„Der Verfassungsschutz, das Stasi-Gift und der scharlachrote Buchstabe“

Der folgende Artikel erschien in der Jungen Freiheit Nr. 27/2023.

Den dunklen Zauber aufhellen

Lächerliche Praxis: Der Verfassungsschutz, das Stasi-Gift und der scharlachrote Buchstabe

von Thorsten Hinz

Wo eine Arkan-Institution, also eine geheime, verschlossene, unzugängliche Einrichtung, die rechtliche Kompetenz und die Macht besitzt, über die Zulässigkeit von Argumenten und Meinungen zu entscheiden, und zudem selber so gut wie unangreifbar ist, kann von freier Diskussion und Meinungsbildung keine Rede sein. Ein öffentlicher Diskurs, der im Ergebnis das bessere Argument gelten läßt, setzt die formelle Gleichheit der Diskutanten und ihre Freiheit von Furcht voraus. Das Agieren des Verfassungsschutzes (VS) setzt beides außer Kraft. Er erhebt Anspruch auf eine objektive Vernunft und höhere Einsicht und leitet daraus das Recht ab, sanktionierend einzugreifen.

Die Kinder der Aufklärung wissen jedoch, wie lächerlich dieser Anspruch ist und daß die vermeintlich höheren Einsichten bloß Ausdruck von Machtinteressen sind. Der VS wirkt als Zensurbehörde neofeudalen und neoklerikalen Zuschnitts. Er ist Schild und Schwert der Regierenden, ihr Repressions- und Kampforgan. Er soll aus dem Weg räumen, was ihnen hinderlich erscheint. Wen der geheimdienstliche Bannstrahl trifft, entscheidet sich an der Intensität der Opposition. Die Etikettierungen „Verdachtsfall“ oder „gesichert rechtsextrem“ sind unsinnig und willkürlich, aber um Argumente und belastbare Begründungen geht es überhaupt nicht. Wenn „zwei mal zwei gleich fünf“ zum staatspolitischen Dogma erhoben wird, wird das Beharren auf „zwei mal zwei gleich vier“ zur verfassungsfeindlichen Provokation.

Der Arkan-Verein ist ein Überbleibsel der alten Bundesrepublik. Zur Zeit der deutschen Teilung hatte er eine gewisse Berechtigung, denn der Kalte Ost-West-Krieg war zugleich ein innerdeutscher Bürgerkrieg. In der Bundesrepublik existierte eine kleine, agile „Partei der DDR“ (Ernst Nolte), gegen die man sich absichern mußte, damit, zum Beispiel, ihre Agenten und Schläfer im Ernstfall keinen Zugriff auf die kritische Infrastruktur besaßen. Mit der Wiedervereinigung hatte das Problem sich erledigt. Was bis dahin ein zwischenstaatlicher Bürgerkrieg gewesen war, gehörte jetzt zur normalen innenpolitischen Auseinandersetzung wie in anderen westlichen Staaten auch. Der VS hatte seinen Zweck erfüllt und hätte aufgelöst werden müssen.

Doch Institutionen verfügen über ein enormes Beharrungsvermögen, das über ihren ursprünglichen Daseinszweck hinausreicht. Nun hätte es nach dem Beitritt der DDR zumindest nahegelegen, daß der VS die versprengten Überreste der unterlegenen  Bürgerkriegspartei im Auge behält. Stattdessen übernahm er sukzessive deren Perspektive, in der die Bundesrepublik stets in der Gefahr stand, in die extreme Rechtslastigkeit und den Faschismus abzukippen. Er richtet seinen Furor „gegen Rechts“ und einen in Endlosschleifen generierten Nazi-Popanz. Dabei arbeitet der VS so effektiv, daß SED-Erben und Stasi-Verharmloser heute zu seinen überzeugten Anhängern gehören.

Die Extremismus-Merkmale, die er aufführt, entsprechen dem Niveau sogenannter Gummiparagraphen: Rassismus, Demokratiefeindlichkeit, Haß, Hetze usw. usf. Auffällig sind die Doppelstandards in der Anwendung. Wenn sogenannte Klima-Aktivisten erklären, für Demokratie sei keine Zeit mehr, oder linke NGOs über „Weißbrote“ und deren Abschaffung philosophieren, oder Straßen-Kleber über die Inkaufnahme von Toten bei ihren Aktionen räsonieren und sich über Recht und Gesetz hinwegsetzen, wird das in der Regel als idealistischer Überschwang verbucht. Die Bezeichnung der Polizei als „Rollkommando“, die jüngst dem grünen Wirtschaftsminister entschlüpfte, wäre einem AfD-Funktionär als Delegitimierung des Staates vermerkt worden und hätte möglicherweise zu einer Hausdurchsuchung geführt.

Die VS-Praxis mag lächerlich sein, aber zum Lachen ist sie nicht. Ein Eintrag im Verfassungsschutzbericht wirkt als Stigma, vergleichbar dem scharlachroten Buchstaben im gleichnamigen Roman von Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1850, der vom puritanischen Fanatismus, vom öffentlichen Pranger, von sozialer Ausgrenzung und Psychofolter erzählt. Der Buchstabe ist ein „A“ als Abkürzung für „adulteresse“ (Ehebrecherin). Er umgibt seine Trägerin Hester „mit dem gräßlichen Schein des Schreckens und der grausamen Abscheu“. Er wird von der Gemeinde als Aufforderung verstanden, die Delinquentin aus dem öffentlichen und sozialen Leben auszusondern.

Die traditionelle Autoritätshörigkeit der Deutschen hält den Mechanismus bis heute lebendig. Der Arkan-Charakter der Behörde, der ihr etwas Bedrohliches und Unheimliches verleiht, tut ein Übriges. Und schließlich gibt es kein edleres Anliegen als den Schutz unseres Grundgesetzes und der durch sie verbürgten Demokratie, den sie sich auf die Fahnen geschrieben hat. So kommt der biedere Bundesbürger zu dem Schluß, daß das Verdikt seine Richtigkeit hat und es besser ist, sich von den Schmuddelkindern, die mit symbolischem „V“ des Verfassungsfeindes gebrandmarkt sind, fernzuhalten.

Der dunkle Zauber könnte gebrochen, wenigstens aber relativiert werden durch die Herstellung von Öffentlichkeit.  Die Dunkelmänner, die die stigmatisierenden Berichte und Einschätzungen verfassen, müßten verpflichtet werden, ihre Qualifikationen, politischen Betätigungen und geistigen Voraussetzungen offenzulegen und sich der Diskussion zu stellen. An welchen Universitäten, bei welchen Professoren haben sie studiert und den Geist aufgesogen, der nun aus ihren Gutachten spricht? Viele sogenannte Extremismusexperten sind lediglich politische Aktivisten mit akademischem Alibi. Thomas Mann schrieb: „Wo der Hochmut des Intellektes sich mit seelischer Altertümlichkeit und Gebundenheit gattet, da ist der Teufel.“ Das bezog sich auf Adrian Leverkühn, den genialischen Musiker aus dem  „Faustus“-Roman. Von Genialität kann bei den VS-Autoren natürlich keine Rede sein. Ihre Suggestionen zeugen allenfalls von Mittelmaß. Ihre Altertümlichkeit der Seele aber äußert sich als ideologisch aufgeladenes Sendungsbewußtsein, ihre „Gebundenheit“ als subalterne Einbindung in die administrative Macht, die ihnen die Zielvorgaben weist.

In E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Meister Floh“ gibt es den Rat Knarrpanti, der nach dem Motto handelt: Hat man erst einmal den Verbrecher namhaft gemacht, wird sich ein Verbrechen, das er begangen hat, schon finden lassen. Hans Joachim Schädlichs Roman „Tallhover“ handelt vom ewigen Spitzel, der von Metternich bis in die Gegenwart eine geistige und charakterliche Konstanz aufweist. Heinrich Manns „Untertan“ wartet darauf, daß sein Widerpart endlich „das Wort“ sagt, bei dem er ihn „packen“ kann, um ihn der Gerichtsbarkeit zu übergeben.

Da wir in einem Rechtsstaat leben, kann man den Klageweg beschreiten, der aber Jahre dauert. Inzwischen wirken das Stigma und der soziale Druck weiter, der auch die Familienmitglieder nicht schont. Nachbarn, Arbeitskollegen, die Lehrer und Mitschüler der Kinder, Journalisten, öffentlich-rechtliche Kabarettisten, staatsnahe Künstlerkollektive, Pfarrer usw. fühlen sich animiert, den staatlichen durch zivilgesellschaftlichen Druck zu ergänzen. Selbst wenn die Gerichte gegen den Verfassungsschutz entscheiden, liegen der Schaden und der zerstörte Ruf beim Kläger, der Energie, Geld, Zeit, Nerven investiert hat und dessen Existenz ruiniert ist. Das Gefühl der Ohnmacht, der Bedrohung und Verunsicherung bleibt. Die Wirkung ist durchaus mit der des Stasi-Gifts vergleichbar. „Die inneren Organe greifen in die inneren Organe“, schrieb einst Volker Braun über die Folgen.

Die Giftrezeptur ist als Richtlinie 1/76 der Staatssicherheit der DDR („Maßnahmen zur Verunsicherung der Vorgangsperson“) im Internet abrufbar. Die Richtlinie beschäftigt sich mit Menschen, die „feindliche oder negative Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ aufweisen und die „vom gesellschaftsgemäßen Verhalten bzw. von allgemein üblichen gesellschaftlichen oder individuellen Verhaltensweisen oder Gewohnheiten“ abweichen.

Empfohlen werden unter anderem die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; − systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; − zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive“ usw.

Der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley wird ein schon klassisch gewordenens Zitat zugeschrieben: „Alle diese Untersuchungen, die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“

Das ist eine Steilvorlage für eine freie Presse – wenn es sie denn gäbe. Stattdessen machte sich, nachdem der VS das Institut für Staatspolitik, die Initiative „Ein Prozent“ und die AfD-Jugend als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft hatte, in der FAZ ungetrübte Freude breit. Unter der Schlagzeile „Die Demokratie wehrt sich“ war zu lesen: „Daß der Bundesverfassungsschutz nun die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative (JA) und zwei weitere Vereinigungen der Neuen Rechten als ‘gesichert rechtsextremistische Bestrebungen’ einstuft, ist (…) ein starkes Signal, daß sich der demokratische Rechtsstaat gegen seine Feinde zur Wehr setzt und deren Treiben nicht tatenlos zuschaut.“ Der Autor zeigte sich befriedigt, daß „der Verfassungsschutz nun alle nachrichtendienstlichen Möglichkeiten ausschöpfen (kann), um deren Aktivitäten zu überwachen.“

Immerhin löste der Kommentar in der Leserschaft einen scharfen Gegenwind aus. Nicht Demokratie und Rechtsstaat, sondern das herrschende Parteienkartell würde geschützt, lautete der mehrheitliche Tenor.

In anderen Zeitungen waren die Leserkommentare fast durchweg zustimmend. Ein paar Beispiele: „Dickes Lob an den Verfassungsschutz und vor allem an seinen Chef, Thomas Haldewang. Super!“ – „Die Antwort auf die wichtigste Frage steht leider noch aus: Wann werden diese Organisationen verboten?“ – „Ich bin dafür, den Rechtsradikalen die Staatsbürgerschaft zu entziehen und die Tür zu zeigen.“

Ein besonders wackerer Demokrat und Rechtsstaatler meinte, man sollte Leute, „die sich erklärtermaßen gegen die Verfassung stellen, ebenfalls vorsorglich einbuchten“. Ein anderer: „Das sind Subjekte, die unserem demokratischen Deutschland und den meisten von uns das Licht ausknipsen wollen.“ Ein weiterer schrieb den Bedenkenträgern ins Stammbuch: „Es ist schon ein Unterschied, ob man mit der Schnüffelei eine Diktatur oder eine Demokratie schützt.“

Diese Töne sind allzu vertraut. In der DDR war der Schriftsteller Reiner Kunze in den 1970er Jahren wegen regierungskritischer Publikationen ins Visier der „inneren Organe“ geraten. Unter dem Titel „Deckname Lyrik“ hat Kunze Teile seiner Stasi-Akte publiziert. Ein Höhepunkt ist die Schilderung eines Treffens von Stasi-Mitarbeitern mit einem Wohnungsnachbarn Kunzes, der als GMS („Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“) registriert war. Es ging darum, effizientere Überwachungsmöglichkeiten zu erkunden. Der GMS schlug vor, ein Loch für eine Abhöranlage in die Wand zu bohren. Er sei im Haus als Heimwerker bekannt, das bißchen Bohren und Hämmern würde gar nicht auffallen. Nur hätte er Bedenken, weil die Anlage ja auch die eigene Privatheit tangieren würde. Die Genossen beruhigten ihn, hier stehe „Vertrauen gegen Vertrauen“. Niemand wolle seine Intimsphäre stören.

Nun aber machte die Ehefrau Schwierigkeiten. Sie verurteile zwar die Aktivitäten des Autors, doch habe sie das Ehepaar Kunze immer hochgeschätzt und geniere sich, sie zu „bespitzeln“. Die Genossen erklärten ihr, daß die Abwehr von Angriffen gegen unsere „humanistische Gesellschaftsordnung“ doch nichts mit der im Kapitalismus geübten Bespitzelung fortschrittlicher Kräfte zu tun habe. Der Ehemann sprach ein Machtwort: „Mutti, wir dürfen uns an dem, was der Kunze tut, nicht mitschuldig machen. Er ist kein Mensch unserer Gesellschaft, bei dem dürfen wir keine Skrupel haben.“ Ersichtlich haben der real existierende Sozialismus der DDR und die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ganz ähnliche Überzeugungen und Verhaltensweisen hervorgebracht.

Im „Scharlachroten Buchstaben“ hat Hester das rote A mit einer kunstvollen Stickerei verziert und zu ihrem Ehrenzeichen gemacht. Allmählich gewinnt sie die Anerkennung der Gemeinschaft zurück. Der heimliche Kindsvater aber bricht unter der seelischen Belastung zusammen und stirbt. Der Diabolo, der sie terrorisiert hat – ein „schattenhaftes Wesen“, das „es sich zum Lebensgrundsatz gemacht (hatte), nur aus der systematischen Verfolgung und systematischen Ausführung der Rache zu bestehen – verdorrte förmlich, „als es für ihn kein Teufelswerk mehr auf Erden zu tun gab“ und schrumpfte dahin „wie ein ausgerupftes Unkraut, das welkend in der Sonne liegt“.

Am Ende waltet hier, aller Düsternis zum Trotz, eine höhere Wahrheit und Gerechtigkeit. Doch die gibt es nur in der Literatur. In der Wirklichkeit helfen bloß kluges Taktieren und das zähe Widerstehen.

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