Die Lage in der Ukraine zur Jahreswende 2023/24

Das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive ist ein strategischer Sieg Rußlands

von Dr. Walter Post

Kurz vor Weihnachten 2023 hielten der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu, der Generalstabschef der Russischen Armee Armeegeneral Waleri Gerasssimow und Präsident Wladimir Putin drei Reden, in denen sie die Ereignisse des Jahres 2023 aus ihrer Sicht darlegten.

Führende Politiker und Militärs verfolgen mit ihren öffentlichen Reden in Kriegszeiten natürlich auch propagandistische Absichten, sie sind aber gleichzeitig Rechenschaftsberichte für die eigene Öffentlichkeit. Die Angaben des Russischen Verteidigungsministeriums haben sich außerdem bisher als ziemlich zuverlässig erwiesen.

Verteidigungsminister Sergei Schoigu äußerte sich am 19. Dezember 2023 während einer erweiterten Sitzung des Ausschusses des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation zum Verlauf der ukrainischen Sommeroffensive wie folgt:

„Am 4. Juni 2023 eröffneten die Streitkräfte der Ukraine eine groß angelegte Gegenoffensive, die von ausländischen hohen Militärs vorbereitet wurde. Der Feind wurde gestoppt und erlitt enorme Verluste, da er die taktische Verteidigungszone der russischen Truppen nicht durchbrechen konnte. Die Verluste des Feindes [im Verlauf dieser Offensive] umfassten 159.000 Soldaten (getötet und schwer verwundet), 121 Flugzeuge, 23 Hubschrauber, 766 Panzer, darunter 37 ‚Leoparden‘, 2.348 gepanzerte Kampffahrzeuge verschiedener Kategorien, darunter 50 ‚Bradleys‘.“[1]

Schoigu nannte auch Zahlen für die ukrainischen Gesamtverluste seit dem 24. Februar 2022:

„Seit Beginn der Besonderen Militärischen Operation beliefen sich die Verluste der Ukrainischen Streitkräfte auf über 383.000 getötete und schwerverwundete Soldaten, 14.000 Kampfpanzer, Schützenpanzer und gepanzerte Fahrzeuge, 553 Flugzeuge und 259 Hubschrauber, 8.500 Feldartilleriegeschütze und Mehrfachraketenwerfer. In der Ukraine gab es neun Mobilisierungs-wellen und die zehnte ist im Gange. Derzeit werden auch diejenigen eingezogen, die nur begrenzt wehrtauglich sind.“

Zu den in der Ukraine aktiven ausländischen Söldnern machte Schoigu folgende Angaben:

„Die seit Beginn der Besonderen Militärischen Operation aktiv beteiligten Söldner wurden größtenteils eliminiert. Mehr als 5.800 Söldner wurden neutralisiert, darunter 1.427 aus Polen, 466 aus den Vereinigten Staaten und 344 aus dem Vereinigten Königreich.“[2]

Auf die russischen Verlusten ging Schoigu nicht ein. Zu der seit Jahresbeginn 2023 verdeckt durchgeführten Mobilmachung der russischen Streitkräfte nannte er folgende Zahlen:

„Täglich bewerben sich mehr als 1.500 Menschen zum Militärdienst. Allein in diesem Jahr wurden rund 490.000 Vertragssoldaten und Freiwillige rekrutiert. … Die Armee erhielt 1.530 neue und modernisierte Panzer, 2.518 Schützenpanzer und gepanzerte Fahrzeuge. Die russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte erhielten 237 Flugzeuge und Hubschrauber, 86 Flugabwehrraketensysteme und 67 Radarstationen. … Die personelle Stärke der Streitkräfte wurde auf 1.150.000 Mann erhöht. Es wurden zwei Armeen, ein gemischtes Fliegerkorps, 50 Formationen und Militäreinheiten, darunter vier Divisionen, 18 Brigaden und 28 Regimenter, personell vollständig aufgefüllt und ausgerüstet. Wegen der Zunahme der externen Bedrohungen soll die Stärke der Streitkräfte auf 1.500.000 Mann erhöht werden.“[3]

Die russische Rüstungsindustrie hat laut Schoigu ihre Produktion vervielfacht:

„Um den Bedarf der Streitkräfte zu decken, haben Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes ihre Kapazitäten vervierfacht und sind in den 24-Sunden-Betrieb übergegangen. Seit Februar 2022 ist die Produktion von Panzern um das 5,6-fache, von Schützenpanzern um das 3,6-fache, von gepanzerten Fahrzeugen um das 3,5-fache, von unbemannten Luftfahrzeugen [Drohnen] um das 16,8-fache und von Artilleriemunition um das 17,5-fache gestiegen.“[4] In absoluten Zahlen produziert die russische Rüstungsindustrie derzeit vier bis fünf Millionen Artilleriegranaten pro Jahr.[5]

Die Ukrainische Armee hat im Verlauf ihrer Gegenoffensive an keinem einzigen Frontabschnitt einen Durchbruch erzielt, die westlichen Waffensysteme, insbesondere die Kampfpanzer, sind größtenteils zerstört. Mittlerweile wird auf ukrainischer Seite nicht nur die Artilleriemunition knapp. Der deutsche BILD-Reporter Julian Röpke berichtet aus der Ukraine, daß bei den meisten westlichen 155 mm-Selbstfahrlafetten bzw. Panzerhaubitzen – „Krab“, AS 90, Pzh 2000 und M109 – durch den harten Dauergebrauch die Rohre ausgeschossen sowie andere Funktionen ausgefallen sind. Ersatzrohre und sonstige Ersatzteile könne der Westen aber nur sehr begrenzt liefern. Röpke wörtlich: „Auch meine Kontakte innerhalb der ukrainischen Armee sagen mir: es fehlt nicht nur an 152- und 155-mm-Artillerie-Granaten – es funktioniert einfach nichts mehr. Die westlichen Panzerhaubitzen sind nicht für einen echten, langen Krieg gemacht, sondern nur für kurze Einsätze.“ Die Ukraine, so Röpke, benötige mindestens 200.000 Schuß pro Monat, um lokal die Feuerüberlegenheit zu erringen, die Produktion betrug im gesamten Westen im gesamten Jahr 2023 aber nur 480.000 bis 700.000 Artilleriegranaten. Die Bemühungen, die europäische Produktion zu erhöhen, scheitere daran, daß jeder europäische Staat eigene – und relativ kleine – Aufträge an die Industrie vergebe. Diese Bestellungen seien aber nicht ausreichend, um die Rüstungsindustrie zu einer Erweiterung ihrer Produktionskapazitäten zu veranlassen, da die langfristige Auftragslage völlig unklar sei.[6]

Nachdem die ukrainische Offensivtätigkeit praktisch zum Erliegen gekommen ist, hat die Russische Armee an allen Fronten den Druck massiv erhöht. Awdejewka, ein strategisch wichtiger Vorort von Donezk, ist von russischen Truppen nahezu eingeschlossen, der Fall der Stadt ist nur noch eine Frage der Zeit. Mit dem Fall von Awdejewka würde in die ukrainische Front im Donbaß eine riesige Lücke gerissen, die strategischen Auswirkungen wären angesichts der Erschöpfung der ukrainischen Armee unabsehbar. [7]

In seiner Rede vom 19. Dezember machte Verteidigungsminister Schoigu auch detaillierte Angaben zu den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine.

„Bisher hat die Ukraine [Waffen und militärische Ausrüstung im Wert von] 203 Milliarden US-Dollar aus externen Quellen erhalten, das sind 30 Milliarden US-Dollar mehr als ihr BIP.  … Insgesamt 5.220 Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge, 28 Flugzeuge, 87 Hubschrauber, 23.000 unbemannte Luftfahrzeuge [Drohnen], über 1.300 Artilleriesysteme, darunter 494 M777-, ‚Caesar‘-, ‚Paladin‘- und ‚Krab‘-Haubitzen sowie 2.650.000 155-mm- und 122-mm-Artilleriegranaten wurden nach Kiew geliefert.“ Schoigu wies auch darauf hin, daß NATO Personal direkt an den Kampfhandlungen teilnehmen würde: „NATO-Militärangehörige haben die direkte Kontrolle über Luftverteidigungssysteme, operativ-taktische Raketen und Mehrfachraketensysteme. Wir zeichnen [Funksprüche in] amerikanischer, polnischer und englischer Sprache auf, wenn Angriffe mit diesen Mitteln vorbereitet werden. NATO-Offiziere bereiten Militäreinsätze vor. Sie bilden ukrainisches Militärpersonal sowohl in ihren Ländern als auch in der Ukraine aus.“[8]

Der russische Generalstabschef Armeegeneral Waleri Gerassimow tritt nur sehr selten in der Öffentlichkeit auf. Am 21. Dezember 2023 machte er eine Ausnahme und hielt vor den ausländischen Militärattachés in Moskau ein kurzes Briefing ab. Gerassimow äußerte sich zunächst zur allgemeinen politischen Lage:
„Die Hegemonie der USA und ihrer Verbündeten gehört der Vergangenheit an, doch Washington will die ‚westlich zentrierte Weltordnung‘ um jeden Preis aufrechterhalten. … Die beschleunigte Integration Schwedens und Finnlands in das Bündnis, die wachsende Präsenz von NATO-Truppen in Osteuropa, in den Ostsee- und Schwarzmeerregionen sowie in der Arktis wirken sich negativ auf die Lage in Europa aus und beinhalten die Aussicht auf eine verstärkte Konfrontation. Die Entwicklungen in der Ukraine stellen einen hybriden Stellvertreterkrieg der USA und ihrer Verbündeten gegen die Russische Föderation dar.“

Den Verlauf der Kampfhandlungen im Sommer und Herbst 2023 schilderte Gerassimow in einer Prägnanz und Kürze, die dem preußischen Generalfeldmarschall Helmut von Moltke, der den Beinamen „der Schweiger“ trug, alle Ehre gemacht hätte:

„In diesem Jahr konzentrierte sich das russische Militär auf die Abwehr der ukrainischen Gegenoffensive, die darauf abzielte, Rußland den Landkorridor zur Krim wegzunehmen. Anfang Juni sammelte der Feind in Richtung Saporoschje eine Offensivtruppe von bis zu 50 Bataillonen, über 230 Panzern und mehr als tausend gepanzerten Fahrzeugen. Die Hälfte davon waren moderne ausländische Modelle. Später wurden die Truppen auf 80 Bataillone aufgestockt. Der Feind plante, Melitopol in 15 Tagen zu blockieren und bis zum Asowschen Meer, Mariupol und der Grenze zur Krim vorzudringen. Die Ukraine erlitt große Verluste, konnte jedoch nur geringe Geländegewinne machen und schaffte es nicht, die Verteidigungslinien Rußlands zu durchbrechen. In einem halben Jahr verlor die Ukraine an allen Fronten fast 160.000 Mann, über 3.000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, fast 150 Flugzeuge und Hubschrauber. Die viel beworbene Gegenoffensive der Ukraine und der NATO-Verbündeten ist gescheitert.“

Zur gegenwärtigen militärischen Lage bemerkte Gerassimow:

„Die russischen Streitkräfte betreiben erfolgreich eine aktive Verteidigung, halten Stellungen entlang der gesamten Kontaktlinie und erweitern ständig ihre Kontrollzone in allen Richtungen. Der Feind ist ständig Angriffen ausgesetzt, die ihm die Möglichkeit nehmen, vorwärts zu kommen.“ Die Russische Armee hat laut Gerassimow also noch keine Großoffensive eröffnet, sondern betreibt nur „eine aktive Verteidigung“. Gleichzeitig habe das russische Militär Angriffe mit Präzisionswaffen mit großer Reichweite auf 1.500 Objekte durchgeführt, darunter Rüstungsunternehmen und lebenswichtige Einrichtungen: „Eines der Ergebnisse der Angriffe war ein erheblicher Rückgang der Produktion des ukrainischen militärisch-industriellen Komplexes.“[9] Am Ende seines Briefings wies Gerassimow darauf hin, daß Rußland „eine umfassende strategische Partnerschaft mit China und Indien entwickelt“ habe sowie „eine umfassende Interaktion mit Nordkorea“ pflege.[10]

Was diese „umfassende Interaktion“ genau beinhaltet, darüber schweigen sich die Regierungen in Moskau und Pjöngjang bislang aus. Gut informierte Beobachter sind sich ziemlich sicher, daß Nordkorea mindestens eine Millionen Artilleriegranaten der Kaliber 122 mm und 152 mm an Rußland geliefert hat. Außerdem sollen in der Ukraine Kurzstreckenraketen nordkoreanischer Herkunft zum Einsatz gekommen sein. Der Hintergrund ist sehr wahrscheinlich der, daß die russische Führung den Nordkoreanern erlaubt, ihre Raketen unter Kriegsbedingungen zu testen.

Das größte Rätsel sind aber die erfolgreichen Testflüge einer neuen nordkoreanischen Interkontinentalrakete, der Hwasong-18, im pazifischen Raum. Anders als ihre flüssigkeits-getriebenen Vorgänger, die Hwasong-15 und Hwasong-17, ist die Hwasong-18 eine dreistufige Feststoffrakete, und es fällt auf, daß alle drei Testflüge (am13. April, 12. Juli und 18. Dezember 2023) ein voller Erfolg waren. Normalerweise geht bei den ersten Flügen eines neuen Raketentyps immer irgendetwas schief. Außerdem besitzt die Hwasong-18 sowohl von ihrem Äußeren wie von ihren Flugdaten her eine auffallende Ähnlichkeit mit der russischen RS-12M2 Topol-M, die 1998 in Dienst gestellt wurde. In den amerikanischen Nachrichtendiensten kursieren seit dem Sommer 2023 Berichte, daß Rußland den Nordkoreanern bei der Konstruktion der Hwasong-18 „Entwicklungshilfe“ geleistet habe. Aus amerikanischer Sicht ist die Hwasong-18 deshalb besonders gefährlich, da sie auf ihrem Transportfahrzeug mobil ist und wegen ihres Feststoffantriebs vor einem Einsatz nicht mehr stundenlang aufgetankt werden muß. Das bedeutet, daß sie durch amerikanische Luftschläge kaum verwundbar ist. Hinzu kommt, daß die Reichweite der Hwasong-18 mit 15.000 km ausreicht, um in den USA jedes beliebige Ziel zu erreichen. Welche Rolle russische Technik bei der Entwicklung dieser neuen ICBM auch gespielt haben mag, so ist unübersehbar, daß Nordkorea von einem isolierten „Paria-Staat“ wieder zu einem wichtigen strategischen Partner Rußlands und Chinas geworden ist.[11]

Im Winter 2022/23 hatten die russischen Streitkräfte das ukrainische Stromnetz durch Angriffe  zahlloser Raketen und Marschflugkörpern schwer beschädigt und Kiew gezwungen, seine letzten Reserven an sowjetischen Flugabwehrrakten der Systeme S-300 und BUK zu verbrauchen. Die Schwächung der ukrainischen Luftabwehr hatte zur Folge, daß die Russische Luftwaffe im Sommer 2023 viel intensiver eingesetzt wurde als ein Jahr zuvor, was für die ukrainischen Bodentruppen zum Teil verheerende Folgen hatte. Die NATO baute deshalb im Sommer und Herbst die ukrainische Luftverteidigung mit Systemen wie der amerikanischen „Patriot“, deutschen „IRIS-T“, französischen „Crotale“ u.a. neu auf. Ein Drittel aller im westlichen Europa verfügbaren Luftabwehrsysteme sollen derzeit in der Ukraine mit Schwerpunkt Kiew stationiert sein.

Am 28. Dezember 2023, 3. und 8. Januar 2024 erfolgten drei große russische Angriffswellen mit Drohnen, Raketen, Marsch- und Hyperschallflugkörpern, die zeitweilig zu einem vollständigen Zusammenbruch der ukrainischen Luftverteidigung führten. In den NATO-Hauptstädten zeigte man sich schockiert, die ukrainische Regierung mußte öffentlich zugeben, daß die eigene Luftabwehr schwer gelitten habe und kaum noch einsatzfähig sei.[12] Reagierte Kiew auf die ersten beiden Angriffswellen noch mit den üblichen weit übertriebenen Erfolgsmeldungen über abgeschossene Flugkörper, so zeigte an sich nach der dritten Welle am 8. Januar eher kleinlaut. Kiew gab nun zu,  daß von russischen 51 Flugkörpern nur 18 abgefangen werden konnten, darunter  k e i n e  Überschall- oder Hyperschallflugkörper.[13]

Das „Insitute for the Study of War“ mit Sitz in Washington D.C. wird von Kimberley Kagan geleitet. Kimberley Kagan ist die Schwägerin von Robert Kagan, der wiederum mit Victoria Nuland verheiratet ist. Kurz, das „Insitute for the Study of War“ repräsentiert den harten Kern der Neocons, die die Hauptverantwortung für die amerikanische Ukrainepolitik seit 2013 tragen. Am 14. Dezember 2023 erschien auf der Internetseite dieses Washingtoner Think tanks ein Artikel mit dem Titel „The High Price of Losing Ukraine. Military-Strategic and Financial Implications of Russian Victory“, verfaßt u.a. von Frederick W. Kagan, dem Ehemann von Kimberley Kagan. Im inneren Kreis der amerikanischen Neocons breitet sich langsam Panik aus, wie aus den zentralen Aussagen dieses Artkels hervorgeht:

„Die Vereinigten Staaten haben einen sehr viel höheren Einsatz im Krieg Rußlands gegen die Ukraine als die meisten Menschen denken. Eine russische Eroberung der gesamten Ukraine ist keineswegs unmöglich, wenn die USA jede militärische Unterstützung einstellen und Europa diesem Beispiel folgt. Ein solches Ergebnis würde die geschwächte, aber siegreiche russische Armee direkt an die NATO-Grenze vom Schwarzen Meer bis zum Arktischen Ozean führen …

Eine siegreiche russische Armee wird kampferprobt und erheblich größer sein als die russischen Landstreitkräfte vor 2020. … Sie wird über fortschrittliche Luftverteidigungssysteme verfügen, die nur amerikanische Tarnkappenflugzeuge – die zur Abschreckung und Konfrontation Chinas dringend benötigt werden – zuverlässig durchdringen können. Rußland könnte zum ersten Mal seit den 1990er Jahren eine große konventionelle militärische Bedrohung für die NATO darstellen. …

Um eine erneute russische Bedrohung nach einem vollständigen russischen Sieg in der Ukraine abzuschrecken und abzuwehren, müssen die Vereinigten Staaten einen beträchtlichen Teil ihrer Bodentruppen nach Osteuropa verlegen. Die USA werden in Europa eine große Zahl von Tarnkappenflugzeugen stationieren müssen. Der Bau und die Wartung dieser Flugzeuge ist sehr kostspielig, aber die Herausforderungen bei der schnellen Herstellung werden die Vereinigten Staaten wahrscheinlich vor die schreckliche Entscheidung stellen, ob sie genug [Flugzeuge] in Asien haben, um Taiwan und seine anderen asiatischen Verbündeten zu verteidigen, oder um einen russischen Angriff auf einen NATO-Verbündeten abzuschrecken oder abzuwehren. Das gesamte Unternehmen wird ein Vermögen kosten, und die Ausgaben werden so lange anhalten, wie die russische Bedrohung anhält – möglicherweise auf unbestimmte Zeit.“[14]

Das „Institute for the Study of War“ kann also nicht länger leugnen, daß es um die alliierte Sache  in der Ukraine schlecht steht. Inwieweit amerikanische „Stealth“-(Tarnkappen)-Flugzeuge tatsächlich in der Lage sind, die russische Luftverteidigung zu durchdringen, ist für Außenstehende nicht zu beantworten. Das eigentliche Problem für die Neocons ist aber, daß ein vollständiger russischer Sieg in der Ukraine die Stelung der USA gegenüber China schwächen würde.

In Moskau mehren sich seit einiger Zeit die Stimmen, die einen vollständigen Sieg fordern und die Einsetzung einer rußlandfreundlichen Regierung in Kiew verlangen.[15] Am 19. Dezember 2023 äußerte sich Präsident Wladimir Putin öffentlich zur Zukunft der Ukraine, wobei er eher Andeutungen machte als sich auf konkrete Forderungen festzulegen. Politisch habe Rußland, so Putin, immer auf den Südosten der Ukraine Wert gelegt, was allgemein bekannt sei. Putin wörtlich:

„Denn das sind historisch gesehen russische Gebiete. Sie werden tatsächlich von Russen bewohnt, unabhängig von einem Stempel in ihren Pässen. Sie haben nur eine Muttersprache – Russisch, und ihre gesamte Kultur und alle ihre Traditionen sind ebenfalls Russisch. Sie sind unser Volk. Wir haben uns immer auf diesen Teil der Ukraine konzentriert, und das hatte wichtige innenpolitische Konsequenzen, weil es den [ukrainischen] Ultranationalisten nicht erlaubte, mit legalen politischen Mitteln wirkliche Macht zu erlangen. Die politischen Kräfte und Führer, die die Spitzenpositionen des Staates beanspruchten, mußten stets die Meinung der Wähler im Südosten der Ukraine berücksichtigen. … Aber sobald diese Kräfte an die Macht kamen, vergaßen sie diese Regionen sofort. Niemand dachte an ihre Interessen oder Mandate, und die Behörden folgten sofort dem Kielwassern der extremen Nationalisten … Rußland war der einzige Garant für die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine. … Bei der Gründung der Sowjetunion [1922] übertrug Rußland ihr riesige historische Territorien, russische Territorien, zusammen mit der Bevölkerung, ein riesiges Potenzial, und investierte immense Ressourcen in dieses Land.“

Dann gab Putin zu verstehen, daß die Moskauer Führung an der Westukraine kein Interesse habe:

„Die westlichen Länder der Ukraine? Wir wissen, wie die Ukraine sie erhalten hat. Stalin schenkte sie ihr nach dem Zweiten Weltkrieg. Er gab einen Teil des polnischen Territoriums mit Lemberg usw. ab, darunter mehrere große Gebiete mit einer Bevölkerung von zehn Millionen Menschen. Um die Polen nicht zu verärgern, kompensierte er ihre Verluste, indem er ihnen die ostdeutschen Gebiete, den Danziger Korridor und Danzig selbst, überließ. Er nahm einige Gebiete von Rumänien und einige von Ungarn und übergab sie der Ukraine. Die Menschen, die dort leben – zumindest viele von ihnen … wollen in ihre historische Heimat zurückkehren. Die Länder, die diese Gebiete verloren haben, vor allem Polen, träumen davon, sie zurückzubekommen. In diesem Sinne könnte nur Rußland der Garant für die territoriale Integrität der Ukraine sein. Wenn sie es nicht wollen, dann soll es so sein. Die Geschichte wird alles an seinen Platz bringen. Wir werden uns nicht einmischen, aber wir werden nicht aufgeben, was uns gehört. Jeder sollte sich dessen bewußt sein – alle diejenigen in der Ukraine, in Europa und in den Vereinigten Staaten, die Rußland gegenüber aggressiv eingestellt sind. Wenn sie verhandeln wollen, sollen sie es tun. Aber wir werden es nur auf der Grundlage unserer Interessen tun.“[16]

Putin beschreibt nicht näher, welche Gebiete er konkret er mit dem „Südosten“ der Ukraine meint. Er spricht von den russischen Gebieten, also jenen, in denen zumindest mehrheitlich Russisch gesprochen wird: das sind fast alle Gebiete östlich des Dnjepr einschließlich Charkow sowie die westlich des Dnjepr an der Schwarzmeerküste gelegene Hafenstadt Odessa. Im Prinzip handelt es sich bei diesen Gebieten um das Noworossija des 18. Jahrhunderts, das als Folge der Türkenkriege unter Katharina der Großen entstand.

Die Westukraine, Galizien und Wolhynien, haben zu keinem Zeitpunkt zum Russischen Kaiserreich von 1721 gehört. Putin läßt, offen, was mit der Rumpfukraine, die von westlich des Dnjepr einschließlich der Hauptstadt Kiew bis etwa zur Stadt Brody reicht, geschehen soll. Fest steht nur, daß Moskau eine NATO-Mitgliedschaft dieser Rumpfukraine niemals zulassen wird. Folgt man den Ausführungen Putins, dann ist das russische Maximalziel die Wiedereingliederung des Gebiets der Ukraine östlich der Grenzen von 1913 in den Herrschaftsbereich der Russischen Föderation. Eine Alternative zu einer Besetzung der gesamten Ukraine wäre eine Rumpfukraine mit einer moskaufreundlichen Regierung in Kiew. Der NATO und der EU blieben dann nur noch die kleine und wirtschaftlich bedeutungslose Westukraine. Seinerzeit galten Galizien und Lodomerien als die rückständigsten und ärmsten Provinzen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, sieht mnan von Bosnien und der Herzegowina ab. Die wirtschaftlich wirklich wichtigen ukrainischen Gebiete mit ihrer Schwerindustrie und ihren Rohstoffvorräten liegen zu mehr als 80 Prozent im Südosten, im Donbaß, und diese befinden sich schon jetzt unter russischer Kontrolle.

Es ist unwahrscheinlich, daß die USA, die NATO- und die EU-Staaten diese russischen Forderungen akzeptieren werden. Die weitere Entwicklung läuft darauf hinaus, daß Moskau seine Bedingungen nach einem Zusammenbruch der ukrainischen Armee einseitig diktieren wird. Der Westen wird die neue Situation nicht anerkennen, was eine dauerhafte Neuauflage des Kalten Krieges nach sich ziehen dürfte.

Anmerkungen:

[1] Statement by Minister of Defence of the Russian Federation General of the Army Sergei Shoigu at extended session of Defence Ministry Board; 19.12.2023;

https://eng.mil.ru/en/news_page/country/more.htm?id=12491871@egNews

[2] Ebenda

[3] Ebenda

[4] Ebenda

[5] THE DURAN ON PUTIN’S NEXT MOVES IN UKRAINE AS RUSSIA GOES ON OFFENSIVE; The Duran 4.1.2024; https://www.bitchute.com/video/5kLQ042jR0VE/

[6] Breaking Down Thinktank-land’s Latest: Estonian MoD & ISW Analysis; Simplicius the Thinker 23.12.2023; https://simplicius76.substack.com/p/breaking-down-thinktank-lands-latest

[7] Budanov admits Ukraine big counter-offensive is over; The Duran 14.10.2023; https://www.bitchute.com/video/ke5-C1GVNnQ/

[8] Statement by Minister of Defence of the Russian Federation General of the Army Sergei Shoigu at extended session of Defence Ministry Board; 19.12.2023;

https://eng.mil.ru/en/news_page/country/more.htm?id=12491871@egNews

[9] Russia’s Chief of General Staff reports on Ukrainian failure, Russian rearmament; TASS 21.12.2023;

https://tass.com/politics/1724847utm_source=google.com&utm_medium=organic&utm_campaign=google.com&utm_referrer=google.com

[10] Russia’s Chief of General Staff reports on Ukrainian failure, Russian rearmament; TASS 21.12.2023;

https://tass.com/politics/1724847utm_source=google.com&utm_medium=organic&utm_campaign=google.com&utm_referrer=google.com

[11] Third Successful Launch of North Korea’s Hwasong-18 Solid ICBM Probably Marks Operational Deployment; VANN H. VAN DIEPEN, 38 North 21.12.2023

https://www.38north.org/2023/12/third-successful-launch-of-north-koreas-hwasong-18-solid-icbm-probably-marks-operational-deployment/

[12] RUS OFFENSIVE COMING UK SAYS, AVDEYEVKA, LIMAN ADVANCES, KIEV AD COLLAPSE; WEST SHOCKED; F16 DELAY; Alexander Mercouris 6.1.24;

https://www.bitchute.com/video/LREiDNfUTs0/

[13] RUS MISSILE STRIKE ROCKS UKR; ZELENSKY UKR AD DEPLETED; KIEV PLANS NEW DNEIPER OFFENSIVE; F16S; Alexander Mercouris 9.1.24

https://www.bitchute.com/video/zU5VcUNK5-U/

[14] The High Price of Losing Ukraine. Military-Strategic and Financial Implications of Russian Victory; Frederick W. Kagan, Kateryna Stepanenko, Mitchell Belcher, Noel Mikkelsen, and Thomas Bergeron; Insitute for the Study of War December 14, 2023;

https://www.understandingwar.org/backgrounder/high-price-losing-ukraine

Breaking Down Thinktank-land’s Latest: Estonian MoD & ISW Analysis; Simplicius the Thinker 23.12.2023; https://simplicius76.substack.com/p/breaking-down-thinktank-lands-latest

[15] Putin signals, leadership change in Kiev; The Duran 2.6.2023; https://www.bitchute.com/video/aZpL3Z_qN54/

[16] Expanded meeting of Defence Ministry Board • President of Russia 19.12.2023

http://en.kremlin.ru/events/president/news/73035

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