Haldenwangs Verfassungsschutz – „Gesichert verfassungsfeindlich“?

(Dieser Beitrag erschien zuerst im Deutschland-Journal der SWG 2023.)

Von Rechtsanwalt Rainer Thesen

Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt (un des droits les plus précieux de l`homme nach Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 [205]). Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom“ (Cardozo).

Dieses Zitat aus einer grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat der Autor bewusst dem folgenden Beitrag vorangestellt.

Der Angriff auf die Verfassung

Das Juristeninformationsportal LTO meldete dazu Ende April dieses Jahres, die Jugendorganisation der AfD werde vom Verfassungsschutz inzwischen als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ beobachtet. Wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mitgeteilt habe, würden neben der Jungen Alternative (JA) nunmehr auch zwei weitere Gruppierungen der sogenannten Neuen Rechten – das Institut für Staatspolitik (IfS) und der Verein „Ein Prozent“ – von der Behörde entsprechend eingestuft. Alle drei Vereinigungen waren bislang als rechtsextremistische Verdachtsfälle vom Inlandsnachrichtendienst bearbeitet worden. „Es bestehen keine Zweifel mehr, dass diese drei Personenzusammenschlüsse verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen“, wird BfV-Präsident Thomas Haldenwang zitiert. „Sie werden deshalb vom BfV als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen eingeordnet und bearbeitet.“

Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dort würden menschenwürdewidrige und demokratiefeindliche Ideologien und Konzepte verbreitet. Man ziele auf die Ausgrenzung vermeintlich „Fremder“ und versuche diese Positionen gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. Das gezielte Propagieren von Feindbildern und das Schüren von Ressentiments in der Bevölkerung seien zudem generell geeignet, den Boden für unfriedliche Verhaltensweisen gegenüber den Betroffenen zu bereiten. Deutlich werde dies insbesondere bei zahlreichen Äußerungen, die sich gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes) richteten. So verträten die Führungspersonen des IfS ein ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis und strebten ein ethnokulturell möglichst homogenes Staatsvolk an. Die propagierte Vorstellung, dass es ein deutsches Volk jenseits des im Grundgesetz als der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen definierten Staatsvolkes gebe, impliziere eine Herabsetzung von eingebürgerten Staatsangehörigen zu Deutschen zweiter Klasse. Diese Vorstellung werde durch das IfS nicht ausschließlich, aber insbesondere über das Ideologem des Ethnopluralismus transportiert. Darüber hinaus behaupteten die handelnden Akteure in einer die Menschenwürde verletzenden Weise eine drohende Auflösung des deutschen Volkes und einen angeblich stattfindenden „Bevölkerungsaustausch“, auch „Großer Austausch“, „Umvolkung“ oder „Ersetzungsmigration“ genannt.

Des Weiteren lastet der Verfassungsschutz der nun so eingestuften, besser gesagt, diskriminierten Jugendorganisation einer in nahezu allen deutschen Parlamenten vertretenen Partei an, sich „immer wieder demokratiefeindlich zu äußern“. Die Vielzahl von Verunglimpfungen politischer Gegner, aber auch des Staates und seiner Repräsentanten an sich zeige, dass es der Jungen Alternative nicht um den demokratischen Diskurs, „sondern um eine generelle Herabwürdigung des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland“ gehe. Das ist letztendlich die Ausfüllung der vom Verfassungsschutz am Gesetz vorbei entwickelten Formel von der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates, was er sich als weiteres Aufgabengebiet selbst gestellt hat. Wir wollen im folgenden zunächst einmal untersuchen, inwieweit diese Einstufung der genannten Organisationen nach geltendem Recht überhaupt zutreffend ist, und in einem weiteren Schritt herausarbeiten, um was es eigentlich geht.

Was schützt die Verfassung?

Unsere Verfassung wird gern im bewussten Gegensatz zu autoritären Staatsformen als freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet. Die Grundrechte des Bürgers stehen in dieser Verfassung, anders als in ihrem unmittelbaren Vorläufer, der Weimarer Verfassung, prominent am Beginn des Textes. Sie sind ganz offensichtlich Freiheits- rechte, wie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, der freien Meinungsäußerung, des Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht, Vereinigungen zu bilden oder sich friedlich und ohne Waffen unter freiem Himmel zu Kundgebungen zu versammeln, um nur einige zu nennen. Sie sind Ausprägungen der in Artikel 1 umfassend formulierten Menschenwürde, die zu achten und zu schützen Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist. Und daher nehmen sie allesamt jedenfalls in ihrem Kernbestand an der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teil, die es nicht einmal der verfassungsändernden parlamentarischen Mehrheit ermöglicht, diese Grundrechte abzuschaffen, ebenso wenig wie die Grundzüge der demokratischen Ordnung als da sind freie Wahlen, Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz.

Eines dieser Grundrechte ist die Freiheit der Meinungsäußerung, von Wissenschaft und Presse gemäß Art. 5 GG, der eine auffallende Ähnlichkeit mit seinem Vorläufer, Art. 118 der Weimarer Verfassung hat, wie diese Gegenüberstellung zeigt:

Art. 118 WRV (1) Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.

(2) Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

Art. 5 GG (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Doch schon in der Paulskirchenverfassung vom 27. März 1849 findet sich in § 143 nahezu wortgleich dieses Grundrecht. Von Beginn der Demokratiebewegung in Deutschland an wird die Meinungsfreiheit als wesentlich angesehen.

Die überragende Bedeutung der Grundrechte unserer Verfassung erschließt sich aber auch in der Betrachtung der überstaatlichen Verträge. Deutschland ist damit nicht nur nach eigenem nationalen Recht verpflichtet, dieses Grundrecht besonders zu schützen, sondern auch als Mitglied der Vereinten Nationen und des Europarates diesen internationalen Gemeinschaften gegenüber.

Art. 19 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

Europäische Menschenrechtskonvention vom 04.11.1950, Art. 10 Freiheit der Meinungsäußerung:

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.

Naturgemäß findet sich in der Charta der Europäischen Union eine gleichartige Regelung:

Artikel 11 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 07.12.2000

Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.

(2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.

Deutschland ist also auch im Rahmen seiner internationalen Verträge verpflichtet, das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Das bedeutet natürlich auch, es in seinem wesentlichen Bestand vor Aushöhlung, etwa durch eine restriktive Verwaltungspraxis bzw. Gesetzgebung zu schützen.

Stellung des Verfassungsschutzes in der Verfassung

Der Verfassungsschutz und seine Aufgaben sind im Grundgesetz nicht beschrieben. Er ist von Verfassungswegen nicht zwingend notwendig. Die dem Grundgesetz innewohnende Konzeption der wehrhaften Demokratie, wie sie sich aus der Möglichkeit des Verbots von Vereinigungen nach Art. 9 GG und des Verbots von politischen Parteien nach Art. 21 GG für den Fall ergibt, dass diese eben jene Grund- rechte, die nicht einmal der parlamentarische verfassungsändernde Gesetzgeber in ihrem wesentlichen Gehalt abschaffen darf, beseitigen wollen, setzt nicht zwingend die Existenz einer Behörde voraus, die solche Umtriebe nicht nur beobachtet und registriert, um sie dann der Bundesregierung zu melden. Noch weniger verlangt das Grundgesetz nach einer Behörde, die ihre Beobachtungen und Einschätzungen veröffentlichen darf, und so die betreffenden Beobachtungsobjekte an den Pranger stellt. In demokratischen Staaten ist eine solche Behörde auch im Allgemeinen nicht existent. Vor allem kennen andere demokratische Staaten nicht die Befugnis der Behörden, politische Parteien oder Vereinigungen gewissermaßen amtlich als Staatsfeinde zu bezeichnen. Die unselige McCarthy-Ära in den USA der 50er Jahre gilt weltweit als abschreckendes Beispiel derartiger staatlicher Übergriffigkeit. Deutschland und Österreich stellen hier Ausnahmen von der Regel dar. In Diktaturen ist das naturgemäß anders.

Erwähnung im Verfassungsschutzbericht

Die Erwähnung einer Person oder Personenmehrheit in einem Verfassungsschutzbericht hat eine Prangerwirkung, und diese Prangerwirkung ist auch beabsichtigt. Denn aus der Sicht des Verfassungsschutzes ist es notwendig, die Bevölkerung vor solchen Personen bzw. Organisationen zu warnen, die er als Verfassungsfeinde einstuft. Der gewünschte Effekt ist, dass der Betroffene ausgegrenzt wird. Der Verfassungsschutz verhält sich wie die Eltern in dem bekannten Lied des seinerzeitigen Rechtsanwalts, Schriftstellers und Liedermachers Franz Josef Degenhardt „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!“ aus dem Jahr 1965. Indessen hat es damit nicht sein Bewenden. Der Verfassungsrechtslehrer Dietrich Murswiek stellt dazu fest: „Staatsbürgerliche Bewusstseinsbildung ist aber nicht die einzige Funktion des Verfassungsschutzberichts. Er ist zugleich ein äußerst wirksames Kampfinstrument. Er dient der Bekämpfung der von der Verfassungsschutzbehörde als Verfassungsfeinde identifizierten Organisationen, über die er berichtet. Indem die im Verfassungsschutzbericht erwähnten Organisationen und Personen als „Extremisten“ ausgewiesen werden, werden sie von Amts wegen zu Verfassungsfeinden erklärt. Das ist mehr als die Information der Öffentlichkeit darüber, dass die betreffenden Organisationen nach den Feststellungen und Wertungen der Verfassungsschutzbehörde verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. Es ist eine Kampfansage des Staates: Der Staat betrachtet die von ihm als Extremisten eingestuften Organisationen als seine Feinde. Soweit sie gegen Gesetze verstoßen, werden sie mit den Mitteln des Strafrechts und des Polizeirechts bekämpft. Soweit sie sich legal verhalten, werden sie ebenfalls nicht in Ruhe gelassen, sondern politisch bekämpft. Die Feinderklärung im Verfassungsschutzbericht durch Einstufung als „extremistisch“ ist der erste und entscheidende Schritt dieses Kampfes.“

Verfassungsgerechte Arbeit des Verfassungsschutzes

Somit hat der Verfassungsschutz bei seiner Arbeit in erster Linie die Verfassung zu beachten, und hier zuvörderst die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger. Die Bewertung von Meinungsäußerungen und politischen Bestrebungen hat sich deswegen am Freiheitsgrundrecht des Art. 5 GG zu orientieren. Aus diesem Grund habe ich an den Anfang meiner Ausführungen die zitierte Passage aus dem grundlegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit, dem, hier ist der Ausdruck angebracht, berühmten Lüth-Urteil vom 15.01.1958 vorangestellt. Die Meinungsfreiheit ist eben für eine Demokratie schlechthin konstituierend, ohne Meinungsfreiheit kann es eine Demokratie nicht geben. Die überragende Bedeutung dieses Freiheitsgrundrechts in den Augen der damaligen Verfassungsrichter zeigt sich an ihrer Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1789 ebenso wie die Tatsache, dass die Verfassungsrichter hier zweimal aus einem fremdsprachigen Text im Original zitieren, einmal Französisch und einmal Englisch. Das hat das Bundesverfassungsgericht vorher und nachher nicht mehr getan. Weil das so ist, hat das Bundesverfassungsgericht dann auch immer wieder verlangt, dass Meinungsäußerungen grundsätzlich so auszulegen sind, dass ihnen der rechtlich unverfängliche Sinn beigemessen wird und nicht etwa ein rechtswidriger oder gar gegen die Rechtsordnung gerichteter Sinn hineininterpretiert wird. So findet sich in einem einschlägigen Verfassungsschutzbericht die Bewertung des Begriffs „Passdeutscher“ in einem inkriminierten Text als Beleg für eine völkisch/rassistische Haltung der Verfasserin. Indessen ist die naheliegende Interpretation des Begriffs doch die, dass sie Leute kritisiert, die nach Deutschland einwandern und sich nicht integrieren, auch nicht integrieren wollen, sondern nur die mit der deutschen Staatsbürgerschaft verbundenen wirtschaftlichen Vorteile, insbesondere die Segnungen des Sozialstaates, genießen. Die Unterstellung indessen, damit werde der betreffende Zuwanderer zu einem Deutschen zweiter Klasse herabgewürdigt, ist nur möglich, wenn man diesen Text böswillig interpretiert, um zum gewünschten Ergebnis der Verfassungsfeindlichkeit zu gelangen.

Auslegungsgrundsätze des Bundesverfassungsgerichts

Somit unterfällt alles, was über den Begriff des Volkes hier geschrieben wird, erst recht Art. 5 Abs. 1 GG. Bei der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit, wie aus dem Lüth-Urteil ersichtlich, und im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist, wobei stets von dem Wortlaut der Äußerung auszugehen ist, muss schon die Auslegung des Wortlauts verfassungskonform erfolgen. Der Wortlaut allein legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und ihren Begleitumständen bestimmt, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind. Bei der Überprüfung zivilrechtlicher oder strafrechtlicher Sanktionen geht das Bundesverfassungsgericht von dem Grundsatz aus, dass die Meinungsfreiheit verletzt wird, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher andere mögliche Deutungen, die nicht völlig fern liegen, mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vergl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25.03.2008, Az. 1 BvR 1753/03, Rdnrn. 32, 33 mwN, ferner Urteil vom 15.12.2004, NJW 2005, 1341 ff. [1343 l.Sp.], BVerfGE 94, 1 ff; BVerfGE 93, 266 ff; BVerfGE 86, 122 ff.; std. Rspr.). Allerdings fällt auf, dass diese Erkenntnis weder in der Verwaltungspraxis noch bei den Fachgerichten hinreichend internalisiert ist. Denn wie wäre es sonst erklärlich, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder daran erinnern muss, dass die Gewährleistung der Meinungsfreiheit nur dann gesichert ist, wenn bereits bei der Auslegung von Äußerungen ihre überragende Bedeutung für Demokratie und Rechtsstaat berücksichtigt wird. Die Auslegungsgrundsätze des Verfassungsschutzes hingegen nehmen sich bisweilen aus wie Verschwörungstheorien. Das Wesensmerkmal von Verschwörungstheorien indessen ist, dass nicht die offenkundigen Tatsachen, sondern für gewöhnliche Menschen nicht erkennbare geheime Vorgänge dahinter in Wahrheit die Welt bewegen. Eine solche Argumentation entfernt sich weit von den klassischen Regeln des Textverständnisses. Es können wohl nur die Adepten des Meisters der Arkanwissenschaften Armin Pfahl-Traughber, der als Hochschullehrer den Nachwuchs der Verfassungsschützer ausbildet, in einem obskuren Labor um Mitternacht bei Mondschein jene Tinktur herstellen, die man über den inkriminierten Text streicht, um dann die darunter versteckte okkulte Botschaft ans Licht zu bringen. Derartige Wortverdrehung ist aber auch von Rechts wegen unzulässig, weil auch hier der allgemeine Rechtssatz Geltung beansprucht, der schon im römischen Recht gegolten hat: cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio (wenn in den Worten keine Zweideutigkeit ist, kann die Frage nach dem Gemeinten nicht zugelassen werden). Indessen ist unter Bezugnahme auf die zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darauf hinzuweisen, dass zugunsten der betroffenen Vereinigungen im Falle ihrer Auslegungsbedürftigkeit eine Auslegung ihrer Texte vorzunehmen ist, die jeweils die rechtlich unbedenkliche Bedeutung ergibt. Der Verfassungsschutz indessen wählt durchgehend die böswillige Interpretation der zitierten Texte zum Nachteil des jeweiligen Autors bzw. Redners.

Diese Grundsätze sind zu beachten, wenn man nun die zitierten Begründungen des Verfassungsschutzes für die Anprangerung der genannten Gruppierungen als verfassungsfeindliche Organisationen untersucht.

In den Parteiprogrammen bzw. Grundsatzpapieren der betroffenen Vereinigungen finden sich keine klar verfassungsfeindlichen Aussagen. Somit kam man gewissermaßen notgedrungen auf die vermeintlich glänzende Idee, ihnen eine Nähe zum Nationalsozialismus zu unterstellen, indem man dort „völkisches“ Gedankengut verortet. „Volk, Volkstum, völkisch, Rasse“ – man glaubt die gutturale Sprache Hitlers zu hören, wenn diese Begriffsreihe auftaucht, und deswegen ist dann auch jeder der Begriffe gleichermaßen kontaminiert. Denn niemand hat die „völkische“ Identität so extrem propagiert, wie die Nationalsozialisten. Ergo muss in diese politische Ecke gehören, wer vom deutschen Volk jenseits der Staatsbürgerschaft spricht und dazu noch eben dieses Volk in seinem Bestand bewahren will. Die Diskreditierung des Volksbegriffs ist allerdings in rechtlicher Hinsicht grandios gescheitert, wie nachstehend ausgeführt wird.

Liest man Verfassungsschutzberichte, in denen Vereinigungen rechtsextreme Bestrebungen im Sinne eines menschenrechtswidrigen völkischen Rassismus unterstellt werden, so findet man als Begründung regelmäßig zwar Texte der betreffenden Organisationen, in denen vom deutschen Volk ohne Beschränkung auf die Staatsbürgerschaft die Rede ist, und in denen die Verteidigung seiner spezifischen kulturellen Identität propagiert wird. Der Verfassungsschutz legt diese Texte dann aber stets in dem Sinne aus, der zur verfassungsfeindlichen Negierung der Menschenrechte führt, und nicht in dem Sinne, dass man durchaus verfassungskonform die Identität des eigenen Volkes fördern will.

Volk und Staatsvolk

Der Verfassungsschutz unterstellt den genannten Organisationen eine sogenannte völkische Einstellung dahingehend, dass sie deutschen Staatsbürgern, die keine ethnischen Deutschen, also über Generationen in Deutschland ansässigen Menschen sind, absprechen wollen, „richtige“ Deutsche zu sein. Dazu muss zunächst einmal offenbar unterstellt werden, dass es außer dem deutschen Staatsvolk kein deutsches Volk im ethnischen Sinne gibt. Die Vorstellung, dass es nur ein Staatsvolk und nicht etwa ein davon verschiedenes oder losgelöstes Volk an sich gebe, ist natürlich abwegig und findet sich ersichtlich nur in Deutschland. Etwa einem Kurden zu erklären, ein kurdisches Volk gebe es nicht, weil es keinen kurdischen Staat und damit kein kurdisches Staatsvolk gebe, würde bei ihm wohl mindestens die nonverbale Reaktion hervorrufen, den ausgestreckten Zeigefinger an seine Schläfe zu führen. Ebenso wenig würde es kein Jude akzeptieren können, die Existenz des jüdischen Volkes außerhalb der israelischen Staatsangehörigkeit zu verneinen. Bei konsequenter Fortführung des wirren Gedankenkonstrukts des Verfassungsschutzes hätte demgemäß auch ein polnisches Volk zwischen 1795 und 1918 nicht existiert, weil es in jener Zeit einen polnischen Staat nicht gab. Wie absurd das auch nach deutschem Recht und deutscher Staatspraxis ist, will ich nachfolgend an einigen Beispielen darstellen.

Volk in der Verfassung

Nun gibt schon unsere Verfassung in Art. 116 GG einen Hinweis darauf, dass es nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern wohl auch sonstige Deutsche geben muss, denn es heißt dort: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“ Also gibt es nach dem Grundgesetz eine deutsche Volkszugehörigkeit außerhalb der deutschen Staatsangehörigkeit. Das mag hinsichtlich der genannten Flüchtlinge und Vertriebenen heute nur noch von marginaler Bedeutung sein, zeigt aber, dass die Konzeption des Grundgesetzes bereits von einem Dualismus Volk/Staatsvolk ausgeht, mithin die Existenz eines deutschen Volkes über die Gesamtheit der Staatsange- hörigen hinaus voraussetzt.

Doch auch die Verfassungen der Bundesländer sind insoweit auf- schlussreich, als sie die Rechte nationaler Minderheiten schützen. Dies wiederum setzt denknotwendig voraus, dass es jenseits der Staatsangehörigkeit ethnische Zugehörigkeit gibt. Etwa Art. 37 Abs. 1 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt:

(1) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten stehen unter dem Schutz des Landes und der Kommunen.

Oder Art. 6 der Verfassung des Landes Schleswig Holstein:

Nationale Minderheiten und Volksgruppen

(1) Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.

(2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.

Ebenso Art. 5 der Verfassung des Freistaates Sachsen:

(1) Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an. Das Land erkennt das Recht auf Heimat an.

(2) Das Land gewährleistet und schützt das Recht nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung.

(3) Das Land achtet die Interessen ausländischer Minderheiten, deren Angehörige sich rechtmäßig im Land aufhalten.

Art. 6 [Das sorbische Volk]

(1) Die im Land lebenden Bürger sorbischer Volkszugehörigkeit sind gleichberechtigter Teil des Staatsvolkes. Das Land gewähr- leistet und schützt das Recht auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege und Entwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung, insbesondere durch Schulen, vorschulische und kulturelle Einrichtungen.

(2) In der Landes- und Kommunalplanung sind die Lebensbedürfnisse des sorbischen Volkes zu berücksichtigen. Der deutsch- sorbische Charakter des Siedlungsgebietes der sorbischen Volksgruppe ist zu erhalten.

(3) Die landesübergreifende Zusammenarbeit der Sorben, insbesondere in der Ober- und Niederlausitz, liegt im Interesse des Landes.

Die ethnisch-kulturelle Identität gegen ihre Auflösung durch Einwanderung aus anderen Kulturen zu schützen, wird – wenn es um andere Völker geht – auch von Bundesregierung und Bundestag anerkannt. So hat der Bundestag die Massenansiedlung von Chinesen in Tibet als Zerstörung der tibetischen Identität und Kultur kritisiert (BT-Drucks. 13/4445; BT-Prot. 13/10086, 10107). Die Verfassungen der Bundesländer schützen, wie oben ausgeführt, die kulturelle Eigenständigkeit und politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten. Dem trägt der Staat ja auch durch Fördermaßnahmen Rechnung, allerdings auch im Hinblick auf deutsche Minderheiten in anderen Ländern.

Das ist auch internationales Recht. Art. 1 Abs. 1 der UN-Deklaration über Minderheitenrechte vom 18.12.1992, A/RES/47/135 legt fest: „Die Staaten schützen die Existenz und die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität der Minderheiten in ihrem Hoheitsgebiet und begünstigen die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität.“ Wenn es aber sowohl völkerrechtlich als auch verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, dass ethnische Minderheiten einen Anspruch auf Wahrung und Förderung ihrer Identität haben, und dies auch in Deutschland traditionelle staatliche Praxis ist, wie Schutz und Förderung der Rechte alteingesessener ethnischer Minderheiten wie der Dänen, Sorben, Friesen, Sinti und Roma zeigen, dann ist die Förderung von Kultur und Traditionen der ethnischen Mehrheit zweifellos ebenso legitim. Soweit also diese Förderung von Kultur und Traditionen der ethnisch Deutschen ein- gefordert wird, kann dies nicht als Propagierung eines „völkischen“ Verständnisses der Nation gewertet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil die relative Homogenität eines Volkes jedenfalls in kultureller Hinsicht als Voraussetzung für demokratische Legitimation bezeichnet.

Der hochangesehene ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Thema so umschrieben: „Der spezifische Charakter der demokratischen Gleichheit… zielt – über die formelle rechtliche Zugehörigkeit, die die Staatsangehörigkeit vermittelt, hinausweisend – auf ein bestimmtes inhaltliches Substrat, zuweilen substantielle Gleichheit genannt, auf dem die Staatsangehörigkeit aufruht. Hier meint Gleichheit eine vorrechtliche Gemeinsamkeit. Diese begründet die relative Homogenität, auf deren Grundlage zuallererst eine auf der strikten Gleichheit der politischen Mitwirkungs- rechte aufbauende demokratische Staatsorganisation möglich wird; die Bürger wissen sich in den Grundsatzfragen politischer Ordnung ,gleich‘ und einig, erfahren und erleben Mitbürger nicht als existenziell anders oder fremd und sind – auf dieser Grundlage – zu Kompromissen und loyaler Hinnahme der Mehrheitsentscheidungen bereit“ (Ernst- Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR II, 3. Aufl.2004, RNr. 47).

Demgemäß weist der Verfassungsrechtler Rupert Scholz auch auf die Notwendigkeit einer gewissen Identitätswahrung hin: „Sollte die Einwanderung solche Ausmaße annehmen, dass dessen (des Staatsvolkes) Identität sich verändert, dann ist das mit dem Grundgesetz wohl nicht mehr zu vereinbaren“ (Rupert Scholz, „Das schwächt die Verfassung“, Interview mit Moritz Schwarz, Junge Freiheit 21.06.2019, S.3). Martin Wagener („Kulturkampf um das Volk“) zitiert den Verfassungsrechtslehrer und ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof, der seines Erachtens klarstellt, dass es im Rahmen der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes natürlich zur Entfaltung unterschiedlicher Kulturen kommen könne. Kirchhof sieht allerdings auch eine Grenze, die zu beachten die Aufgabe des Staates sei: „Würde das Stichwort der Multikulturalität hingegen als ein Wettbewerb gegenläufiger Kulturen gedeutet, dessen Ergebnis sich der nur beobachtende Staat zu eigen machte, so wäre die Freiheitlichkeit gelegen und missverstanden…. Zu der rechtlich vorgefundenen Wirklichkeit, die der Staat zu achten und auszugestalten hat, gehört das Staatsvolk, die Nation, die den konkreten Verfassungsstaat rechtfertigt, seine Aufgaben und Maßstäbe bestimmt“ (Paul Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, DVBl 99, 642). Wagener leitet daraus ab, dass es im vorrechtlichen Raum nicht nur eine kulturelle Identität gibt, sondern auch einen Ursouverän, der diese kreiert hat. Das deutsche Volk hat sich somit als Kulturnation nach den Einigungskriegen einen eigenen Staat gegeben (Martin Wagener, Kulturkampf um das Volk, Lau Verlag, 2021, S. 114 ff.). Zu Recht zitiert er insoweit aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.07.1973 zum Grundlagenvertrag: „Mit der Errichtung der BRD wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die BRD ist also nicht ,Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ,Deutsches Reich‘, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ,teilidentisch‘. Das historische deutsche Volk – der Ursouverän – von 1871 ist folglich mit jenem von 1949 kulturell und damit identitär verbunden (BVerfGE, 36, 1 ff.).“ Wagener weiter: „Zur Politik des Ursouveräns gehörte – abgesehen von den Jahren 1933-1945 – nie die Absicht, das friedliche Zusammenleben mit Menschen anderer Kulturen auszuschließen; deutsche Staatsbürger konnten und können natürlich auch Menschen ohne deutsche Volkszugehörigkeit werden. Nicht vorgesehen waren dagegen eine sich ausbreitende Islamisierung in einem christlich-abendländisch geprägten Land und die Entstehung ganzer Parallelgesellschaften.“

Eine gültige Definition hat seinerzeit Richard von Weizsäcker in einer Rede vom 24. Februar 1972 im Deutschen Bundestag gegeben:

„Ich meine, Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewusstsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewusstsein hat diesen unseren Nationbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher – und nur von daher – wissen wir, dass wir uns als Deutsche fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt“ (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, Bonn 24.02.1972, S. 9838).

Art. 21-24 des französischen Code Civil schreibt vor: „Niemand kann eingebürgert werden, wenn er nicht seine Assimilation in die französische Gemeinschaft nachweist, insbesondere durch eine, je nach seinen Voraussetzungen, zureichende Kenntnis der französischen Sprache, Geschichte, Kultur und Gesellschaft, deren Niveau und Bewertungsmethoden per Dekret im Staatsrat festgelegt werden, sowie der Rechte und Pflichten, welche mit der französischen Staatsangehörigkeit verbunden sind, sowie durch die Einhaltung der Grundsätze und der wesentlichen Werte der Republik.“

Dieses Gesetz des Landes, dem die Welt die Erklärung der Menschenrechte von 1789 zu verdanken hat, tritt also in konsequenter Fortführung der Gedankenkonstrukte des Verfassungsschutzes die Menschenrechte mit Füßen.

Die zitierten Äußerungen des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst Wolfgang Böckenförde, des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof und der übrigen zitierten Juristen sind zweifelsfrei verfassungskonform. Ihnen „völkischen“ Rassismus zu unterstellen, wäre absurd.

Die Diskussion um die Begriffe Staatsvolk (Demos) und Volk (Ethnos) ist an und für sich überflüssig. Staatsvolk ist ein allein verfassungs- und einfachgesetzlicher Begriff. Das Bundesverfassungsgericht befasst sich im NPD-Urteil vom 17.01.2017 deswegen auch ausschließlich mit dem Begriff des Staatsvolkes. Das Grundgesetz regelt als Gesetz im materiellen Sinn auch nur rechtliche Sachverhalte. Der Begriff des Volkes indessen ist ein rein soziologischer Begriff und entzieht sich daher der rechtlichen Beurteilung. Es ist daher ein Kategoriefehler, bei der Prüfung, ob die JA, das IfS oder wer auch immer verfassungsfeindlich agiert oder nicht, über den Begriff des Volkes überhaupt zu sprechen.

Der Begriff des Volkes im Sinne von Ethnos und nicht im Sinne von Demos, also auch im Zusammenhang mit Abstammung und angestammten Siedlungsgebiet findet sich jedoch auch durchgängig in Publikationen der Bundesregierung. So zum Beispiel in der Broschüre des Bundesinnenministeriums: „Deutsche Minderheiten stellen sich vor.“ Sie stammt aus dem Jahr 2018, ist allerdings derzeit nur noch als Datei auf der Internetseite des Ministeriums verfügbar. Das Bundesinnenministerium legt in dieser Broschüre durchgängig einen ethnisch-kulturellen Begriff des Volkes, und gerade des deutschen Volkes zu Grunde. Sämtlichen dort vorgestellten deutschen Minderheiten in Staaten wie Belgien oder Usbekistan wird als Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden Mehrheitsbevölkerung ihre Abstammung, ihre spezifisch deutsche kulturelle Prägung und ihr angestammtes Siedlungsgebiet zugeschrieben. Die Bundesregierung misst dem Schutz und der Förderung dieser deutschen Minderheiten auch einen entsprechenden Stellenwert bei. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) förderte deutsche Minderheiten in Europa in den Jahren 2017-2020 mit 91,45 Millionen €; im Jahr 2021 war eine Förderung in Höhe von 25,21 Millionen € vorgesehen. Ziele der Förderung sind die Stärkung der deutschen Gemeinschaften, die Verbesserung der Lebensperspektiven sowie der Erhalt der ethnokul- turellen Identität durch insbesondere Sprach- und Jugendförderung (Bundestagsdrucksache 19/32556, S. 22 Nr. 28). Damit kommt sie dem Auftrag nach, den die Vereinten Nationen in ihrer Entschließung vom 18.12.1992 formuliert haben. Art. 1 Abs. 1 der UN-Deklaration über Minderheitenrechte vom 18.12.1992, A/RES/47/135 legt fest: „Die Staaten schützen die Existenz und die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität der Minderheiten in ihrem Hoheitsgebiet und begünstigen die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität.“

Aus dem gleichen Grunde unterstützt sie indigene Völker auf der ganzen Welt beim Kampf um ihre Rechte. In diesem Zusammenhang ist beispielhaft auf die vom Auswärtigen Amt herausgegebene Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, Heft 4/2021 zu verweisen. Dort findet sich die Definition indigener Völker im Beitrag von Theodor Rathgeber. Es lohnt sich daraus zu zitieren: „Der Begriffsteil >indigen< beansprucht erstens, dass Menschen und Gemeinschaften die aus ihrer Herkunft stammenden (Kultur)güter nach eigenem Ermessen für ihre Lebensentwürfe verfügbar machen und selbstbestimmt weiterentwickeln wollen. Bei Sprache, Religion oder Musik gilt das für ethnische und religiöse Minderheiten auch…. Zum anderen drückt >indigen< den Anspruch aus, über ein historisch verbürgtes Siedlungsgebiet und dort befindliche Ressourcen ein Eigentumsrecht ausüben zu können… Der Begriff fußt zweitens außerdem, neben anthropologischen und historischen Kriterien, auf dem Merkmal der – plausiblen – Selbstidentifikation…. Das Element der Selbstidentifikation enthält ebenso den Aspekt der offenen Entwicklung. Angehörige indigener Völker reklamieren für sich keine museale, anthropologisch-historisch fixierte Existenz, sondern beanspruchen eine Weiterentwicklung nach eigenem Ermessen…. Drittens enthält der Begriff >indigene Völker< den Anspruch auf die Selbstbestimmung der Völker entsprechend dem Völkerrecht.“

Volk und Identität in den Augen anderer Völker

Das nachgerade neurotische Verhältnis der deutschen politischen Klasse zum Begriff des Volkes wird besonders deutlich, wenn man den Umgang anderer Nationen damit betrachtet. Ich habe schon weiter oben darauf hingewiesen, dass anderswo die Vorstellung, Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit bedingten einander, seien identisch und darüber hinaus gebe es eben kein Volk, schlicht unbekannt ist. Wie unbefangen man andernorts damit umgeht, zeigt ein Vorfall auf der Buchmesse in Turin im Mai dieses Jahres. Der in Deutschland von der politischen Klasse als Gottseibeiuns aus den Tiefen der rechten Hölle apostrophierte französische Philosoph Alain de Benoist wurde dort anlässlich der Vorstellung seines neuesten Buches zu dem hier besprochenen Thema von einem linken Mob angefeindet. Den linksradikalen Schreiern ging es gegen den Strich, dass de Benoist ausführte: „Wir müssen die Identitäten verteidigen. Die französische, die italienische, die spanische.“ Alle diese Identitäten unterschieden sich in Bezug auf Sprache, Kultur, Geschlecht und Religion voneinander und harmonierten oftmals nicht miteinander. Nicht nur, dass dieser in der Tat dezidiert rechte Philosoph auf einer großen Buchmesse in Italien sein neuestes Werk vorstellen durfte, sondern vielmehr die Tatsache, dass der italienische Kulturminister sich dann umgehend hinter ihn stellte, zeigt deutlich, wie man auch in Italien zum Thema Nation und Staat denkt. Die bisweilen dezidiert nationale Rhetorik in anderen demokratischen Ländern dieser Erde sollte doch uns Deutschen zeigen, auf welchem Sonderweg, besser gesagt Holzweg, wir uns mit dieser unseligen Debatte über Volk und Staatsvolk befinden.

Angebliche Demokratiefeindlichkeit

Der Verfassungsschutz unterstellt der Jungen Alternative (JA) Demokratiefeindlichkeit. Denn die Parteijugend der AfD äußere sich immer wieder demokratiefeindlich. Die Vielzahl von Verunglimpfungen politischer Gegner, aber auch des Staates und seiner Repräsentanten an sich zeige, dass es der jungen Alternative nicht um demokratischen Diskurs, sondern um eine generelle Herabwürdigung des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland gehe. Natürlich bleibt man da im Ungefähren, eine Subsumtion im juristischen Sinne, also die Prüfung von Zitaten auf ihren verfassungsfeindlichen Inhalt, unterbleibt. Nun gibt es im Strafgesetzbuch bei uns keinen Straftatbestand, wie er sich im Strafgesetzbuch der DDR von 1984 fand. Diese Strafvorschrift hieß „öffentliche Herabwürdigung“ und war definiert wie folgt: „Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird…. bestraft“. Es geht eben hier um den im Verfassungsschutzgesetz überhaupt nicht beschriebenen Tatbestand der sogenannten verfassungsrelevanten Delegitimierung des Staates. Diese Aufgabe hat sich Herr Haldenwang zur Freude oder gar auf Befehl der Antifa-Freundin auf dem Stuhl des Bundesinnenministers selbst gegeben. Danach gerät in das Visier des Verfassungsschutzes, wer politische Amtsträger und ihre Arbeit kriti- siert, weil darin angeblich die Delegitimierung, also der Wunsch nach Abschaffung des betreffenden Amtes in seiner verfassungsmäßigen Funktion und nicht eben die legitime Kritik an der Amtsführung liege.

Von der intellektuellen Qualität einer solchen Argumentation her ist das so, als sei derjenige, welcher die Entfernung eines pädophilen Priesters aus der katholischen Kirche verlangt, ein Gegner der katholischen Kirche schlechthin. In Wahrheit will er aber seine Kirche davor schützen, wegen solcher krimineller Amtsträger in Verruf zu geraten. Wer die miserable Amtsführung und die staunenswerte Inkompetenz vieler Bundesminister kritisiert, ruft in den Augen der Verfassungsschützer nicht nach Besserung der politischen Verhältnisse, sondern will das demokratische System zugunsten einer mindestens autoritären, wenn nicht gar diktatorischen Staatsform abschaffen. Diese Gedankenführung Haldenwangs ist so bizarr, grotesk, ja geradezu krank, dass sie nur damit erklärbar ist, dass es hier nicht um den Schutz des demokratischen Rechtsstaates vor einem Umsturz geht, sondern um die Ersetzung des politischen Diskurses durch Repression, mit anderen Worten, die Fortsetzung der Politik mit juristischen Mitteln. Die sog. Neue Rechte um Götz Kubitschek versuche „den Bereich des Sagbaren“ nach rechts zu verschieben. Das gelte es zu unterbinden. Tatsächlich haben wir es hier mit dem Versuch der derzeitigen politischen Mehrheit zu tun, den Bereich des Sagbaren rechts zu beschneiden und somit insgesamt nach links zu verschieben.

Wer indes geglaubt hatte, damit hätte Haldenwang das Maß des gesetzwidrigen Agierens gegen die demokratische politische Rechte vollgemacht, lag falsch. Am 20.6.2023 erklärte er im Heute Journal: „Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken. Aber wir können die Bevölkerung wachrütteln, wir können Politiker wachrütteln.“ Die Sendung hatte eine Reichweite von 2,65 Millionen Zuschauern, was einem Marktanteil von 11,9 % entsprach. Insoweit hatte er Pech, denn am gleichen Abend wurde das Fußball-Länderspiel Deutschland gegen Kolumbien von RTL übertragen, ansonsten hätte er mit 3 bis 4 Millionen Zuschauern rechnen können. Allerdings wurde diese Entgleisung tags darauf in allen gedruckten und gesendeten Medien berichtet, selbstverständlich auch gelobt. Damit hat er endgültig den Aufgabenbereich einer Behörde verlassen und sich als politischer Akteur gezeigt. Nun gibt es immer noch das Neutralitätsgebot für Behörden und Beamte. Politik machen Politiker, Beamte und Behörden setzen Gesetze um. Politische Parteien werden von der politischen Konkurrenz bekämpft, nicht aber von der staatlichen Exekutive. Das ist nur in Diktaturen anders. Würde der Rechtsstaat bei uns noch funktionieren, müsste die Bundesinnenministerin als Vorgesetzte des Verfassungsschutzpräsidenten gegen ihn ein Disziplinarverfahren einleiten. Das wird natürlich nicht geschehen. Vielmehr sollte die deutsche Öffentlichkeit nicht überrascht sein, wenn unsere Antifa-affine Innenministerin Herrn Haldenwang dafür öffentlich lobt und der Bundespräsident ihm eine hohe Stufe des Bundesverdienstkreuzes verleiht.

Verfassungsschutz und Medien

Leider findet sich in den Mainstream-Medien nicht der Hauch einer Kritik am Vorgehen des Verfassungsschutzes, das Geist und Buchstaben der Verfassung krass zuwiderläuft. Man hat hier buchstäblich den Bock zum Gärtner gemacht. Im Gegenteil. Frau Faeser und ihr „Horch und Guck“ 2.0 werden über den Schellenkönig gelobt. Indessen ist gerade dieses Vorgehen gegen Bürger und Parteien, deren politische Einstellung den meisten Politikern und Journalisten nicht passt, dazu geeignet, das Vertrauen der Bürger in die politische Klasse zu beschädigen. Das führt zur Spaltung der Bevölkerung und auf längere Sicht zur tatsächlichen Delegitimierung des Staates. Wer sich so verhält, verdient auch nicht das Vertrauen der Bürger, sondern ihre Verachtung.

Fazit

Gerade in den Ländern mit großer demokratischer Tradition toleriert man selbst vom politischen Mainstream weit abweichende Meinungen. Man setzt sich eben sachlich auch mit Argumenten aus- einander, die man für völlig verfehlt hält. Niemals indessen käme man auf den Gedanken, die politische Debatte durch die Zensur zu ersetzen oder gar die Vertreter unbequemer, möglicherweise sogar schädlicher Auffassungen gesellschaftlich zu ächten oder gar zu kriminalisieren. Man braucht deswegen auch keinen Verfassungsschutz, der in den Händen der jeweils politisch Verantwortlichen als Mittel zur Fortsetzung der Politik mit juristischen Mitteln dient. Offenbar ist dort auch das demokratische Selbstbewusstsein wesentlich stärker entwickelt als bei uns. Auch solche Meinungen, die man für unvertretbar hält, gilt es eben auszuhalten. Eine gefestigte Demokratie hält das auch aus. Wenn man unseren tonangebenden Politikern und Journalisten glauben darf, dann ist die Demokratie in Deutschland nicht gefestigt. Welch ein Armutszeugnis! Tatsächlich geht es allein darum, alles was politisch rechts von einer diffusen „Mitte“ zu verorten ist, sei es bürgerlich, konservativ oder patriotisch, als rechtsextrem zu diskreditieren, um sich damit der Mühe zu entheben, sachlich mit dem politischen Gegner zu diskutieren und damit auch die Gefahr zu meiden, dabei den Kürzeren zu ziehen. Man lässt diesen Gegner einfach nicht mitspielen. Erbärmlich.

 

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