Am Beispiel von Biographien deutscher Widerstandskämpfer im Dritten Reich hat die Pädagogin Marita Lanfer in ihrem Buch „Säen bei Nacht – Der Deutsche Widerstand als Auftrag und Erziehung“ eindrucksvoll dargestellt, wie wichtig die intakte traditionelle Familie sowie an eine Christentum und verbindlichen sittlich-moralischen Werten orientierte Erziehung sind, um gegen opportunistische Versuchungen gewappnet zu sein und Widerstand zu leisten, wenn die Pflicht und das Gewissen es verlangen. Heute aktueller denn je! Moritz Schwarz hat die Autorin in der Jungen Freiheit Nr. 29/22 zu ihren Thesen interviewt.
„Was Erziehung leisten kann“
Deutscher Widerstand: Was hat die Angehörigen des 20. Juli 1944 befähigt, ihr Leben in die Bresche zu werfen? In ihrem bemerkenswerten Buch meint die Pädagogin Marita Lanfer, das Geheimnis nun gelüftet zu haben.
Moritz Schwarz
Frau Lanfer, inwiefern zeigt unser Verhältnis zum Widerstand des 20. Juli 1944, daß wir Deutschen ein pathologisches Selbstverständnis haben, wie Sie sagen?
Marita Lanfer: Unsere allzu berechtigte tiefe Scham über den Nationalsozialismus verhindert den angemessenen Blick auf die Tatsache des deutschen Widerstandes. Wer ihn hervorhebt, wird oft der Schönfärberei bezichtigt, mit der er von den Verbrechen ablenken wolle. In Wahrheit könnte das Bewußtsein, was diese Menschen an Gesinnung und Charakter bewiesen haben, maßgeblich zur Gesundung unseres nationalen Selbstverständnisses beitragen.
Zum Beispiel?
Lanfer: Etwa ihre heute verschrieenen preußischen Tugenden wie Selbstdisziplin, Bescheidenheit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsgefühl und Mut – was etwas anderes war als das, was heute billig als „Zivilcourage“ gefeiert wird. Vor allem aber ihr Glaube an eine verbindliche Ordnung, eine letzte Instanz, der man verpflichtet ist: Es kennzeichnet diese Menschen aus allen Schichten, daß sie dazu erzogen waren, das als wahr Erkannte bedingungslos über das eigene Wohl zu stellen. Wo sehen wir das heute?
Aber inwiefern offenbart das ein pathologisches Selbstverständnis der Deutschen?
Lanfer: Diese Menschen zählten, wie ihr Mut zeigt, zu den Besten unseres Volkes, dessen sittlichem Fortbestehen sie sich verschrieben hatten – das aber seinerseits von diesem Erbe nichts mehr hören will! Denn unser Volk ist mit einem Schuldkomplex beladen, auf den hierzulande alles reduziert wird. Die Selbstachtung ist verlorengegangen. Das aber ist verstörend, weil es wie eine Barrikade gegen unser Fühlen und Denken ist: Wir Deutschen können uns in unserem Land, unserem Volk, unserer Heimat kaum mehr finden. Denken Sie etwa daran, wie diese Begriffe heute mit „Ausgrenzung“ übersetzt werden.
Weshalb interessiert Sie das so?
Lanfer: Als Pädagogin frage ich mich natürlich: Wie sollen sich Heranwachsende, die einmal in Heimatkunde statt „Sachkunde“ unterrichtet wurden, da noch mit ihrer Herkunft identifizieren und einmal die Identität unseres Volkes wahren können? Denn ebensowenig wie ein gebeugter Mensch kann ein gebeugtes Volk aufrecht und weitblickend die Zukunft bestehen.
„Der Deutsche Widerstand als Auftrag zur Erziehung“ lautet der Untertitel Ihres neuen Buches „Säen bei Nacht“ – der 20. Juli also als ein Erziehungsratgeber?
Lanfer: Nein. Abgesehen davon, daß sich der deutsche Widerstand keineswegs im 20. Juli erschöpft, versteht sich das Buch als Anstoß zur Besinnung darauf, was Erziehung leisten kann. Es ist nicht primär ein politisches, sondern in erster Linie ein pädagogisches Buch, ein Fazit aus Biographien einer Vielzahl unterschiedlichster Widerstandskämpfer unter dem Aspekt: Wie sind diese kerzengeraden Menschen erzogen worden, bereit, für ihre Überzeugung sogar ihr Leben zu opfern – wohl das sittlich Höchste, was man erringen kann. Und: Gibt es in der Erziehung dieser Menschen etwas, das ihnen bei aller Unterschiedlichkeit der Herkunft gemeinsam war? Tatsächlich ist dem so.
Nämlich, was war dieses Gemeinsame?
Lanfer: Die Weitergabe zeitloser Werte und Normen, die ihnen in Familie und Schule vermittelt wurden und die gespeist waren aus einem überzeugend vorgelebten christlichen Glauben.
Sie sind weder Erziehungswissenschaftlerin noch Historikerin, wie sind Sie also zu dem Thema gekommen?
Lanfer: Ich habe vierzig Jahre als Lehrerin gearbeitet. Es geht mir um die Kinder und was es mit ihnen macht, wenn sie Erziehung und Bildung, wie sie heute verstanden werden, erfahren. Dazu ein Erlebnis: Als ich einmal nach Schulschluß im Klassenzimmer blieb, um den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten, vernahm ich plötzlich ein gewaltiges Dröhnen. Oben auf der Treppe erblickte ich einen Achtjährigen, der mit voller Wucht immer wieder gegen das Metallgeländer der Treppen trat; vier Erwachsene standen daneben, die sich seelenruhig unterhielten. Hatten sie den minutenlangen Krach nicht bemerkt? „Doch. Aber was soll man da machen?“ Diese Episode zeigt, was ich während meiner Berufsjahre erlebt habe: wie Kraftlosigkeit und Resignation immer mehr zunahmen, wie Autorität zerfiel. Obwohl ich die Tätigkeit an Grund-, Haupt- und Gesamtschulen gern ausübte, machte mir der zunehmende Niedergang in der Erziehung das Herz schwer. Ich erlebte, wie durch den Verlust von Ruhe, Respekt und Ordnung die Leistungen der Schüler immer mehr nachließen. Ich erlebte, wie immer neue Schulkonzepte Einzug hielten, während es für mehr und mehr Schüler zur Herausforderung wurde, auch nur still zu sitzen oder sich gar 45 Minuten lang zu konzentrieren. Ich erlebte, wie der Lärmpegel wuchs und wuchs, bis sich Lehrer und Schüler nur noch hilflos die Ohren zuhielten; wie immer mehr Kollegen der bloße Kampf ums Überleben in den Burnout trieb und gerade engagierte Lehrer verbittert aus dem Leben schieden; wie mehr und mehr Schüler „implodierten“, also verschlossen und düster wurden, während andere explodierten, indem sie sich aggressiv und – Mädchen eingeschlossen – gewalttätig zeigten, und wie Eltern ratloser und die Wartezeiten der psychologischen Beratungsstellen länger und länger wurden.
Und Sie glauben, dem mit dem historischen Widerstand gegen Hitler beikommen zu können?
Lanfer: Seit Jahrzehnten überbieten Experten sich mit Vorschlägen zum Thema Erziehung. Ich glaube indes, daß der Verlust erzieherischer Substanz vor allem Folge eines generellen Verlusts kultureller Substanz ist. Das deutsche Erziehungs- und Bildungswesen hatte einmal einen außerordentlichen Ruf; um unseren wissenschaftlichen, technischen und handwerklichen Nachwuchs wurden wir beneidet. Stimmt es denn überhaupt, daß die Katastrophe des Nationalsozialismus alle genuinen deutschen Traditionen widerlegt hat, wie uns eingeredet wird? Tatsächlich belegt gerade der deutsche Widerstand, daß die NS-Zeit die Ideale tradierter Erziehung nicht ad absurdum geführt, sondern im Gegenteil gezeigt hat, wie dringend nötig sie sind, um in Zukunft ähnliche Herausforderungen bestehen zu können.
Dabei haben Sie diese deutschen Werte als Achtundsechzigerin doch einmal mit aller Macht bekämpft.
Lanfer: Ich stamme aus einem katholischen Elternhaus und wurde überbehütet erzogen. Entsprechend unerfahren ging ich ins Studium – wo ich staunend erlebte, wie plötzlich Studenten aufsprangen und in die Vorlesung hinein „systemimmanente Scheiße!“ schrien; eine Sprache, die ich gar nicht verstand. Ich stand diesem Treiben wehrlos gegenüber, ohne das Rüstzeug, dem aufkommenden Zeitgeist zu begegnen. Das mitzugeben hatte vielen kriegserschöpften Eltern die Kraft gefehlt. Man hat als junger Mensch kaum eine Chance, eine solch aggressive Ideologie auch nur im Ansatz zu durchschauen. So wurde ich bald zum Mitläufer und vertrat wie die meisten die Parolen der Bewegung unreflektiert. Aus der Studentenrevolte erwuchs die Autonome Frauenbewegung, unter anderem geprägt von Alice Schwarzers Buch „Der kleine Unterschied“. Begeistert gründeten sich überall Frauengruppen – in denen reihenweise Ehen kaputtgeredet und zerstört wurden: Indem die verheirateten, „bürgerlichen“ Frauen, von denen viele zuvor gar nicht an Scheidung gedacht hatten, massiv bedrängten wurden, endlich ihre „Unterdrückung zu erkennen“. Heute schäme ich mich, bei einer Bewegung mitgemacht zu haben, die so viel Schaden angerichtet hat, vor allem wenn ich an das Schicksal der Scheidungskinder denke. Nachdem ich mich angewidert aus dem radikalisierten Milieu zurückgezogen hatte, erinnerte ich mich des Themas, das mich früher schon beschäftigt hatte: Masse und Widerstand. Es führte mich später unweigerlich zum deutschen Widerstand. Ich war von seiner Breite überrascht: Sollte es etwa damals von Widerständlern nur so gewimmelt haben?
Kann man Tausende, bei damals 60 Millionen Einwohnern, „wimmeln“ nennen?
Lanfer: Natürlich nicht. Doch fragte ich mich das aus meiner damaligen Perspektive, hatte ich doch – bis auf die kleine Gruppe der bekannten Widerständler – von den vielen anderen nie etwas gehört. Für die sich, aller Bekenntnisse zum Widerstand zum Trotz, kaum jemand interessierte. Stimmte also etwas nicht mit der Einstellung zu unserer Vergangenheit?
Nämlich, was war das?
Lanfer: Unsere Gesellschaft glaubt, ohne das Potential der zahlreichen letzten Repräsentanten eines anderen, fast gänzlich untergegangenen Deutschlands auskommen zu können. Zu diesem anderen Deutschland gehörten Menschen, die sich verpflichtet fühlten, dem Ganzen zu dienen. Um konkret an die Rolle der Frau anzuknüpfen, ging es eben nicht um Autonomie. In diesem Zusammenhang hat mich ein geradezu prophetisches Wort Dietrich Bonhoeffers sehr beschäftigt, was auch im Buch Ausdruck findet: „Es ist der Beginn der Auflösung und des Verfalls aller menschlichen Lebensordnungen, wenn das Dienen der Frau als Zurücksetzung, ja als Kränkung der Ehre angesehen wird.“ Blicken wir in unsere Zeit, die den Männern und Frauen als höchstes Ziel ihre Selbstverwirklichung einredet, so erleben wir, wie dadurch alle verlieren: die Männer, die doppelt belasteten Frauen und vor allem die Kinder. Und wir sehen wie sehr uns allen damit das weibliche Element fehlt: Unsere Gesellschaft schreit geradezu nach Wärme!
Wenn Sie vom „Dienen der Frau“ sprechen, wird Ihnen natürlich entgegengehalten werden: Aha, die Frau ist also Magd, der Mann der Herr!
Lanfer: Das ist selbstverständlich Unsinn. Das Einanderdienen gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. So wurde das auch in den Ehen vieler Widerständler gelebt. Idealiter sollte es so sein, „daß eins das andere mit sich in den Himmel bringe“, wie der Widerstandskämpfer Paul Schneider schrieb.
Dann erklären Sie „Dienen“.
Lanfer: Dienen heißt Sorge tragen für das Wohlergehen des Anderen. Es ist ein edles, kein unterwürfiges Tun, denn wir brauchen einander. Der moderne Autonomiewahn – der Anspruch des „Ich kann alleine!“ – verkennt zudem, daß wir alle letztlich auf ein Höheres angewiesen sind und leben sollten „im ernsten Aufblick zu Gott“, wie Ewald von Kleist-Schmenzin seinen Kindern in seinem Abschiedsbrief zurief. Das sollte der Leitgedanke in der Erziehung überhaupt sein: Denn nur, wer sich als Erzieher vertikal leiten läßt, kann Kinder wirklich führen: Er hat die Kraft dazu, weil er im Gottvertrauen lebt. Die Saat, die die Eltern vieler Widerstandskämpfer aufgebracht hatten, ging auf: Sie bewährten sich als Menschen, die aus dem Glauben lebten und sich deshalb noch in schlimmster Bedrängnis aufgehoben fühlen konnten. Das war die Quelle ihrer Kraft und ließ sie todesmutig der Versuchung widerstehen, den Weg der Masse zu gehen. Diese Saat sollten auch wir in der Erziehung legen.
Jedoch hat nicht einmal die Rückendeckung aus Hollywood, in Gestalt des 20.-Juli-Kinofilms „Operation Walküre“ von Tom Cruise, dem Widerstand zur Popularität verhelfen können. Wie wollen Sie ein Instrument nutzen, für das sich heute fast keiner interessiert?
Lanfer: Das Problem ist, daß der deutsche Widerstand immer nur historisiert wird. Tatsächlich aber birgt er einen Schatz, den die heutige Erziehung endlich heben sollte: Wir müssen von der Historisierung des deutschen Widerstands zu seiner Dynamisierung übergehen. Dem redet auch Klaus von Dohnanyi, Sohn des überaus tapferen Widerstandskämpfers Hans von Dohnanyi, das Wort: „In Deutschland haben wir uns sehr intensiv mit den Opfern (der NS-Zeit) beschäftigt … Mit dem Widerstand aber, der die eigentliche Essenz bildet, woran man sich für die Zukunft orientieren kann, befaßt sich Deutschland viel weniger.“ Wir müssen uns die Leitbilder des deutschen Widerstandes bis zum heutigen Tag erst noch verdienen. Sind wir angesichts der derzeitigen „Weltnacht“, wie Heidegger sagt – daher auch der Titel meines Buches „Säen bei Nacht“ – nicht geradezu verpflichtet, dieses Erbe endlich anzutreten und der heranwachsenden Generation mit diesen Vorbildern die Orientierung zu geben, die sie so dringend braucht?
Marita Lanfer, unterrichtete von 1968 bis 2008 an Grund-, Haupt- und Gesamtschulen in NRW, unter anderem Deutsch, Englisch und Geschichte. Die 1947 in Viersen am Niederrhein geborene Pädagogin veröffentlichte 2014 das Buch „Erziehung durch Vorbild“. Ende 2021 erschienen: „Säen bei Nacht. Der Deutsche Widerstand als Auftrag und Erziehung“.