Cherson – Rußlands moralischer Bankrott?

Im Weltnetz kursieren Videos, in denen zu sehen ist, wie ukrainische Soldaten in Cherson mit hämischen Kommentaren Plakate herunterreißen auf denen steht: „Dies ist Rußland und es wird ewig Rußland bleiben“. Zur gleichen Zeit sollen sich am Ufer des Dnjpr tausende Menschen versammelt haben, die vergeblich darauf warten, noch evakuiert zu werden. Angeblich haben sie vom russischen Abzug nichts mitbekommen, nach tagelangen Stromausfällen ohne Fernsehen, Radio, Internet. Nun sind die Ukrainer wieder da, und was den Zurückgebliebenen droht, haben Soldaten des Gegners in ihren Netzbotschaften angekündigt: blutige Rache.

Der russische Abzug aus dem Gebiet rechts des Dnjpr fand unter merkwürdigen Umständen statt. Erstmals hat das russische Verteidigungsministerium Zahlen bekanntgegeben: Es sollen 30.000 Soldaten und 2000 Fahrzeuge ohne Verluste den Fluß überquert haben. Stimmt dies, so wird nachvollziehbar, warum die Russen sich zurückgezogen haben. Mit diesen schwachen Kräften wäre eine Verteidigung des Chersoner Gebietes unmöglich gewesen. Die Russen wären von einer wenigstens vierfachen ukrainischen Übermacht einfach überrannt und in den Fluß geworfen worden. Die Zahl läßt aber auch den Verdacht aufkommen, daß die Russen gar nicht vorhatten, die Region Cherson rechts des Dnjpr ernsthaft zu verteidigen.

Die „Spezielle Militäroperation“ der Russen, welche im Februar diesen Jahres begann, hatte vor allem zum Ziel jene Gebiete des Donbaß zu „befreien“, die jahrelangem Terror der ukrainischen Seite ausgesetzt waren. Nachdem man sie besetzt hatte, betonte Moskau stets, diese Gebiete würden nie wieder aufgegeben werden. War das zu vollmundig? Bereits die russische Niederlage von Charkow im Sommer 2022 läßt das vermuten. Schon dort waren Menschen im Stich gelassen worden, die sich auf das Versprechen Putins verlassen hatten. Nicht wenige von ihnen sollen der Rache der Ukrainer zum Opfer gefallen sein.

Und nun Cherson. In Rußlands Öffentlichkeit tobt eine heftige Diskussion: Es gibt Verständnis für die militärische Entscheidung zum Rückzug (Kunststück, denn Widerstand wäre aussichtslos gewesen), aber auch von Verrat ist die Rede. Schließlich hat Rußland erst vor Kurzem im Rahmen einer pompösen Zeremonie jene Gebiete der Russischen Föderation einverleibt, welche sie bereits zum Teil ohne Kampf wieder geräumt hat. Auf der anderen Seite aber erscheint es wenig wahrscheinlich, daß Moskau diese Territorien auf militärischem Wege wieder zurückerobern könnte.

Moskau sagt dennoch, man stünde ja erst am Beginn des Krieges; die Befreiung aller annektierten Teile sei nach wie vor das Ziel der Militäroperation. Das klingt nach den zurückliegenden Ereignissen hohl. Übrigens: Die so rasche und für die Russen verlustarme Räumung des Chersoner Gebietes kann nur dadurch erklärt werden, daß man sich mit den Ukrainern vorher geeinigt hat. Ein hart und konsequent nachdrängender Gegner hätte die stark unterlegenen russischen Kräfte kaum entkommen lassen. Es gab also zweifellos einen Handel. Aber wie sah der aus? Was hat Rußland dafür versprochen? Vielleicht, die geräumten Gebiete nicht erneut zu beanspruchen?

Die Informationen sind zwar unsicher und die Schlüsse vorläufig, doch es könnte gut sein, daß Cherson den moralischen Bankrott der Russen im Ukrainekrieg bedeutet. Mal sehen, ob Putin das politisch überlebt.

Die Redaktion

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