Während an den übrigen Frontabschnitten die Lage weitgehend unverändert ist, gibt die Situation im Bereich Cherson einige Rätsel auf. Seit Tagen machen Meldungen die Runde, die Russen planten Cherson und das Gebiet nördlich des Dnjpr aufzugeben. Auslöser waren entsprechende Äußerungen eines Behördenvertreters der Region Cherson sowie Berichte, wonach die russische Flagge vom Rathaus in Cherson entfernt worden sei. Von offizieller russischer Seite gab es hierzu weder eine Bestätigung noch ein Dementi.
Einige Beobachter werten die Meldungen als mögliche Täuschung, um die Ukrainer zu einer voreiligen Offensive zu verleiten. Dieser Annahme steht entgegen, daß die ukrainische Aufklärung zweifellos einen Abzug der russischen Truppen erkennen müßte. Eine List würde also ins Leere laufen.
Gleichzeitig existieren Berichte von Einwohnern und Journalisten, daß sich die russischen Truppen in Cherson nach wie vor zur Verteidigung vorbereiten. Rückwärtsbewegungen wurden nirgends gemeldet.
In der Stadt Cherson sollen sich noch 20% der Einwohner befinden. Vor wenigen Tagen hat die russische Regierung die Zwangsevakuierung angeordnet, nachdem das Verlassen bis dahin freiwillig gewesen war.
Auf ukrainischer Seite werden weitere Verstärkungen der Truppen vor Cherson gemeldet. Zuletzt wurden dort etwa 17-20 mechanisierte Brigaden festgestellt, was der stärke einer Armee mit etwa 100.000 Mann und 2000 gepanzerten Fahrzeugen entspräche. Diese Kräfte hätten zweifellos eine ausreichende Stoßkraft für eine Offensive.
Genauere Zahlen über die Stärke der russischen Verteidigung in Cherson gibt nach wie vor nicht. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß sich dort ebenfalls eine Armee befindet.
Die Vorteile liegen grundsätzlich auf der Seite der Verteidiger. Das Gelände ist weitgehend offen, von Ortschaften durchsetzt und wird von zahlreichen kleinen und größeren Gewässern durchzogen. Die Geländegängigkeit ist jetzt im Spätherbst durch Feuchtigkeit bereits sehr eingeschränkt. Dazu verfügen die Russen nach wie vor über die Überlegenheit bei Luft/Artillerie.
Zum Nachteil der russischen Verteidiger gereicht allerdings, daß sich in ihrem Rücken der breite Fluß Dnjpr befindet, dessen feste Überquerungen bereits vor längerer Zeit durch Gegnereinwirkung zerstört wurden. Die Versorgung sowie Bewegungen von Truppen müssen über Behelfsbrücken (Schwimmbrücken) erfolgen, die einer ständigen Gefährdung aus der Luft unterliegen.
Ein Vorstoß der Ukraine könnte im Westen des Gebietes erfolgen, wo die Entfernung von der Hauptkampflinie zur Stadt Cherson lediglich 20 km beträgt. Gleichzeitig könnte weiter ostwärts ein Angriff entlang des Flusses Inhulets erfolgen mit dem Ziel, die russischen Streitkräfte zu teilen.
In den vergangenen Tagen hat die Ukraine den Beschuß der Stadt Cherson mit Artillerie erheblich verstärkt. Dies muß allerdings kein Zeichen für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff der ukrainischen Bodentruppen sein.
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