Warum das Grundgesetz unsere Verfassung ist

von Rechtsanwalt Rainer Thesen
Zu den nicht totzukriegenden populären Irrtümern gehört jedenfalls in sich besonders patriotisch gebärdenen Kreisen die Überzeugung, das Grundgesetz sei keine Verfassung, demgemäß hätten wir auch keine, und folglich existiere die Bundesrepublik Deutschland als Staat überhaupt nicht, vielmehr bestehe von Rechts wegen das Deutsche Reich von 1871, wahlweise auch von 1919, weiter fort. Wer sich zu den sogenannten Reichsbürgern zählt, erkennt in der Konsequenz dieser Auffassung die staatliche Ordnung unseres Landes nicht an, hält dann auch das Ganze für eine im Prvatrecht angesiedelte GmbH und dergleichen mehr. Wohl nur nolens volens zahlt er dann trotzdem Steuern, hält die Regeln der Straßenverkehrsordnung ein und nimmt die Dienste von Ämtern in Anspruch.

Wir wollen also einmal prüfen, was es mit diesen Theorien eigentlich auf sich hat und einen Blick in die Verfassungsgeschichte werfen.

Vorbemerkung

Unter den Verfechtern dieser Überzeugung finden sich keine Juristen. Das ist zunächst einmal erstaunlich. Indessen gibt es wohl keine andere akademische Disziplin, nicht einmal außerakademische Fachgebiete, wo Hinz und Kunz meinen, es besser zu wissen, als die studierten und praktizierenden Juristen. Zwar käme niemand auf den Gedanken, einen anderen Menschen am Herzen zu operieren, ohne zuvor Medizin studiert und Facharzt für Chirurgie geworden zu sein, es käme auch niemand auf den Gedanken, eine Autobahnbrücke zu konstruieren, ohne zuvor ein Ingenieurstudium absolviert und vertiefte Kenntnisse der Statik erlangt zu haben. Auch würde niemand etwa einen Steuerberater mit der Entwicklung eines Arzneimittels betrauen, zumindest das auf diesem Wege entstandener Arzneimittel tunlichst nicht einnehmen. Der Gedanke, daß ein juristischer Laie ein Rechtsproblem lösen kann, oder sogar die Königsdisziplin der Jurisprudenz, das Verfassungsrecht, beherrscht, sollte damit eigentlich hinreichend ad absurdum geführt worden sein. Indessen zeigt mir als Rechtsanwalt das praktische Leben oft genug, daß juristische Laien glauben, die Rechtslage selbst einschätzen zu können. Und die Existenz kruder Theorien über die Existenz oder Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassung zeigt schlagend, daß offenbar jedermann, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, meint, mit Rechtstexten umgehen zu können. Dabei sollte doch klar sein, daß das wörtliche Verständnis von Texten über das Verständnis der inhaltlichen Bedeutung nichts aussagen muß. Wer etwa einen medizinischen Befund trotz der vielfach verwendeten lateinischen Fachausdrücke zu entziffern vermag, hat damit noch lange nicht verstanden, was der Verfasser damit festgestellt hat. Nur ein Gesetzestext oder gar ein Verfassungsgerichtsurteil scheint indessen ohne die Hilfe von Fachleuten für juristische Laien sonnenklar zu sein.

Wer also wirklich wissen will, was es mit dem Grundgesetz und der Bundesrepublik Deutschland auf sich hat, der kann sich nun kundig machen und weiterlesen. Wer indessen sich in seiner Fantasiewelt des Deutschen Reiches ganz eigener Art wohlig eingerichtet hat, der mag dort bleiben.

Die Paulskirchenverfassung vom 28.3.1848

Als Mutter aller nachfolgenden deutschen Verfassungen gilt die sogenannte Paulskirchenverfassung. Sie wurde von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossen. Es handelte sich dabei um gewählte Abgeordnete aus den Einzelstaaten des damaligen Deutschen Bundes. Dieser war auf dem Wiener Kongress nach der Niederlage Napoleons und Befreiung der unterworfenen Staaten entstanden. Rechtliche Grundlage war die sogenannte Bundesakte vom 8.6.1815. Sie war nicht etwa von einer Nationalversammlung beschlossen worden, sondern es handelte sich um einen völkerrechtlichen Vertrag der deutschen Einzelstaaten mit Billigung der übrigen europäischen Länder. Die starken Bestrebungen im gesamten deutschen Sprachraum, endlich zu einer nationalen Einigung und damit einem Staat aller Deutschen zu kommen, waren begleitet von dem ebenso starken Streben nach einem demokratischen Staatswesen, mindestens aber einer Zurückdrängung der Monarchie, weswegen es ja dann auch zur konstitutionellen Monarchie kam. Zwar war die Verfassung von 1848 populär und auch in den kleineren Staaten akzeptiert, die großen Bundesstaaten wie Preußen und Österreich wollten davon aber nichts wissen. Somit blieb die Paulskirchenverfassung ein achtbarer Versuch, wurde jedoch nicht zur Verfassung eines deutschen Staates, den es ja auch noch gar nicht gab. Ihre Grundzüge indessen finden sich in den nachfolgenden Verfassungen bis in unser Grundgesetz hinein.

Die Verfassung des deutschen Kaiserreichs

Nach dem Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71, den man auch als den letzten der Einigungskriege bezeichnen kann, proklamierten die versammelten Fürsten des Deutschen Bundes mit Ausnahme von Österreich den König von Preußen am 18.1.1871 zum deutschen Kaiser. Damit war die deutsche Einigung vollendet, wenn auch nur mit der sogenannten kleindeutschen Lösung unter Ausschluss Österreichs. Was noch fehlte, war eine Verfassung für den neuen Staat. Zunächst wurde am 3.3.1871 die erste gesamtdeutsche Wahl zum Reichstag durchgeführt. Am 14.4.1871 verabschiedete der Reichstag dann eine Verfassung, die in weiten Bereichen auf der Paulskirchenverfassung aufbaute. Indessen fehlte ein Grundrechtsteil, wie er noch in der preußischen Verfassung von 1850 enthalten war. Zweifellos muß man diese Verfassung als demokratisch zustandegekommen ansehen, auch wenn sie inhaltlich weitgehend von den staatsrechtlichen Vorstellungen Bismarcks geprägt war. Denn der Reichstag war, jedenfalls nach damaligen Vorstellungen, durch allgemeine und freie Wahlen zustande gekommen. Zwar konnten Frauen noch nicht wählen, und in Preußen galt sogar noch das Dreiklassenwahlrecht mit unterschiedlicher Gewichtung je nach Einkommen und Vermögen. Im internationalen Vergleich, auch mit als Mutterländern der Demokratie angesehenen Staaten wie Frankreich, Großbritannien und den USA, kann man darin keine wesentlichen demokratischen Defizite sehen, vielmehr entsprach das damals noch dem Zeitgeist. Großbritannien führte das Wahlrecht für Frauen erst 1918 ein, die USA 1920 und Frankreich erst 1944. Schwarze, oder wie das heute politisch korrekt heißt, People of Colour, können in den USA erst seit 1965 wählen. Und auch die in unseren Augen je nach Geschmack skurril oder diskriminierend anmutende Leseprüfung für schwarze Wähler entfiel erst 1964.

Die Weimarer Verfassung

Nachdem die deutschen Fürsten einschließlich des Kaisers 1919 abgedankt hatten – heute würde man sagen, zurückgetreten waren -, gab es die in der Verfassung festgeschriebene konstitutionelle Monarchie nicht mehr. Schon deswegen war es an der Zeit, eine neue Verfassung zu beschließen, denn die Staatsorganisation von 1871 existierte ja nicht mehr. Am 19.1. / 2.2.1919 kam es zur Wahl einer Nationalversammlung, die auch ausdrücklich als verfassunggebende Versammlung konzipiert war. Sie trat am 6.2.1919 in Weimar zusammen. In ihren Beratungen spielte natürlich auch die Paulskirchenverfassung ebenso eine Rolle, wie der damalige Stand der verfassungsrechtlichen Lehre in den juristischen Fakultäten. Staatsrechtlich wurde ein republikanischer Staatsaufbau gewählt, hinzu trat ein Grundrechtskatalog. Der Verfassungstext wurde von den hierzu berufenen Vertretern der verfassunggebenden Versammlung am 11.8.1919 unterzeichnet. Die nach ihrem Entstehungsort Weimarer Verfassung genannte Verfassung des Deutschen Reiches gilt heute unter Verfassungsrechtlern als durchaus respektables Werk und hat auch mit dem heute geltenden Grundgesetz sehr viele Gemeinsamkeiten. Sie blieb bis zum Zusammenbruch der staatlichen Ordnung Deutschlands am 8.5.1945 in Kraft, wenngleich sie faktisch bereits am 28.2.1933 mit der sogenannten Reichstagsbrandverordnung auf Wunsch, besser Befehl, Hitlers durch den Reichspräsidenten von Hindenburg außer Kraft gesetzt worden war.

Das Grundgesetz

Der 8.5.1945 führte mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht nicht nur das Ende der Kampfhandlungen herbei, sondern die staatliche Ordnung war nicht mehr existent. Es existierte keine Reichsregierung mehr, und auch die nachgeordneten Staatsgewalten waren entweder weggefallen oder ohne Legitimation. Zwar arbeiteten tatsächlich die Verwaltungsbehörden auf unterer Ebene weiter. Die Staatsgewalt war jedoch völkerrechtlich gemäß Art. 42 der Haager Landkriegsordnung auf die Besatzungsmächte übergegangen (occupatio bellica). Art. 43 HLKO bestimmt für diesen Fall: „Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrecht zu erhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.“ Somit war nicht nur eine ordnungsgemäße staatliche Verwaltung und Rechtsprechung zu gewährleisten, was ja auch tatsächlich geschah, unbeschadet dessen, daß durch die Kontrollratsgesetze der Alliierten als nationalsozialistisch kontaminiert erkannte Gesetze außer Kraft gesetzt worden waren. Es war auch die öffentliche Ordnung in Gestalt der Staatsorganisation wiederherzustellen. Grundlage jeder modernen Staatsorganisation ist eine Verfassung. Der einfachste Weg dazu wäre natürlich gewesen, es bei der rechtlich nach wie vor existenten Weimarer Verfassung zu belassen. Indessen hielten es die Alliierten für geboten, eine neue Verfassung beschließen zu lassen, natürlich unter ihrer Aufsicht und unter Beachtung ihrer Vorstellungen von einem demokratischen und gewissermaßen von Geburt an gegen das nationalsozialistische Virus immunen Deutschland. Die weitreichenden Rechte des Reichspräsidenten verdächtigten sie als Einfallstor für Diktatoren, obgleich doch die Stellung des Präsidenten in den USA noch stärker ist, als die des deutschen Reichspräsidenten jemals war, sieht man von den sogenannten Notverordnungen ab, die man jedoch aus der Verfassung hätte streichen können.

Nachdem die deutschen Länder politisch, teilweise in neuen Grenzen, wiederhergestellt waren und über demokratisch gewählte Parlamente verfügten, wurde aus insgesamt 65 Abgeordneten der Länderparlamente ein Parlamentarischer Rat genannter Verfassungssausschuss gegründet. Er konstituierte sich am 1.9.1948 in Bonn. Seine Beratungen bauten auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee auf, der von den Ministerpräsidenten der Länder einberufen worden war. Er tagte vom 10. bis 23.8.1948 und leistete in dieser kurzen Zeit die Vorarbeit für den späteren Verfassungstext. Ihm gehörten natürlich die maßgeblichen deutschen Verfassungsjuristen jener Zeit an. Der Parlamentarische Rat hatte einen ausdrücklich vorläufigen Charakter, wie auch die zu beschließende Verfassung selbst. Das beruhte auf der allgemeinen Überzeugung in Deutschland, daß wegen der inzwischen bereits faktisch eingetretenen Teilung infolge der Abspaltung des sowjetisch besetzten Teils Deutschlands nur in den Besatzungszonen der Westalliierten ein demokratisches Staatswesen errichtet werden konnte. Die Wiedervereinigung indessen war fest ins Auge gefasst und wurde auch in der neuen Verfassung festgeschrieben. Um diesen provisorischen Charakter des Unternehmens auch sprachlich zu kennzeichnen, sprach man nicht von einer Verfassunggebenden Versammlung, sondern von einem Parlamentarischen Rat, und nannte die Verfassung auch nicht so, sondern Grundgesetz. Es trat bekanntlich am 23.5.1949 in Kraft. Auch wenn die Staatsgewalt damals noch gemäß Art. 43 HLKO in den Händen der Alliierten lag, gab sich das deutsche Volk in den Besatzungsgebieten der Westalliierten durch gewählte Volksvertreter eine Verfassung im materiellen Sinne. Ihre Rechtsgültigkeit kann nicht infrage gestellt werden. Zwar ist es allgemeine Auffassung, daß die Befugnis zur Erstellung einer Verfassung in einer Demokratie nur beim Volk liegen kann. Indessen ist nirgendwo geregelt, in welcher Form diese Befugnis ausgeübt wird. In einer repräsentativen Massendemokratie kann das nur eine gewählte Vertreterversammlung sein; über die Art und Weise der Wahl und Auswahl gibt es einfach keine allgemein verbindlichen Regelungen. Sicher ist nur, daß nicht in jedem Falle eigens eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden muß, wie schon die Befugnis des Bundestages und Bundesrates zur Änderung der Verfassung zeigt. Der pouvoir constituant kann demgemäß durchaus eine Abordnung gewählter Parlamentarier sein.

Leute ohne juristische Kenntnisse vertreten vielfach die Meinung, wir hätten schon deswegen keine Verfassung, weil doch Art. 146 des Grundgesetzes lautete bis 1990:

Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Eine solche Verfassung gebe es bis heute nicht. Das ist natürlich Unsinn. Im Einigungsvertrag vom 31.8.1990, der am 20.9.1990 von Bundestag und Volkskammer der DDR angenommen worden ist, wurde die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Grundlage einer neu beschlossenen Verfassung verwirklicht, sondern man wählte bewusst den Weg über Art. 23 GG, der den Beitritt deutscher Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes regelte. Das hatte den rechtlichen Vorteil der Kontinuität der bestehenden Verfassung und damit auch, worauf wir noch kommen werden, der Identität der nun größer gewordenen Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich, das von Rechts wegen am 8.5.1945 eben nicht untergegangen ist. Das ist jedenfalls einhellige Auffassung der Juristen, die dann auch bereits am 31.7.1973 vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR festgehalten worden ist. Denn, so das Gericht:

„Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! – geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte, noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe, selbst nicht handlungsfähig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt ‚verankert‘. Verantwortung für ‚Deutschland als Ganzes‘ tragen – auch – die vier Mächte. Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat Deutsches Reich, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings „teilidentisch“, sodaß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht. Die Bundesrepublik umfasst also, was ihr Staatsgebiet und ihr Staatsvolk angeht, nicht das ganze Deutschland, unbeschadet dessen, daß sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts „Deutschland“ (Deutsches Reich), zu dem die eigene Bevölkerung als untrennbarer Teil gehört, und ein einheitliches Staatsgebiet „Deutschland“ (Deutsches Reich), zu dem ihr eigenes Staatsgebiet als ebenfalls nicht abtrennbarer Teil gehört, anerkennt. Sie beschränkt staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den „Geltungsbereich des Grundgesetzes“, fühlt sich aber auch verantwortlich für das gesamte Deutschland (vgl. Präambel des Grundgesetzes). Derzeit besteht die Bundesrepublik aus den in Art. 23 GG genannten Ländern, einschließlich Berlin; der Status des Landes Berlin der Bundesrepublik Deutschland ist nur gemindert und belastet durch den sogenannten Vorbehalt der Gouverneure der Westmächte. Die Deutsche Demokratische Republik gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden.“ (Die jeweils vom Gericht zitierten Belegstellen habe ich der leichteren Lesbarkeit wegen weggelassen.)

Soweit die maßgeblichen Passagen in diesem Urteil zum hier behandelten Thema. Anzumerken ist, daß hier bereits die rechtliche Gestaltung der Wiedervereinigung 1990 über Art. 23 GG vorgezeichnet worden ist.

Folgerichtig beschloss der Deutsche Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit die Neufassung des Art. 146 GG, der nunmehr lautet:

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Zum einen ist damit festgehalten, daß das Grundgesetz von 1949 weiterhin gilt, nur auf dem inzwischen größer gewordenen Staatsgebiet. Zum anderen wird damit die an sich banale Tatsache deklaratorisch festgehalten, daß dieses Grundgesetz wie jedes andere Gesetz und auch jeder andere Verfassung, durch eine nachfolgende neue Verfassung aufgehoben und ersetzt werden kann. Dies folgt aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz lex posterior derogat legi priori, für Nichtlateiner: das spätere Gesetz setzt das voraufgegangene Gesetz außer Kraft. Dieser Grundsatz gilt seit Alters her auf allen Rechtsgebieten einschließlich des Staats- und Völkerrechts. Jedenfalls unter Juristen gibt es darüber keinen Streit.

Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ist auch, daß durch ständige Beachtung von Verträgen, Rechtsvorschriften und Institutionen Gewohnheitsrecht entsteht und verfestigt wird. Die Staatsordnung des Grundgesetzes ist seit 1949 in unzähligen Wahlen vom Volk immer wieder bestätigt worden. Denn wenn auf der Grundlage der damals beschlossenen Verfassung namens Grundgesetz immer wieder Parlamente gewählt, von Ihnen erlassene Gesetze befolgt und die Urteile der von dieser Verfassung geschaffenen Gerichte beachtet werden, dann kann man durchaus von einer opinio communis, also einer allgemeinen Überzeugung ausgehen, daß dieser Staat in dieser Form existiert. Diese Verfassung stellt sich seit 1949 immer wieder dem Plebiszit. Selbst wenn man der abwegigen Auffassung wäre, die Verfassung von 1949 sei nicht rechtmäßig zustande gekommen, dann müsste man unter Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, daß auch vollmachtloses Handeln durch Genehmigung legitimiert wird, eben diese Genehmigung durch das Volk über Jahrzehnte hinweg feststellen.

Namen sind Schall und Rauch

Selbst ernannte Verfassungsjuristen mit Reichsbürgerqualität verweisen gern triumphierend darauf, daß wir ja nur ein Grundgesetz und keine Verfassung haben. Dieses Argument ist, zurückhaltend ausgedrückt, unbehelflich. Zur rechtlichen Qualität als Staatswesen gehören nach allgemeiner Anschauung die drei Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Ob ein solcher Staat eine Verfassung hat oder nicht, ob sie Verfassung heißt oder nicht, ist völkerrechtlich ohne jeden Belang. Die nach allgemeiner Auffassung älteste Demokratie der Welt, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, besitzt ebenso wenig eine geschriebene Verfassung wie etwa Israel und Neuseeland. Die Verfassung Dänemarks heißt Grundgesetz, Schweden hat eine Verfassungsgrundlage, die wörtlich übersetzt „Regierungsform“ heißt. Die griechische Verfassung heißt Syntagma, was so viel wie „Zusammenordnung“ bedeutet, im altgriechischen auch ein Wort für Heerbann oder Kontingent. Auch wenn inzwischen der provisorische Charakter des Staates Bundesrepublik Deutschland und seiner Grundgesetz genannten Verfassung weggefallen sind, und deswegen auch, seinem materiellen Gehalt entsprechend, die Bezeichnung Grundgesetz ohne weiteres durch das Wort Verfassung ersetzt werden könnte, es würde sich nichts ändern. Die Wiedervereinigung der nach den kriegsbedingten und völkerrechtlich festgeschriebenen Gebietsverlusten verbliebenen deutschen Länder und der Wegfall der alliierten Vorbehalte im 2 + 4 Vertrag haben das Deutsche Reich von den Kriegsfolgen mit Ausnahme der Gebietsverluste befreit. Sein neuer Name Bundesrepublik Deutschland spiegelt nicht nur seine staatsrechtliche Organisation wieder, sondern entspricht auch eher seiner verminderten politischen und geographischen Größe, als der doch mächtig daher kommende Name Deutsches Reich.

 

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