Zu den jüngsten Entwicklungen im Ukraine-Konflikt
von Dr. Walter Post
Der russische Oligarch Jewgeni Prigoschin stand bereits seit Monaten in offenem Konflikt mit dem Russischen Verteidigungsministerium und insbesondere mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Armeegeneral Waleri Gerassimow. Prigoschin machte bei öffentlichen Auftritten immer wieder einen psychisch unausgeglichenen Eindruck. Gleichzeitig werden Prigoschin schon seit längerer Zeit Kontakte zu westlichen und ukrainischen Geheimdiensten nachgesagt, und es erscheint höchst unwahrscheinlich, daß der FSB darüber nicht informiert war.
Prigoschin steht formal nur der zivilen Verwaltungsstruktur der Wagner-Organisation vor und ist gleichzeitig der oberste PR-Manager dieser Truppe.Die Wagner-Organisation wurde tatsächlich von der GRU und dem FSB gegründet, die Mehrheit der Kämpfer sind ehemalige Kontrakt-Soldaten der Russischen Armee. Die Wagner-Organisation ist im Prinzip in die Befehlsstruktur und die Logistik der regulären Russischen Streitkräfte eingebunden, und das Verteidigungsministerium plante seit geraumer Zeit, die Verträge mit den Söldnern künftig direkt abzuschließen und nicht mehr über die Büros von Prigoschin. Dies war einer der wichtigsten Punkte, warum der Streit zwischen Prigoschin sowie Schoigu und Gerassimow immer weiter eskalierte. Prigoschin ist aus einfachen Verhältnissen zum Inhaber einer Restaurant- und Catering-Kette aufgestiegen, die auch die russischen Streitkräfte versorgt. Er selbst hat aber aber keinen militärischen Hintergrund. Offenbar hat er in den 1980er Jahren wegen seiner damaligen kriminellen Laufbahn und seinen Gefängnisaufenthalten keinen Wehrdienst in der Sowjetarmee geleistet. Auf der anderen Seite machte Prigoschin während des Ukraine-Konflikts laufend Frontbesuche und war bei seiner Truppe sehr beliebt.
An der von Prigoschin inszenierten Rebellion haben nur etwa 4.000 Mannschaften und Unteroffiziere von insgesamt 25.000 Mann der Wagner-Truppe teilgenommen, so gut wie alle Offiziere, deren Loyalität allgemein der Russischen Armee gilt, wurden nicht eingeweiht oder verweigerten sich. Die Planungen und Vorbereitungen für den Putsch haben offenbar schon vor Wochen begonnen, die Besetzung des Hauptquartiers des Südlichen Militärbezirks in Rostow am Don durch die Wagner-Leute erschien gut organisiert.
Auffallend ist der Zeitpunkt, nach den Plänen des NATO-Hauptquartiers sollte zum Zeitpunkt 24./25. Juni die Ukrainische Armee bereits die russischen Verteidigungslinien in der Südostukraine durchbrochen haben. Offenbar hat man an einigen Stellen geglaubt, daß eine Rebellion der Wagner-Truppen nach einer russischen militärischen Niederlage auf die regulären russischen Truppen übergreifen und den Weg für einen Regime-Wechsel in Moskau frei machen würde. Angesichts des Desasters der ukrainischen Armee ist aber die Voraussetzung für diesen Plan entfallen, und warum Prigoschin die Rebellion dennoch angezettelt hat, ist schwer erklärlich.
Am 23. Juni stellte Prigoschin jedenfalls mehrere Videos ins Internet, in denen er das russische Verteidigungsministerium offen der Lüge bezichtigte und eine Version des Ukrainekonflikts verbreitete, die den Positionen Kiews und der NATO-Staaten entspricht. So behauptete er, daß der Krieg ohne jede Notwendigkeit von Rußland vom Zaun gebrochen worden sei.[1]
Prigoschin kündigte einen „Marsch für Gerechtigkeit“ auf Moskau“ an, seine Truppe stand aber vor dem Problem, daß eine Militärkolonne auf der Autobahn Rostow am Don – Moskau etwa 20 Stunden Fahrtzeit benötigt.
Prigoschins flammende Aufrufe zündeten nicht: Innerhalb von 24 Stunden wurde klar, daß die Russische Armee, die Sicherheitsdienste, die Gouverneure, sämtliche Behörden und die große Mehrheit der Bevölkerung hinter Präsident Putin standen. Am 25. Juni hielt Putin um 10 Uhr eine bemerkenswerte Fernsehansprache, in der er das Russische Volk und die Russischen Streitkräfte zur Einheit aufrief und vor einer Widerholung des Jahres 1917 warnte. Ob Putin dabei die Februarrevolution oder den Oktoberputsch der Bolschewiki meinte, ließ er offen:
„Ich appelliere an die Bürger Rußlands, an die Angehörigen der Streitkräfte, der Strafverfolgungs-behörden und der Geheimdienste, an die Soldaten und Kommandeure, die jetzt in ihren Stellungen kämpfen, die Angriffe des Feindes [der ukrainischen Truppen] abwehren und dies heldenhaft tun – ich weiß das, denn ich habe heute Abend wieder mit den Kommandeuren aller Abschnitte gesprochen. Ich wende mich auch an diejenigen, die durch Täuschung oder Drohungen in dieses kriminelle Abenteuer gelockt und auf den Weg des schwersten Verbrechens, des bewaffneten Aufstandes, getrieben wurden.
Rußland kämpft heute einen schweren Kampf um seine Zukunft und wehrt die Aggression der Neonazis und ihrer Strippenzieher ab. Gegen uns ist praktisch die gesamte Militär-, Wirtschafts- und Informationsmaschinerie des Westens gerichtet. Wir kämpfen für das Leben und die Sicherheit unseres Volkes, für unsere Souveränität und Unabhängigkeit. Für das Recht, Rußland zu sein und zu bleiben – ein Staat mit einer tausendjährigen Geschichte.
Dieser Kampf, in dem sich das Schicksal unseres Volkes entscheidet, erfordert die Einheit aller Kräfte, Einigkeit, Konsolidierung und Verantwortung. Jetzt muss alles, was uns schwächt, jede Art von Zwietracht, die unsere äußeren Feinde nutzen können und nutzen werden, um uns von innen zu untergraben, beiseite geschoben werden.
Und darum sind Aktionen, die unsere Einheit spalten, de facto eine Abkehr von unserem Volk, von unseren Kameraden, die jetzt an der Front kämpfen. Das ist ein Dolchstoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes.
Das ist genau so ein Schlag, wie er Rußland 1917 zugefügt wurde, als das Land im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Dem Land wurde der Sieg gestohlen. Intrigen, Zänkereien, politische Machenschaften hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zur größten Erschütterung, zur Zerschlagung der Armee und zum Zusammenbruch des Staates, zum Verlust riesiger Gebiete. Das Ergebnis war die Tragödie des Bürgerkriegs. … Wir werden nicht zulassen, daß sich das wiederholt. Wir werden sowohl unser Volk als auch unsere Staatlichkeit vor allen Bedrohungen schützen. Auch gegen Verrat von innen.“[2]
Trotz des äußerst schwerwiegenden Vorwurfs des Verrats vermied es Putin, Prigoschin oder die Wagner-Truppe beim Namen zu nennen.
Angesichts des Ausbleibens jeder Unterstützung sah Prigoschin sich gezwungen, aufzugeben. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko, der mit Prigoschin seit 20 Jahren befreundet ist, schaltete sich als Vermittler ein und handelte mit dem Oligarchen einen Waffenstillstand aus. Für Prigoschin persönlich waren die Bedingungen günstig, er soll in eine Art Exil nach Weißrußland gehen, die gegen ihn erhobenen Anklagen wegen Verrats usw. werden nicht weiterverfolgt.
Prigoschin sagte den „Marsch für Gerechtigkeit“ ab und kündigte an, daß seine Wagner-Kämpfer umkehren und zu ihren Stützpunkten zurückkehren würden.
Putins Pressesprecher Dmitry Peskov erklärte, daß die Wagner-Kämpfer unter Berücksichtigung ihrer Verdienste an der Front nicht strafrechtlich verfolgt würden. Er fügte hinzu, daß das Team von Präsident Wladimir Putin „ihre Taten immer respektiert“ habe: „Jene PMC-[Wagner]-Kontraktsoldaten, die sich weigerten, an der Meuterei teilzunehmen – und das betrifft ganze Einheiten – können neue Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichnen.“[3]
Zusammengefaßt lauten die wichtigsten Punkte der Vereinbarungen:
- Alle Anklagen gegen Prigoschin werden fallengelassen, er wird Rußland verlassen und nach Weißrußland gehen;
- Wagner-Kämpfer, die nicht an der Meuterei teilgenommen haben, können Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben;
- Wagner-Kämpfer, die teilgenommen haben, werden nicht angeklagt;
- über mögliche Veränderungen in der Führung des Verteidigungsministeriums wird kein Wort verloren.
Im Endergebnis sind die ständigen Querelen mit Prigoschin damit beendet und die Wagner-Organisation steht ab nun unter der ausschließlichen Kontrolle des Verteidigungsministeriums.
Die Wagner-Truppen zogen unter dem Applaus des Publikums aus Rostow am Don ab, die Meuterei war damit offiziell beendet. Das Hauptquartier des Südlichen Militärbezirks in Rostow am Don wurde von Wagner wieder der regulären Armee übergeben.
Der ganze – reichlich bizarr wirkende – Putschversuch hatte nicht mehr als 24 Stunden gedauert.
Ungeachtet des friedlichen Ausgangs behielt der Kreml seine scharfe Rhetorik bei:
„Die abenteuerlichen Ambitionen der Verschwörer zielten im wesentlichen darauf ab die Lage in Rußland zu destabilisieren, unsere Einheit zerstören und die Bemühungen Rußlands, die internationale Sicherheit zuverlässig zu gewährleisten, zu untergraben“, erklärte das Russische Außenministerium. „Die Meuterei spielt den äußeren Feinden Rußlands Hände. Der versuchte bewaffnete Aufstand in unserem Land hat in der russischen Gesellschaft starke Mißbilligung hervorgerufen, die Präsident Wladimir Putin entschieden unterstützt.“[4]
Von strafrechtlichen Konsequenzen für die Beteiligten ist nicht mehr die Rede, Prigoschin hat aber nur eine Abmachung bekommen, er ist nicht amnestiert worden. Bei fehlendem Wohlverhalten kann das Strafverfahren gegen ihn jederzeit wieder aufgenommen werden.
Mittlerweile haben die Spekulationen über die Hintergründe dieser Ereignisse begonnen, und diese werden in den kommenden Tagen und Wochen mit Sicherheit anhalten.
Der tschetschenische Führer Ramsan Kadyrow glaubt, daß negative Charaktereigenschaften wie Gier und Ruhmsucht den Hintergrund dieser Episode bilden; Kadyrow schreibt über Prigoschin auf Telegram:
„Ich dachte, daß man manchen Menschen vertrauen kann. Daß sie ihr Vaterland als echte Patrioten bis ins Mark aufrichtig lieben. Aber es stellte sich heraus, daß die die Zuneigung und die Liebe zum Vaterland den Menschen aus persönlichen Ambitionen, Profitgründen und Arroganz völlig egal ist .“[5]
Unübersehbar war der Wunsch des Kreml, die ganze Episode so schnell und so unblutig wie möglich zu beenden. Nach Berichten der New York Times war die CIA von dem Coup Prigoschins vorab informiert. Es ist daher so gut wie ausgeschlossen, daß GRU und FSB von den Plänen und Vorbereitungen Prigoschins und seiner engsten Gefolgsleute nichts mitbekommen haben.[6] Tatsächlich reagierte der Kreml nach Ausbruch der Krise schnell und zielgerichtet.[7] Die Rebellion hatte kaum begonnen, als die meuternden Wagner-Kämpfer in Rostow am Don auch schon von den tschetschenischen Truppen Ramsan Kadyrows weiträumig umstellt waren. Ihr rasches Erscheinen weist deutlich darauf hin, daß der Kreml über die Verschwörung vorab informiert war.
Beobachter wie Alexander Mercouris vergleichen die Prigoschin-Meuterei mit dem gescheiterten Putsch eines „Quartetts“ französischer Generale der OAS gegen General Charles de Gaulle im April 1961 in Algier. Dieser mißlungene Coup, der sehr viel gefährlicher war als die Prigoschin-Affäre, hat die Stellung General de Gaulles als französischer Staatschef tatsächlich gefestigt.[8]
Die geschlossene Unterstützung durch die russischen Streitkräfte und die russische Bevölkerung hat die Stellung Putins zweifellos gestärkt. Westliche Spekulationen über einen geschwächten Putin sind genau das – Spekulationen.
Am 4./5. Juni 2023 hatte die lange angekündigte ukrainische Gegenoffensive in der Südostukraine begonnen mit Vorstößen ukrainischer Truppen im Raum Saporoschje in Richtung Süden mit dem Ziel Melitopol und Asowsches Meer. Das strategische Ziel war die Abschneidung der Halbinsel Krim von der Landbrücke zum Donbaß. Der Frontabschnitt wird von der russischen 58. Armee verteidigt.
Die angreifenden ukrainischen Truppen waren zum Teil mit westlichen Waffensystemen wie Kampfpanzern Leopard 2A4 und 2A6, Schützenpanzern Bradley M2 und französischen Radpanzern AMX-10 RC ausgerüstet. Die Ukrainer griffen praktisch ohne eigene Luftwaffe und mit schwacher Artillerieunterstützung an.
Die Russische Armee hat im Süden der Ukraine ein in mindestens drei Linien gestaffeltes Stellungssystem von etwa 30 km Tiefe geschaffen, hinter dem starke operative Reserven stehen. Vor der ersten der drei Verteidigungslinien, der „Hauptkampfline“ liegt die „Graue Zone“, die im Deutschen früher meist als „Vorfeld“ oder „Niemandsland“ bezeichnet wurde; die „Graue Zone“ besitzt eine Breite von etwa 30 km.
Die ukrainischen Truppen haben am Frontabschnitt Saporoschje/Orechow bisher in insgesamt vier Operationsachsen angegriffen, ohne in der russischen Verteidigung eine schwache Stelle gefunden zu haben. Mit anderen Worten, sie sind nicht über die „Graue Zone“ hinausgekommen und haben nicht einmal die russische Hauptkampflinie erreicht. Innerhalb der „Grauen Zone“ haben die Ukrainer mehrere verlassene kleine Ortschaften erobert und wieder verloren. Besonders heftig umkämpft war das Dorf Pjatychatky, das ins Deutsche übersetzt „fünf Häuser“ heißt. Die geringen territorialen Gewinne der Ukrainer wurden mit schweren, um nicht zu sagen verheerenden Verlusten erkauft.
Die Ukrainische Armee hat für die „Gegenoffensive“ insgesamt 12 Brigaden bereitgestellt, aber bisher noch nicht alle eingesetzt. Bei voller Auffüllung wären dies 60.000 Mann, der Auffüllungsstand dieser ukrainischen Verbände beträgt meist nur 50 Prozent, d.h. die Stärke der angreifenden Truppen liegt irgendwo zwischen 30.000 und 40.000 Mann. Die Ukraine besitzt darüber hinaus aber noch weitere Reserven.
Der russische Präsident Wladimir Putin antwortete am 21. Juni (also noch vor der Prigoschin-Affäre) auf die Frage eines Journalisten nach den Fortschritten in der „Besonderen Militärischen Operation“ angesichts der ukrainischen Gegenoffensive:
„Die ukrainischen Streitkräfte haben [die Gegenoffensive] am 4. Juni unter Einsatz ihrer strategischen Reserven eröffnet. Seltsamerweise ist es im Moment ein ‚langsames Brennen‘, weil der Feind schwere Personal- und Materialverluste erleidet. Seit letzter Nacht oder heute Morgen, um genau zu sein, haben unsere Soldaten 245 Panzer und etwa 678 gepanzerte Fahrzeuge unterschiedlicher Typen abgeschossen, nicht zu reden von den Personalverlusten des Feindes, die erheblich sind. Offenbar ist der Feind damit beschäftigt, aus Brigaden, die schwere Verluste erlitten haben, neue Divisionen aufzustellen, und seine Kampffähigkeit wiederherzustellen …
Aber heute sehen wir, daß dieses Offensivpotential noch nicht erschöpft ist. Der Feind hat noch Reserven und denkt darüber nach, wie und wo er sie am besten einsetzt. Ich habe es bereits gesagt, aber ich wiederhole es: Dank des Mutes und des Heroismus unserer Truppen und der Bereitschaft unserer Kommandeure, jedes aggressives Vorgehen gegen Rußland abzuwehren, glaube ich, daß der Feind keine Chance hat.“[9]
Das Interview fand während einer Tagung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation statt, die zum Teil im Fernsehen übertragen wurde. Zunächst befragte Putin seinen Verteidigungsminister Schoigu nach der militärischen Situation, worauf dieser erwiderte:
„Vielen Dank, Herr Präsident. Mit Stand von heute stellt sich die Situation wie folgt dar. Nach fast 16 Tagen aktiver Kampfhandlungen erlitt der Gegner schwere Verluste und ist nicht mehr so aggressiv wie früher. Im Augenblick gruppiert er sich neu und füllt seine dezimierten Einheiten wieder auf. Kräfte für eine spätere Offensive werden aus verschiedenen Einheiten und Bataillonen zusammengezogen. Dies ist die Lage der Dinge in einem Sektor. In anderen Sektoren hat der Gegner natürlich immer noch Kräfte für weitere Offensivoperationen, trotz beträchtlicher Personal- und Materialverluste.“[10]
Anschließend berichtete der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew über die ukrainische Verluste:
„Mit dem Stand von heute liegen uns folgende Statistiken vor: Vom 4. bis 21. Juni haben wir 246 Kampfpanzer zerstört, darunter 13 westliche, weiter 595 gepanzerte Fahrzeuge und Panzerwagen. Von dieser Zahl, haben wir 152 Schützenpanzer zerstört, darunter 59 westliche Modelle sowie 443 andere gepanzerte Fahrzeuge. Wir haben 279 Feldartilleriesysteme und Mörser zerstört, darunter 48 westliche Systeme. Wir haben weiterhin vernichtet 42 Mehrfachraketenwerfer, davon zwei Luftabwehr-Raketensysteme, zehn taktische Jagdflugzeuge, vier Hubschrauber, 264 Drohnen und 424 Kraftfahrzeuge.“[11]
Die Zahl der an allen Fronten getöteten Ukrainer gibt Patruschew mit 13.000 an. Die genannten Zahlen sollen aus abgehörten ukrainischen Funksprüchen stammen. Generell ist zu sagen, daß die Angaben des Russischen Verteidigungsministeriums in diesem Konflikt sich im Nachhinein meist als zuverlässig erwiesen haben.
Dann richtete Putin an seinen Verteidigungsminister die Frage:
„Herr Shoigu, wir wissen, daß der Feind zusätzliches westliches Kriegsmaterial erhalten wird. Was denkt das Verteidigungsministerium über bestehende Bedrohungen in diesem Zusammenhang?“
Darauf entgegnete Schoigu:
„Bezüglich aktueller und geplanter Lieferungen von militärischer Ausrüstung ist für das Jahr 2023 die Lieferung von 250 Panzern geplant, darunter etwa 120 Leopard- und 31 Abrams-Panzer. Es gibt außerdem 95 T-72-Panzer, die sie überall in der Welt zusammengekratzt haben. Das wissen wir über die geplanten Lieferungen. Es ist geplant, im gesamten Jahr 2023 983 gepanzerte Fahrzeuge auszuliefern. Insgesamt 822 Fahrzeuge, der Großteil der Lieferung, einschließlich 740 West-Modelle, soll im Laufe des dritten und vierten Quartal dieses Jahres eintreffen. Tatsächlich können wir sehen, daß alle Arsenale der ehemaligen Sowjetunion und der Länder des ehemaligen sozialistischen Blocks nun praktisch erschöpft sind. Das Gleiche können wir über die ukrainischen Ressourcen sagen. Beabsichtigt ist die Lieferung von 273 155-mm-Artilleriesystemen im gesamten Jahr 2023. Das ist mehr als doppelt so viel wie bisher geliefert wurde.“[12]
Die Zahlen klingen eindrucksvoll, aber Shoigu weist darauf hin, daß das noch vorhandene ukrainische Material großenteils veraltet ist:
„Im Zusammenhang mit den von Herrn Patruschew aufgeführten Verlusten und unter Berücksichtigung früherer Entwicklungen stellen wir fest, daß die Menge der Waffen, die im Laufe des Jahres 2023 ausgeliefert werden sollen und die bereits geliefert worden sind, keinen ernsthaften Einfluß auf den Verlauf der Kampfhandlungen haben werden. Darüber hinaus gehören die meisten Kampfpanzer und gepanzerten Fahrzeuge zur vorherigen Generation oder sogar der Generation davor. Ihre Panzerung ist im Vergleich zu modernen Fahrzeugen schwach und unwirksam. Herr Präsident, wir erkennen hier keine Bedrohung, zumal wir aktiv Reservematerial und militärisches Personal zusammenziehen.“ Auch sind die Verluste unter den westlichen Waffensystemen beträchtlich, wozu Schoigu ausführt: „Von 81 westlichen Kampfpanzern wurden 13 zerstört. Von den Schützenpanzern wurden 59 westliche zerstört. Bisher haben westliche Länder der Ukraine etwa 109 Bradley M2 Schützenpanzer geliefert, von denen 18 zerstört wurden. Was die Feldartilleriesysteme betrifft, so schätze ich, daß von 48 vernichteten Geschützen etwa 30 Prozent westlichen Ursprungs waren.“[13]
Gleichzeitig erweitert Rußland seine Streitkräfte und stellt neue militärische Verbände auf. Laut Shoigu haben die Russischen Streitkräfte bereits 3.786 Stück schwerer Waffen und Gerät erhalten und erhalten derzeit täglich 112 weitere Einheiten. Damit sind wohl Geschütze, Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge aller Art gemeint. Dieses Kriegsmaterial ist zum Teil nicht neu, sondern darunter befinden sich auch generalüberholte und modernisierte Waffensysteme aus Depotbeständen. Schoigu gab weiterhin bekannt, daß das Verteidigungsministerium seit Jahresbeginn 114.000 Kontraktsoldaten und 52.000 Freiwillige angeworben habe, letztere benötigten zunächst aber eine intensive Ausbildung. Bis Ende Juni würden zwei Panzerarmeen und ein Armeekorps neu aufgestellt. Putin bemerkte abschließend:
„Daraus können wir schließen, daß sie [die NATO-Staaten] mit Sicherheit weiteres Material schicken werden, aber die Reserven, die sie mobilisieren können, sind nicht unbegrenzt. Und die westlichen Verbündeten der Ukraine scheinen wirklich entschlossen zu sein, gegen Rußland bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen. Gleichzeitig müssen wir von der Tatsache ausgehen, daß das Offensiv-Potential des Gegners noch nicht erschöpft ist; sie können strategische Reserven besitzen, die bisher noch nicht eingesetzt worden sind, und ich bitte dies, im Gedächtnis zu behalten, wenn Sie militärische Strategien entwickeln. Man muß von der Realität ausgehen.“[14]
Selbst nach den höchsten westlichen Schätzungen („Pentagon-Leaks“) besitzt die Ukraine insgesamt noch 600 bis 800 Kampfpanzer. Wenn Putins Zahlen auch nur annähernd stimmen, bedeutet dies, daß die Offensive die Ukraine 30–45 Prozent ihrer verbliebenen Kampfpanzer gekostet hat, was sie in eine mehr als bedenkliche Lage bringt. Bei vielen der verbliebenen Panzer handelt es sich um ältere Modelle mit 100-mm- oder 115-mm-Kanonen wie T-55 und T-62, oder nicht modernisierte T-64 mit 125 mm-Kanonen, die den modernen russischen Kampfpanzern erheblich unterlegen sind.[15]
Die wirksamsten Waffen gegen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind den vorliegenden Berichten nach russische Kampfhubschrauber, insbesondere die Kamow Ka-52 „Alligator“, außerdem Panzervernichtungstrupps der Infanterie mit der Panzerabwehrlenkwaffe „Kornet“ und nicht zuletzt die Artillerie.
Verluste – insbesondere Menschenverluste – in dieser Höhe können die Ukrainer nicht mehr lange durchhalten, vor allem nicht da die russischen Personalverluste nach Angaben Präsident Putins nur ein Zehntel der ukrainischen betragen.[16] Offenbar haben die Ukrainer inzwischen ihr Angriffstempo stark verringert, gleichzeitig liegen Berichte vor, denen zufolge die Russische Armee an der Nordfront bei Kupjansk eine Gegenoffensive eröffnet hat.[17]
Zu den Ursachen für das Desaster der ukrainischen Gegenoffensive zählt u.a. die Tatsache, daß die die Operationen inzwischen direkt vom NATO-Hauptquartier geleitet werden. Die russische Nachrichtenagentur RIA-Novosti brachte dazu folgende Meldung:
„Nach Ansicht westlicher Experten ist einer der Hauptgründe für die Katastrophe des ‚Gegenangriffs‘ der rasche Verfall der obersten militärischen Führung der Ukraine, die sich während der Zeit der NMD von einem System der echten Kampfkontrolle und -planung tatsächlich in ein Backoffice des NATO-Hauptquartiers verwandelt hat. Beobachter stellen einen völligen Mangel an Initiative und völlige Abhängigkeit von Befehlen des NATO-Hauptquartiers fest, in dessen Ergebnis die Streitkräfte der Ukraine gezeigt haben, daß sie angesichts der aktiven Feueropposition der Russischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, erfolgreich groß angelegte Offensivoperationen mit verschiedenen Waffengattungen durchzuführen.“[18]
Die ukrainische Gegenoffensive war zuvor mit einem Computer-Simulationssystem der NATO namens KORA durchgespielt worden, und nach den Ergebnissen dieses Spiels sollen für die Ukrainer gute Erfolgsaussichten bestanden haben. Das Problem war, daß in den Computer zur russischen Seite falsche Daten eingegeben worden waren. Die Offiziere der Ukraine und der NATO gingen davon aus, daß die Russische Armee demoralisiert, desorganisiert, schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet sei – was so ziemlich das genaue Gegenteil der Realität darstellt. Es handelt sich offensichtlich um einen Fall von Projektion: Die Mängel, die man auf der russischen Seite vermutet, sind bei den Ukrainern reichlich vorhanden. Die beste Computersimulation ist nutzlos, wenn sie mit falschen Daten gefüttert wird.[19]
Am 30. Mai, also noch vor Beginn der ukrainischen Gegenoffensive, machte Putin erstmals eine Andeutung, daß die Ukraine nach der Beendigung des Krieges nicht mehr existieren könnte:
„Grundsätzlich wurde das Gebiet, das man Ukraine nennt von Anfang an praktisch von Menschen kontrolliert, die unter der Führung des Westens nicht nur den Weg der Konfrontation mit Rußland, sondern vielmehr der Schaffung eines ‚Anti-Rußlands‘ auf diesem Territorium eingeschlagen haben.“ Putin spricht hier auffallenderweise vom „Gebiet, das man Ukraine nennt“, nicht vom ukrainischen Staat; er fährt fort: „Wir führen mit Präzisionswaffen großer Reichweite Schläge gegen das Territorium der Ukraine, aber nur gegen Einrichtungen der militärische Infrastruktur, gegen Munitions- oder Treibstoff- und Schmierstofflager, die für Kampfhandlungen genutzt werden. Wir haben über die Möglichkeit gesprochen, Entscheidungszentralen anzugreifen. Natürlich ist das Hauptquartier des ukrainischen Militärgeheimdienstes eines davon, und ein Angriff auf dieses Ziel wurde vor zwei oder drei Tagen durchgeführt. Als Reaktion darauf hat das Kiewer Regime einen anderen Weg eingeschlagen – es versucht, russische Bürger durch Angriffe auf Wohngebäude einzuschüchtern. Das ist ein offensichtlicher terroristischer Ansatz.“[20]
Mit anderen Worten, die „Besondere Militärische Operation“ richtet sich mittlerweile nicht mehr gegen einen Staat, sondern gegen ein Territorium, das von Terroristen kontrolliert wird. Offenbar glaubt man im Kreml nicht mehr an eine Verhandlungslösung. Darauf deutet auch eine Bemerkung hin, die Außenminister Sergej Lawrow am 20. Juni auf einer Pressekonferenz in Minsk machte:
„Wenn [NATO-Generalsekretär] Herr Stoltenberg noch einmal im Namen der NATO sagt, daß sie gegen ein Einfrieren des Konflikts in der Ukraine sind, bedeutet dies, daß sie kämpfen wollen. Also laßt sie kämpfen. Wir sind dazu bereit. Wir haben die wahren Ziele der NATO in der Ukraine schon vor einiger Zeit erkannt, als ihre Pläne in den Jahren nach dem Putsch [2014 in Kiew] Gestalt annahmen. Heute versucht die NATO, sie umzusetzen … Das ist ihre Wahl. Sie mögen behaupten, daß sie keinen Krieg gegen Rußland führen, aber tatsächlich tun sie genau das, wenn man bedenkt, daß die Ukraine-Krise schon vor langer Zeit hätte entschärft werden können, wenn sie nicht dem ukrainischen Regime Waffen, Geheimdienstinformationen sowie Satelliten- und Zieldaten zur Verfügung gestellt hätten. Tatsächlich ist dies ein Eingeständnis, daß sie direkt an dem hybriden und heißen Krieg gegen Rußland beteiligt sind.“[21]
Der Kreml ist offenbar zu dem Ergebnis gekommen, daß es zu einer militärischen Lösung keine wirkliche Alternative gibt.
Anmerkungen:
[1] Special Report: Emergency Situation as Prigozhin Goes Nuclear Option; Simplicius the Thinker 24.6.2023; https://simplicius76.substack.com/p/special-report-emergency-situation?utm_source=profile&utm_medium=reader2
[2] Address to citizens of Russia; The Kremlin 24.6.2023; http://en.kremlin.ru/events/president/news/71496
Deutsche Übersetzung: Putins Rede an die Nation: „Das ist Verrat“, Anti-Spiegel 24.6.2023;
https://www.anti-spiegel.ru/2023/putins-rede-an-die-nation-das-ist-verrat/
[3] Prigozhin ‚Exiled‘ To Belarus In Exchange For Peace, Criminal Charges Dropped: What Was This All About? Zerohedge 24.6.2023; https://www.zerohedge.com/geopolitical/putin-blasts-wagner-treason-betrayal-clashes-erupt-southern-russia
[4] Ebenda
[5] Ebenda
[6] Was Prigozhin’s Mutiny a Western Intelligence Op Derailed by Russia’s Spies? Larry Johnson 26.6.2023; https://sonar21.com/was-prigozhins-mutiny-a-western-intelligence-op-derailed-by-russias-spies/
[7] FSB spooked the CIA on Prigozhin coup; M. K. BHADRAKUMAR 26.6.2023; https://www.indianpunchline.com/fsb-spooked-the-cia-on-prigozhin-coup/
[8] Putin Talks Erdogan re Prigozhin; Reassures China; Ukr Standstill; US Calls Xi Jinping Dictator;
Alexander Mercouris 27.6.2023; https://www.bitchute.com/video/sKTk79Lol7w/
[9] Answer to a journalist’s question about the current situation at the front, The Kremlin, Moscow 21.6.2023; http://en.kremlin.ru/events/president/news/71474
[10] Meeting with permanent members of the Security Council • President of Russia; The Kremlin, Moscow 22.6.2023; http://en.kremlin.ru/events/president/news/71482
[11] Ebenda
[12] Ebenda
[13] Ebenda
[14] Ebenda
[15] SITREP 6/21/23: Russia Re-Orients to Kupyansk in Surprise Advance;
Simplicius the Thinker 22.6.2023
[16] Meeting with war correspondent. The President met with war correspondents at the Kremlin; The Kremlin 13.6.2023; http://en.kremlin.ru/events/president/news/71391.
[17] SITREP 6/21/23: Russia Re-Orients to Kupyansk in Surprise Advance;
Simplicius the Thinker 22.6.2023
[18] Шансов нет: Западу и Киеву не поможет уже ничего; RIA Novosti 22.6.2023;
https://ria.ru/20230622/shansy-1879829841.html
[19] The Ukrainian Counter-Offensive Had No Chance. NATO Failed To Explain That.
Moon of Alabama 23.6.2023; https://www.moonofalabama.org/2023/06/the-ukrainian-counter-offensive-had-no-chance-nato-failed-to-explain-that.html#more
[20] LOSING THE WAR — WHAT COMES NEXT ON THE BATTLEFIELD, AND THE POLITICAL CONSEQUENCES; John Helmer, Dances with Bears 10.6.2023; https://johnhelmer.net/losing-the-war-what-comes-next-on-the-battlefield-and-the-political-consequences/#more-88116
[21] Foreign Minister Sergey Lavrov’s remarks and answers to media questions following the CSTO Council of Foreign Ministers meeting, Minsk, June 20, 2023; The Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation 20.6.2023; https://mid.ru/en/foreign_policy/news/1889753/