man gegen Verletzungen des Paktes handeln soll.
In Deutschland gibt es Verletzungen vieler Artikel unter anderem 9, 14, 19, 20, 21, 22, 25, 26, aber es gibt nur wenige Klagen gegen Deutschland. Ich vermute, dass die Menschen die Prozedur nicht kennen.
Art. 20
(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.
(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.
In Deutschland hat man russische Sender verboten. Die Mainstream-Medien und die Politik haben einen antirussischen Tenor, der sich auf die allgemeine Stimmung auswirkt. Russen haben nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs in einigen Ländern des Westens ihre Stellen verloren. Wie kann so Frieden in Europa geschaffen werden?
Die Hetze gegen alles Russische ist einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig. Aber die deutschen «Eliten» haben sich von den alten menschlichen Werten schon sehr lange verabschiedet. Es bleiben nur leere Bekenntnisse zu den Menschenrechten und eine Hyper-Heuchelei.
Auf Englisch nenne ich das Phänomen eine Art «Himalayan Hypocrisy», Doppelmoral, Mangel an Respekt für die anderen, Mangel an Vernunft.
Diese Verbote von ausländischen Sendern erinnern uns an das Nazi-Verbot, BBC-Radio zu hören. Zweifelsohne bedeutet dies alles eine massive Verletzung des Artikels 19 des IPBPR, und deutsche Bürger sollten ihre Klagen an den Menschenrechtsausschuss schicken.4
Dabei geht es nicht nur um die Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit von RT und Sputnik – es geht um unser Recht, zu wissen, was man nennt: «The right to know oder the right to truth», wie ich in meinen 14 Berichten an den Menschenrechtsrat und an die Uno-Generalversammlung bekräftigt habe.5
Im Jahre 2011 hat der Menschenrechtsausschuss einen Kommentar zum Artikel 19 IPBPR veröffentlicht. Besonders einschlägig ist Absatz 49. Ich habe darüber einen langen Artikel in der Netherlands International Law Review veröffentlicht.6
Was sagt der Kommentar zum Artikel 19 Absatz 49?
«Gesetze, die die Meinungsäußerung zu historischen Tatsachen unter Strafe stellen, sind unvereinbar mit den Verpflichtungen, die der Pakt den Vertragsstaaten hinsichtlich der Achtung der Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit auferlegt.
Der Pakt erlaubt kein generelles Verbot der Äußerung einer falschen Meinung oder einer falschen Interpretation vergangener Ereignisse. Einschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit sollten niemals verhängt werden … »
Als der Ausschuss diesen Kommentar annahm, war ich im Raum. Einige Mitglieder haben auf die deutsche Gesetzgebung hingewiesen, insbesondere auf die Verfolgung von Historikern, die eine andere Perspektive vertreten. Seinerzeit war die Frage der Zensur gegen RT noch nicht aktuell, sonst wäre sie damals genauso negativ beurteilt worden.
Das Verbot der russischen Sender ist doch schlichtweg Zensur.
Natürlich ist das Zensur und dazu noch eine schwere Beeinträchtigung der Demokratie, denn man kann nur dann demokratisch entscheiden, wenn man alle Fakten und alle Perspektiven kennt. Ansonsten wird man von der Obrigkeit manipuliert.
Man hat ein Menschenrecht auf Information. Meinungsfreiheit ist kein Luxus, sondern ein fundamentales Bürgerrecht, das auch im deutschen Grundgesetz enthalten ist. Man hat ein Menschenrecht, sich Informationen zu beschaffen, um sich eine ausgewogene Meinung zu bilden. Die deutschen Behörden agieren gegen fundamentale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, unter anderem «audiatur et altera pars» – auch die andere Seite muss gehört werden!
Deutschland galt eine Zeitlang als solide Demokratie und als Rechtsstaat. Wie beurteilen Sie heute die Bundesrepublik Deutschland?
In diesem Punkt denke ich ähnlich wie J. D. Vance und Marco Rubio. Das heutige Deutschland ist keine Demokratie mehr und kennt keine Meinungsfreiheit. Wissenschaftler, die legitime Themen auf wissenschaftliche Art anpacken, werden diffamiert, verfolgt, manchmal sogar verhaftet.
Gerade deshalb habe ich seit sechs Jahren keine Einladung nach Deutschland mehr angenommen, Vorträge oder Vorlesungen in Deutschland zu halten. Noch im Jahr 2023 wurde ich vom Menschenrechtsausschuss des deutschen Bundestags als Experte eingeladen. Ich habe abgewinkt, weil ich mir das Risiko nicht leisten kann, für irgendetwas angeklagt zu werden.
Dann kostet es mich 30 000 Euro für juristische Beratung und ich würde dabei über Monate Zeit verlieren. Allerdings wurde ich schon in den 90er Jahren als Experte im Rechtsausschuss des Bundestags und vor deutschen Gerichten als Rechtsexperte bestellt. Auch im Jahre 2019 war ich zweimal Gutachter im Bundestag.
Damals war die Atmosphäre in Deutschland schon nicht erfreulich, aber sie hat sich seitdem zusehends verschlechtert. Ich ziehe die Konsequenzen.
Die Bekanntmachung der abgewählten Innenministerin Nancy Faeser vom 2. Mai, dass die AfD als «gesichert rechtsextrem» gilt, und die Gefahr, diese Partei zu verbieten, stellen einen frontalen Angriff auf die deutsche Demokratie, auf die Rechtsstaatlichkeit dar, auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Bewertung vorerst sistiert hat.7
Wenn die Europäische Kommission halbwegs neutral wäre, würde sie diese totalitäre Maßnahme als eine Verletzung des Artikels 2 des Lissaboner Vertrages (LV) einstufen und eine Untersuchung gemäß Artikel 7 LV einleiten. Dies wird aber nicht geschehen, denn es sitzen dieselben totalitären Geister in der EU wie in der Regierung in Berlin.
Meiner Meinung nach ist der heutige «Verfassungsschutz» nicht da, um die Verfassung zu schützen, sondern um sie zu untergraben. Als Historiker sehe ich Parallelen. Mir scheint, dass sich Deutschland mit seinem Verfassungsschutz, auch Geheimdienst genannt, immer mehr in eine Richtung bewegt, so dass der Vergleich mit der Gestapo einmal Wirklichkeit werden könnte, wenn niemand Gegensteuer gibt.
Dass der Partei ein Einblick in das Papier des deutschen Geheimdienstes und damit das rechtliche Gehör und die Möglichkeit dagegen Einspruch einzulegen, verweigert wird, hat mit der Rechtsprechung eines demokratischen Staatswesens nichts mehr zu tun. Parteienverbote kennt man aus der deutschen Geschichte und das Entfernen unliebsamer Bürger aus öffentlichen Ämtern auch.
US-Außenminister Marco Rubio hat von «Tyrannei» in Deutschland gesprochen. Deutschland habe seinem Geheimdienst Befugnisse zur Überwachung der politischen Opposition erteilt, die eigentlich die grösste Partei im Lande ist. Rubio schrieb auf X: «Das ist keine Demokratie – es ist verdeckte Tyrannei.»
Seine Darstellung zufolge liegt der wahre Extremismus nicht bei der AfD, «sondern in der tödlichen Einwanderungspolitik der offenen Grenzen des Establishments, die die AfD ablehnt».8
Die Einschränkung der Forschung sowie die Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit sind, wie Sie bereits erklärt haben, ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Wie geht der Uno-Menschenrechtsrat mit solchen Entwicklungen um?
Der Menschenrechtsrat ist eine politische Institution, die enormem politischem Druck ausgesetzt wird. Man darf den Menschenrechtsrat und den Menschenrechtsausschuss nicht verwechseln. Der Rat interpretiert das Völkerrecht nach Belieben, à la carte.
Der Ausschuss ist ein Expertengremium und praktisch alle seine Mitglieder sind Juristen, Professoren der Jurisprudenz oder Richter. Allerdings, auch der Ausschuss agiert nicht immer neutral, denn die Staaten bestimmen, wer dessen Mitglieder sind.
Eine Person wie ich wird niemals nominiert und gewiss nicht gewählt. Dennoch agiert der Ausschuss viel mehr im Sinne der Rechtsstaatlichkeit als der Rat. Es gibt einige solide Professionelle im Ausschuss, unter anderem Dr. Rodrigo A. Carazo aus Costa Rica.
Es gibt aber eine Mehrheit von Ideologen und Politikern. Ich würde es begrüßen, wenn Generalsekretär António Guterres und Hochkommissar Volker Türk diese totalitäre Entwicklung in Deutschland beim Namen nennen würden. Aber sie schweigen.
Hatte Deutschland in der letzten Zeit eine Universal Periodic Review (UPR), das sogenannte Länderexamen, und was kam dabei heraus?
Das letzte UPR Deutschlands fand im November 2023 statt. Es war ein nutzloses politisches Spektakel, und dabei ist nichts herausgekommen.9
Die EU hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten, was damals schon sehr befremdlich war. Heute stellen wir fest, dass eine Mehrheit der Staaten Krieg will und dabei Leid und Elend in Kauf nimmt. Worin sehen Sie die Ursachen?
Da sind enorme wirtschaftliche und finanzielle Interessen im Spiel. Die Kriegsindustrie verdient Milliarden am Krieg, und sie haben so viel Geld, dass sie die Politiker kaufen können, auch die Medien. Alles ist korrumpiert worden.
Die EU hat keine Werte mehr, und gewiss kein Interesse am Frieden. Allenfalls hören wir Lippenbekenntnisse, aber sogar solche Floskeln vernehmen wir immer weniger, denn die Trommeln des Krieges dröhnen. Bei der EU erkennen wir die Relevanz der Frage Juvenalis: «quis custodiet ipsos custodes» – wer bewacht die Wächter?10
Die EU ist für den Frieden geschaffen worden, aber nach und nach tut sie genau das Gegenteil. Die Wächter haben die europäischen Bürger betrogen und verraten. Nur wir können Wächter sein. Es geht um die Rettung der Zivilisation.
In der letzten Zeit kam es mehrmals vor, dass sich der Westen in die Wahlen anderer Länder eingemischt hatte oder Wahlergebnisse willkürlich anerkannte oder auch nicht, so geschehen in Georgien, Rumänien, Moldawien. Ist das nicht ganz klar eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten und somit ein Bruch der Uno-Charta?
Natürlich sind sie vulgäre Einmischungen und illegal. Alle diese «Colour Revolutions» sind von außen gesteuert, nicht «homegrown». Meistens sind Einmischungen in die inneren Angelegenheiten von anderen Staaten von langer Hand geplant, oft durch USAID und das National Endowment for Democracy finanziert.
Allmählich erfahren wir, wieviel Geld in die Zersetzung der politischen Stabilität anderer Staaten investiert worden ist. Als US-Bürger ärgert mich dies sehr, denn ich bezahle erhebliche US-Steuern. Nebenbei bemerkt, seit 2017 bin ich auch Schweizer und habe mein Bürgerrecht in allen Wahlen und Referenden wahrgenommen.
Gott sei Dank ist das in der Schweiz noch möglich, und das muss auch so bleiben. Hinzu kommt das Problem der sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen, die aber eine politische Zielsetzung haben – und zwar «regime change» zu fördern.
Deshalb haben viele Staaten neue Gesetze erlassen, um die Aktivitäten dieser Organisationen beobachten und um sie wie «foreign agents» behandeln zu können. Diese Gesetze sind nicht gegen die Menschenrechte gerichtet – im Gegenteil – sie sollen die Demokratie vor ausländischer Einflussnahme schützen.
Natürlich verletzen die künstlich initiierten farbenen Revolutionen viele Normen der Uno-Charta, vor allem Artikel 1 und 2. Das gesamte multilaterale System baut auf jenen Prinzipien der Souveränität jedes Staates auf und auf der Verpflichtung zur Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten.
Dies ist auch Völkergewohnheitsrecht, das wir in etlichen Resolutionen der Uno- Generalversammlung wieder antreffen, zum Beispiel 2131, 2625, 3314, 60/1 sowie auch im Helsinki Final Act von 1975 und in der Vienna Declaration and Programme of Action von Juni 1993.11
Diese Prinzipien befinden sich auch in meinen «25 Principles of International Order», die ich 2018 dem Menschenrechtsrat vorlegte und später in ergänzter Fassung im Kapitel 2 meines Buches «Building a Just World Order» veröffentlichte.12
Der Westen bemühte in den letzten Jahren den Begriff der «regelbasierten Ordnung». Was versteht das Völkerrecht unter «regelbasierter Ordnung»? Wer bestimmt denn diese Ordnung beziehungsweise die dazugehörigen Regeln?
Die Uno-Charta ist die einzige universelle «regelbasierte Ordnung», die wir haben. Diese Ordnung wird durch internationale Verträge und Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes bekräftigt und ergänzt. Die Floskel «rules-based international order» war eine künstliche Formulierung des ehemaligen US-Außenministers Antony Blinken.
Sie hatte keine Gültigkeit, denn diese sogenannte Ordnung bedeutete nur die «Ordnung», die von den Vereinigten Staaten und ihren Vasallen dem Rest der Welt aufgezwungen werden sollte.13 Glücklicherweise sind Blinken und Biden weg. Nur die Europäer hängen noch an dieser Formulierung und dabei handelt es sich um eine neo-koloniale Weltordnung.
Für die USA und Europa ist es aber vorbei. Die Zeit des Unipolarismus ist weggefegt worden. Ob die Deutschen und die Europäer es wollen oder nicht, die Welt des 21. Jahrhunderts und die Ordnung des 21. Jahrhunderts werden von den «Entwicklungs-» und «Schwellenländern» zunehmend bestimmt, auch von China, Indien, Südafrika, Brasilien, Indonesien.
Man kann die Welle der BRICS-Staaten nicht aufhalten. Auch die Belt-and-Road-Initiative Chinas nimmt an Bedeutung zu. Die Kasan-Erklärung vom Oktober 2024 stellt einen Aktionsplan vor.14 Dieser Aktionsplan ist viel konkreter und besser als der im September 2024 von der Uno verkündete sogenannte «Pact for the future».15
Welche Möglichkeiten haben internationale Organisationen, um positiv auf die Entwicklung hin zur Multipolarität einzuwirken?
Begrenzte Möglichkeiten, die sie aber unbedingt nützen müssen. Die internationale Ordnung befindet sich in Bewegung. Auch die internationalen Organisationen wie die Uno und deren Unterorganisationen wie ILO, OHCHR, UNCTAD, UNDP, UNEP, UNESCO, UNHCR, UNICEF, UNIDO, WHO, WIPO werden sich anpassen müssen.
In den nächsten 20 Jahren werden alle diese Organisationen mit erheblichen finanziellen Problemen konfrontiert sein, denn die Beiträge der USA werden immer kleiner. Allerdings sind die Beiträge Chinas enorm gewachsen. Viele Mitarbeiter werden sicherlich entlassen beziehungsweise ihre Zeitverträge werden schon jetzt nicht verlängert.
Nichtsdestoweniger spielen die internationalen Organisationen eine bedeutende Rolle und sind notwendig für den Frieden sowie den Multilateralismus. Ich gehe davon aus, dass Länder wie Brasilien, China, Indien und Indonesien die internationalen Organisationen zunehmend finanzieren werden.
Allerdings brauchen wir alle einen Paradigmenwechsel, eine radikale Änderung unserer Haushaltsprioritäten: Weg von Krieg, weg von der Kriegsindustrie, hin zu einem Weg der Abrüstung. Wir brauchen mehr internationale Solidarität.
Wir müssen eine Umwandlung von militärisch geprägten Volkswirtschaften in Volkswirtschaften für menschliche Sicherheit verlangen. Die Zukunft der Zivilisation hängt davon ab.
Sie sind Schweizer und US-amerikanischer Doppelbürger. Die Schweiz bewegt sich immer mehr in Richtung EU und Nato. Die Neutralität scheint kein Wert mehr zu sein. Was wird am Schluss dieser Entwicklung mit der Schweiz geschehen?
Meine Organisation, das «Geneva International Peace Research Institute», setzt sich für die Neutralität ein.16 Wir haben zahlreiche Pressemitteilungen herausgegeben und mit etlichen anderen Friedens-Bewegungen kooperiert. Wir beobachten mit Sorge, wie die wesentlichen Elemente der Neutralität eines nach dem anderen aufgegeben oder relativiert wurden.
Vor einigen Wochen habe ich an einer Debatte im Genfer Presseclub teilgenommen. Ich stimme mit denjenigen überein, die die Neutralität nüchtern und überzeugend vertreten. Sehr unzufrieden bin ich mit Micheline Calmy-Reys Stellungnahmen, die im Grunde die schweizerische Neutralität auf gefährliche Weise relativierte beziehungsweise untergrub.
Auch die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Viola Amherd, hat nicht im Sinne der Schweiz und der Schweizer Neutralität gehandelt. Das Spektakel an der Bürgenstock-Konferenz war eine einzige Schande. Das war nichts anderes als eine persönliche Selbstdarstellung von Bundesrätin Viola Amherd und Bundesrat Ignazio Cassis.
Außer dass die Geladenen auf dem Bürgenstock sich auf Staatskosten haben bewirten lassen und Selenskyj hofierten, kam nichts dabei heraus. Heute spricht kein Mensch mehr davon. Das hat uns keinen Millimeter einem Frieden näher gebracht, im Gegenteil: Russland war ausgeschlossen. Es war der Schweiz nicht würdig.
Ich habe Viola Amherd als Schweizer Staatsbürger einen Offenen Brief auf Englisch geschickt, den ich auch in Counterpunch veröffentlichte.17 Ich bekam nie eine Antwort, nicht einmal eine Empfangsbestätigung.
Man will nicht begreifen, dass die Nato keine legitime Organisation im Sinne des Artikels 52 der Uno-Charta ist. Nach diesem Artikel müsste die Nato im Sinne der Uno-Charta handeln, und nicht gegen die Ziele der Organisation. Die Nato war einmal eine Allianz für die Verteidigung. Seit 1991 wurde sie eine militärische Koalition, um andere Länder zu bedrohen und anzugreifen.
Die Verbrechen der Nato-Staaten in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien sind aktenkundig, sind gut belegt. Die BBC veröffentlichte vor ein paar Tagen Berichte über Kriegsverbrechen durch britische Soldaten in Afghanistan: «We are the good guys» – das habe ich als Kind gelernt.18 Nato-Staaten haben gegen Artikel 5, 6, 7, und 8 des Statuts von Rom gehandelt.
Daraus kann man schließen, dass die Nato eigentlich eine «kriminelle Organisation» darstellt, wenn man die Kriterien anwendet, die das Nürnberger Tribunal 1945 bis 1946 gegen drei Nazi-Organisationen angewandt hat.
Man müsste das Nürnberger Urteil noch einmal lesen! Israel hat mit der wahllosen Bombardierung von Zivilpersonen, Hospitälern, Schulen und Moscheen Kriegsverbrechen begangen und begeht sie tagtäglich. Es unterscheidet nicht zwischen bewaffneten Hamas-Kämpfern und der Zivilbevölkerung.
Hier schweigt der Westen sich aus. Aber gegen Putin wollen EU und Nato ein illegales Kriegsverbrechertribunal etablieren. Wie verlogen ist doch unsere Welt!19
Sie messen der Neutralität eine hohe Bedeutung bei. Was kann ein neutraler Staat auf der internationalen Bühne leisten, was ein nicht neutraler nicht kann?
Über mehr als hundert Jahre hat die Schweiz eine nützliche Vermittlerrolle gespielt. Man hatte Vertrauen in die Schweiz. Leider haben einige schweizerische Politiker wie Ignazio Cassis und Viola Amherd dieses Vertrauen verspielt.
Die Neutralität wird so lange erfolgreich sein, wie die übrigen Staaten die Schweiz als neutral wahrnehmen. Seit der einseitigen Stellungnahme für die Ukraine, dem Mittragen der Sanktionen gegen Russland, der Konferenz auf dem Bürgenstock, ohne Russland einzuladen, hat die Glaubwürdigkeit der Schweiz erheblich gelitten.
Das Verhalten der Schweiz bekommt die «Außenwelt» auch mit und wird ihre Schlüsse daraus ziehen. Die 31 Nato-Staaten werden die zunehmende Auflösung der Neutralität begrüßen. Die Uno zählt aber 193 Staaten.
Die Mehrheit der übrigen Länder beurteilt die ganze Situation anders. Die Neutralität ist die beste Politik für die Schweiz, aber da sind zersetzende Kräfte am Werk. Wenn die Schweiz nicht mehr neutral ist, wird sie bald nicht mehr demokratisch sein.
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
- https://www.alfreddezayas.com/Law_history/dfgschlussbericht ↩︎
- G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie, Werkausgabe Band 12, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1980, S. 17, ISBN: 3518282123 ↩︎
- erschienen bei N. P. Engel, Strassburg 2009 ↩︎
- https://www.ohchr.org/en/treaty-bodies/individual-communications ↩︎
- https://www.ohchr.org/en/special-procedures/ie-international-order/mr-alfred-maurice-de-zayas-former-independent-expert-2012-2018 ↩︎
- https://www.cambridge.org/core/journals/netherlands-international-law-review/article/abs/freedom-of-opinion-and-freedom-of-expression-some-reflections-on-general-comment-no-34-of-the-un-human-rights-committee/ADCD74F635F688851788E9079E1ABB76 ↩︎
- https://www.nzz.ch/international/afd-als-rechtsextrem-eingestuft-die-deutsche-innenministerin-beendet-ihre-amtszeit-mit-einem-paukenschlag-ld.1882639 ↩︎
- https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-05/us-aussenminister-wirft-deutschland-wegen-afd-tyrannei-vor ↩︎
- https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/upr/de-index ↩︎
- 6. Satire, Verse 347f. ↩︎
- https://legal.un.org/avl/ha/ga_2131-xx/ga_2131-xx.html ↩︎
- https://www.claritypress.com/book-author/alfred-de-zayas/ ↩︎
- https://www.counterpunch.org/2024/09/25/exceptionalism-and-international-law/ ↩︎
- https://www.counterpunch.org/2024/10/31/the-brics-summit-in-kazan-a-manifesto-for-a-rational-world-order/ ↩︎
- https://www.un.org/en/summit-of-the-future/pact-for-the-future ↩︎
- https://gipri.ch/ ↩︎
- https://www.counterpunch.org/2024/07/10/open-letter-to-the-president-of-switzerland-ms-viola-amherd/ ↩︎
- https://www.bbc.com/news/articles/cj3j5gxgz0do ↩︎
- https://www.politico.eu/article/eu-ukraine-launch-special-tribunal-prosecute-vladimir-putin-war-crime/) ↩︎