Der Konflikt in der Ukraine spitzt sich zu

von Dr. Walter Post

Am 7. Januar 2023 erschien in der „Washington Post“ ein aufsehenerregender Meinungsbeitrag, der von niemand geringerem als der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice und dem ehemaligen Verteidigungsminister Robert M. Gates verfaßt war. Rice und Gates machen deutlich, daß die militärische Lage der Ukraine alles andere als rosig ist, und daß sie dringend umfangreiche Lieferungen an militärischem Material, insbesondere an Panzerfahrzeugen, benötigt, und zwar nicht in Monaten, sondern in Wochen. Rice und Gates schreiben wörtlich:

„Obwohl die Ukraine auf die Invasion heldenhaft reagiert und ihre Streitkräfte brillante Leistungen erbracht haben, liegt die Wirtschaft des Landes in Trümmern, Millionen Menschen sind geflohen, ihre Infrastruktur wird zerstört, und ein Großteil der Bodenschätze, Industriekapazitäten und landwirtschaftlichen Flächen stehen unter russischer Kontrolle. Die militärischen Fähigkeiten und die Wirtschaft der Ukraine hängen jetzt fast vollständig von Hilfe aus dem Westen ab – in erster Linie von den Vereinigten Staaten. Ohne einen weiteren großen ukrainischen [operativen] Durchbruch und Erfolg gegen die russischen Streitkräfte wird der Druck des Westens auf die Ukraine, einen Waffenstillstand auszuhandeln, im Laufe der Monate des militärischen Stillstands zunehmen. Unter den gegenwärtigen Umständen würde jeder ausgehandelte Waffenstillstand die russischen Streitkräfte in einer starken Position belassen, und sie könnten ihre Invasion fortsetzen, wann immer sie wollten. Das ist inakzeptabel.

Die einzige Möglichkeit, ein solches Szenario zu vermeiden, besteht darin, daß die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten der Ukraine umgehend eine dramatische Erhöhung der militärischen Ausrüstung und Fähigkeiten zubilligen – ausreichend, um eine erneute russische Offensive abzuschrecken und um es der Ukraine zu ermöglichen, die russischen Streitkräfte im Osten und Süden zurückzudrängen. Der Kongreß hat genug Geld bereitgestellt, um eine solche Verstärkung zu bezahlen. Was jetzt gebraucht wird sind Entscheidungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, den Ukrainern die zusätzliche militärische Ausrüstung bereitzustellen, die sie benötigen – vor allem Panzerfahrzeuge. Das US-Abkommen vom vergangenen Donnerstag [5. Januar 2023] zur Lieferung von ‚Bradley‘-Schützenpanzern ist lobenswert, wenn auch überfällig. Da mit der Lieferung schwerer amerikanischer ‚Abrams‘-Panzer ernsthafte logistische Herausforderungen verbunden sind, sollten Deutschland und andere Verbündete diesen Bedarf decken. Die NATO-Mitglieder sollten den Ukrainern auch Langstreckenraketen, hochentwickelte Drohnen, erhebliche Munitionsvorräte (einschließlich Artilleriemunition), Aufklärungs- und Überwachungstechnik und andere Ausrüstung zur Verfügung stellen. Diese Ressourcen werden in Wochen, nicht in Monaten gebraucht.“[1]

Was Rice und Gates andeuten, ist die Tatsache, daß es hier nicht mehr um einen Konflikt zwischen der Ukraine und Rußland, sondern um einen Stellvertreterkrieg der NATO mit Rußland handelt. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow hat dies mitlerweile ganz offen ausgesprochen, verbunden mit der Hoffnung, daß die Ukraine bald auch offiziell NATO-Mitglied werden könne; Resnikow erklärte:

„Auf dem NATO-Gipfel in Madrid [im Juni 2022] wurde klar umrissen, daß die Hauptbedrohung für das Bündnis im kommenden Jahrzehnt die Russische Föderation sein werde. Heute eliminiert die Ukraine diese Bedrohung. Wir [die Ukrainer] führen heute die Mission der NATO aus. Sie vergießen nicht ihr Blut. Wir vergießen unseres. Deshalb müssen sie uns mit Waffen versorgen“.  Der Minister sagte, Kiew werde ständig von seinen „westlichen Partnern“ daran erinnert, daß es „wie ein echter Schild die gesamte zivilisierte Welt, den gesamten Westen“, vor den Russen „verteidigt“, und er erklärte weiter, er persönlich habe kürzlich dementsprechende Weihnachtsgrüße und SMS von westlichen Verteidigungsministern erhalten. Resnikow brachte seine „absolute“ Gewißheit über den Beitritt der Ukraine zur NATO zum Ausdruck und sagte, er sei „überzeugt, daß dies eine absolut realistische Möglichkeit ist.“[2]

Die Auffassung, daß es sich mittlerweile um einen Konflikt zwischen der Russischen Föderation und der NATO handelt, wird von der Russischen Regierung geteilt. Der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation Nikolai Patruschew äußerte  gegenüber der Zeitung „Argumenti i Fakti“: „Die Ereignisse in der Ukraine sind keine Auseinandersetzung zwischen Moskau und Kiew – dies ist eine militärische Konfrontation zwischen Rußland und der NATO, und vor allem den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Der Plan des Westens ist es, Rußland aufzuteilen und am Ende einfach von der politischen Weltkarte zu streichen.“

Nach Patruschews Äußerungen gefragt, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow auf einer Pressekonferenz, die NATO und die Vereinigten Staaten seien Teil des Ukraine Konflikts: „De facto sind sie bereits indirekt an diesem Konflikt beteiligt, indem sie Waffen, Technik, Geheimdienstinformationen usw. in die Ukraine pumpen.“[3]

Der russische Außenminister Sergej Lawrow ging in einem Fernsehinterview am 28. Dezember 2022 in Moskau sogar noch weiter: „Wir befinden uns im Krieg mit dem kollektiven Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten, die eine Atommacht sind. Dieser Krieg wurde vor Jahren nach dem Putsch in der Ukraine erklärt, er wurde von den Vereinigten Staaten organisiert und von der EU unterstützt, und niemand hatte vor, die Vereinbarungen von Minsk umzusetzen. … Angela Merkel hat dies bestätigt.“ Lawrow machte im Folgenden eine Andeutung, die man als Hinweis auf eine bevorstehende große militärische Operation verstehen kann: „Wir möchten den Krieg, auf den sich der Westen vorbereitete und der schließlich durch die Ukraine gegen uns entfesselt wurde, so schnell wie möglich beenden.“[4]

Am 12. Januar 2023 erschien in der Zeitschrift „Emma“ ein Interview mit Brigadegeneral a.D. Erich Vad, dem ehemaligen sicherheitspolitischen Berater von Angela Merkel, zum Konflikt in der Ukraine. Die von Alice Schwarzer herausgegebene „Emma“ beschäftigt sich in erster Linie mit Fragen des Feminismus und ist bisher nicht durch besondere Expertise für Außen- und Sicherheitspolitik hervorgetreten. Offenbar ist es General a.D. Vad nicht gelungen, ein Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ oder der „Welt“ unterzubringen, weshalb er auf die in diesem Zusammenhang eher ungewöhnliche „Emma“ zurückgreifen mußte. Dabei erweist sich seine Interviewpartnerin, Annika Ross, als durchaus aufgeschlossen und sachkundig.

Auf Ross‘ Eingangsfrage, welche Meinung er „zu der gerade von Kanzler Scholz verkündeten Lieferung der 40 Marder an die Ukraine“ habe, antwortet Vad: „Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen – auch wenn der über 40 Jahre alte Marder keine Wunderwaffe ist. Wir begeben uns auf eine Rutschbahn. Das könnte eine Eigendynamik entwickeln, die wir nicht mehr steuern können.“ Auf die Folgefrage nach den möglichen Konsequenzen erwidert der General: „Will man mit den Lieferungen der Panzer Verhandlungsbereitschaft erreichen? Will man damit den Donbass oder die Krim zurückerobern? Oder will man Russland gar ganz besiegen? Es gibt keine realistische End-State-Definition.“ Dann spricht Vad von einer „militärisch operative[n] Patt-Situation, die wir … militärisch nicht lösen können.“ Dies, so Vad, sei übrigens auch die Meinung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley [Der Begriff „Patt-Situation“ ist tatsächlich eine Umschreibung für die bevorstehende Niederlage der Ukraine, d. Verf.]. Vad zitiert Milleys Aussage, „dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten sei und dass Verhandlungen der einzig mögliche Weg seien. Alles andere bedeutet den sinnlosen Verschleiß von Menschenleben.“ Vad fährt fort: „General Milley löste mit seiner Äußerung in Washington viel Ärger aus und wurde auch öffentlich stark kritisiert. Er hat eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen. Eine Wahrheit, die in den deutschen Medien übrigens so gut wie gar nicht publiziert wurde. Das Interview mit Milley von CNN tauchte nirgendwo größer auf, dabei ist er der Generalstabschef unserer westlichen Führungsmacht.“

Annika Ross erinnert General Vad daran, daß auch er schon „für die Forderung nach Verhandlungen angegriffen“ worden sei, worauf Vad entgegnet: „Ja, ebenso der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, der wie ich davor gewarnt hat, die regionalbegrenzten Offensiven der Ukrainer in den Sommermonaten [tatsächlich September/Oktober] zu überschätzen. Militärische Fachleute – die wissen, was unter den Geheimdiensten läuft, wie es vor Ort aussieht und was Krieg wirklich bedeutet – werden weitestgehend aus dem Diskurs ausgeschlossen. Sie passen nicht zur medialen Meinungsbildung. Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe. Das ist pure Meinungsmache. Und zwar nicht im staatlichen Auftrag, wie es aus totalitären Regimen bekannt ist, sondern aus reiner Selbstermächtigung. … Es gibt weitestgehend keinen fairen offenen Diskurs mehr zum Ukraine-Krieg, und das finde ich sehr verstörend.“ Zur Politik von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bemerkt Vad: „Die Eindimensionalität der aktuellen Außenpolitik ist nur schwer zu ertragen. … Die Mutation der Grünen von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei verstehe ich nicht. Ich selbst kenne keinen Grünen, der überhaupt auch nur den Militärdienst geleistet hätte.“

Auf die Frage, was nach einer Lieferung von „Leopard“-Panzern geschehen könne, wird Vad deutlich, von einer „militärisch operativen Patt-Situation“ ist jetzt nicht mehr die Rede: „Dann stellt sich erneut die Frage, was mit den Lieferungen der Panzer überhaupt passieren soll. Um die Krim oder den Donbass zu übernehmen, reichen die Marder und Leoparden nicht aus. In der Ostkukraine, im Raum Bachmut, sind die Russen eindeutig auf dem Vormarsch. Sie werden wahrscheinlich den Donbass in Kürze vollständig erobert haben [Hervorhebung durch den Verfasser]. Man muss sich nur allein die numerische Überlegenheit der Russen gegenüber der Ukraine vor Augen führen. Russland kann bis zu zwei Millionen Reservisten mobil machen. Da kann der Westen 100 Marder und 100 Leoparden hinschicken, sie ändern an der militärischen Gesamtlage nichts. Und die alles entscheidende Frage ist doch, wie man einen derartigen Konflikt mit einer kriegerischen Nuklearmacht – wohlbemerkt der stärksten Nuklearmacht der Welt! – durchstehen will, ohne in einen Dritten Weltkrieg zu gehen. Und genau das geht hier in Deutschland in die Köpfe der Politiker und der Journalisten nicht hinein!“[5]

Man kann davon ausgehen, daß die Überlegungen, die General Vad äußert, auch in Kreisen der Bundeswehrführung verbreitet sind. Vad macht deutlich, daß westliche Waffenlieferungen die Niederlage der Ukraine allenfalls verzögern, aber nicht aufhalten können.

Vor dem Krieg soll die Ukraine 2.500 Kampfpanzer, 12.500 gepanzerte Fahrzeuge und 3.500 große Artilleriesysteme besessen haben, von denen aber höchstens 50 Prozent einsatzfähig waren. Der Rest befand sich in einem Zustand, der von stark reparaturbedürftig bis schrottreif reichte. Im Verlauf des Krieges dürfte ein erheblicher Teil dieses nicht einsatzfähigen Materials wieder instandgesetzt und an die Front geschickt worden sein. Gleichzeitig wurden folgende Waffensysteme aus dem Westen geliefert:

  • 410 Kampfpanzer aus der Sowjetära, geliefert von NATO-Mitgliedern aus dem früheren Warschauer Pakt, in erster Linie Polen, Tschechien und Slowenien;
  • 300 Schützenpanzer, darunter 250 sowjetische Modelle aus ehemals kommunistischen Staaten;
  • 100 gepanzerte Mannschaftstransportwagen, einschließlich 300 M113 und 250 M1117;
  • 300 gezogene Haubitzen, 220 Selbstfahrlafetten bzw. Panzerhaubitzen;
  • 95 Mehrfachraketenwerfer.
  • außerdem eine Anzahl von Kampfflugzeugen, Hubschraubern und Luftabwehrsystemen.

Nach Angaben des Russischen Verteidigungsministeriums wurden im Zuge der „Besondern Militärischen Operation“ bis zum 17. Januar 2023 durch die Russischen Streitkräfte vernichtet:

7.549 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 984 Mehrfachraketenwerfer, 3.853 Geschütze und Mörser sowie 8.081 Einheiten militärischer Spezialausrüstung. Die ukrainischen Forderungen nach zusätzlichen Waffenlieferungen belegen, daß die Zahlen des Russischen Vereidigungsministeriums nicht aus der Luft gegriffen sind.[6]

Zur aktuellen militärischen Lage in der Ukraine gab der Oberst a.D. der US-Army Douglas MacGregor am 16. Januar 2023 ein Interview, in dem er die Aussichten der Kiewer Regierung als denkbar schlecht darstellte. Da MacGregor zu den von ihm genannten Zahlen und Fakten keine Herkunftsangaben macht, kann man davon ausgehen, daß sie aus dem Pentagon stammen.

Jede Kriegführung in Rußland und in der Ukraine wird durch die „Rasputiza“, die Schlammperiode bzw. Regenzeit im Frühjahr und Herbst, schwer behindert. Derzeit ist der Boden in der Nordukraine, so MacGregor, seit Wochen gefroren und Operationen motorisierter und gepanzerter Verbände wieder möglich. In der Südukraine hat anhaltender Bodenfrost erst am 11. Januar, also sehr spät, eingesetzt, was bedeutet, daß die Bodenverhältnisse ab Mitte Februar unbehinderte Operationen zulassen.

Die Stadt Bachmut ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten ukrainischen Verteidigung in der Südukraine und im Donbaß, die ukrainische Führung versucht deshalb, die Stadt mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Eroberung der Stadt Soledar im Nordosten von Bachmut durch die Wagner-Organisation und reguläre russische Truppen bedeutet für die Ukrainer eine empfindliche Niederlage. Bachmut ist jetzt von Norden, Osten und Süden eingeschlossen, es führt nur noch eine Straße von Westen in die Stadt, die im Wirkungsbereich der russischen Artillerie liegt.

Die ukrainische Führung hat bisher 14-15 Brigaden (Sollstärke je 4.000 Mann) in und um Bachmut eingesetzt, diese wegen der drohenden Einschließung bis auf zwei oder drei aus der Stadt selbst zurückgezogen. Die ukrainischen Verluste, in erster Linie durch die russische Artillerie, sind horrend, sie betragen bis zu 70 Prozent pro Verband, das sind 2.800 Mann Gefallene und Verwundete pro Brigade. Die Verluste der ukrainischen Streitkräfte betragen seit Kriegsbeginn insgesamt etwa 150.000 Tote und 450.000 Verwundete, die effektive Truppenstärke der ukrainischen Armee beträgt nur noch 140 – 150.000 Mann. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mittlerweile die Mehrzahl der Offiziere und Unteroffiziere durch Tod oder Verwundung ausgefallen ist.

Der Oberkommandierende der Russischen Streitkräfte in der Ukraine, Armeegeneral Sergei  Surowikin verfügt in Weißrußland über 100.000 Mann Kampftruppen, im Raum östlich von Charkow 100.000 Mann und in der Südukraine 80.000 – 90.000 Mann. Surowikin, so MacGregor, wird die verheerenden Verluste der ukrainischen Truppen in der Südukraine nicht ungenutzt lassen. Sobald die ukrainischen Stellungen durchbrochen sind, liegt zwischen Kramatorsk, der letzten größeren Stadt im Donbaß, und dem Dnjepr offenes flaches Gelände, das ideal für die Panzerkriegführung ist. Die Russen verfügen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz mittlerweile über etwa 2.000 Kampfpanzer, 3.000 – 4.000 gepanzerte Fahrzeuge sowie mehrere Tausend Mehrfachraketenwerfer, Artilleriesysteme und Kurzstreckenraketen.

Die ukrainischen Reserven, die für eine ukrainische Frühjahrsoffensive vom Raum Saporoschje aus in Richtung Melitopol vorgesehen waren, um die Landverbindung zwischen der Krim und Rußland zu durchtrennen, sind in den Kämpfen um Bachmut verbraucht worden. Die den Ukrainern versprochenen westlichen schweren Waffensysteme werden erst in einigen Monaten eintreffen, da sie erst technisch überholt und einsatzfähig gemacht werden müssen, außerdem sind die Mengen völlig unzulänglich. Nach dem Zusammenbruch des ukrainischen Widerstandes östlich des Dnjepr werden die Russen sehr wahrscheinlich die noch verbliebenen ukrainischen Truppen westlich des Dnjepr zerschlagen und das Selenskyj-Regime beseitigen, da letzteres eine permanente Bedrohung der nationalen Sicherheit Rußlands darstellt. Bei einem Vorstoß der r ussischen Armee aus Weißrußland in Richtung Kiew besteht allerdings die Gefahr eines Zusammenstoßes mit in die Westukraine einrückenden polnischen und amerikanischen Verbänden. Die US-Truppen sind, so MacGregor abschließend, auf eine militärische Konfrontation mit den Russen nicht wirklich vorbereitet, d.h. sie laufen Gefahr, eine empfindliche Niederlage zu erleiden.[7]

Colonel MacGregor ist der Überzeugung, daß es in den kommenden Wochen zu einer großen russischen Winteroffensive kommen wird. Diese Auffassung wird aber von verschiedenen anderen Beobachtern nicht geteilt, diese glauben eher an eine Fortsetzung der russischen Abnutzungsstrategie.[8]

Der ehemalige Bundeswehroffizier „Bernhard“ von „Moon of Alabama“ weist darauf hin, daß die Ukrainer bei Bachmut-Soledar an einem Frontabschnitt von nur 50 Kilometer Breite 27 Brigaden konzentriert haben.[9] Rechnet man realistisch, daß die ukrainischen Brigaden derzeit nur noch die Hälfte ihrer Sollstärke, also etwa 2.000 Mann, haben, dann sind dies 54.000 Mann, rund ein Drittel der noch vorhandenen ukrainischen Kampftruppen. Die Frage ist, ob es dem Russischen Generalstab wirklich darum geht, Bachmut zu erobern, oder ob das Ziel nicht vielmehr darin liegt, die Ukrainer zu zwingen, diese Stadt mit allen Mitteln zu verteidigen, während gleichzeitig die ukrainischen Truppen von der russischen Artillerie dezimiert werden. In jedem Fall schränkt die ukrainische Kräftekonzentration bei Bachmut-Soledar die ukrainische Operationsfähigkeit an anderen Frontabschnitten empfindlich ein. Anders gesagt, die Ukrainer haben eigentlich keine verfügbaren Reserven, um russische Großoffensiven an anderen Frontabschnitten abzuwehren. Wenn es General Surowikin gelingen sollte, die ukrainischen Kräfte im Raum Bachmut einzukesseln und zu vernichten, wäre der Krieg praktisch gewonnen. Der Russische Generalstab verfügt derzeit über eine ganze Reihe von Optionen, welche er wählen wird, ist völlig offen, die russische Geheimhaltung funktioniert ausgezeichnet.

In der westlichen Diskussion über die Lieferung schwerer NATO-Kampfpanzer an die Ukraine werden eigenartigerweise die Erfahrungen ignoriert, die die deutsche Wehrmacht mit ihren schweren Panzern der Typen „Panther“ (44,8 Tonnen)[10], „Tiger I“ (56,9 Tonnen) und „Tiger II“ (69,8 Tonnen) 1943 bis 1945 gemacht hat. Das Gewicht war im für das in Osteuropa typische Gelände nicht das Problem, da dank breiter Ketten der Bodendruck begrenzt werden konnte. „Tiger“ und „Panther“ waren im Kampfeinsatz sehr erfolgreich, vorausgesetzt sie besaßen gut ausgebildete Besatzungen und wurden taktisch richtig eingesetzt. Vor allem aber benötigten sie Unmengen von Treibstoff und einen außerordentlich hohen Wartungs- und Instandsetzungsaufwand, der von frontnahen Werkstätten geleistet werden mußte. Selbst ohne Gefechtseinwirkung gab es bei diesen Fahrzeugen ständig irgendwelche technischen Defekte, vor allem im Bereich Motor, Getriebe und Laufwerk.

Ungeachtet des technischen Fortschritts seit 1945 benötigen auch „Leopard 2“ (62 Tonnen), M1 „Abrams“ (66,8 Tonnen) und „Challenger 2“ (64 Tonnen), die in der gleichen Gewichtsklasse wie „Tiger I“ und „Tiger II“ sind, einen sehr hohen Wartungs- und Instandsetzungsaufwand, und es ist mehr als zweifelhaft, ob die ukrainische Armee diesen leisten kann. Die Fahrzeuge sind seit 1945 wesentlich komplizierter geworden, die Wehrmachts-Panzer hatten, abgesehen von den Funkgeräten, noch keine Elektronik, d.h. keine Bordcomputer, Laserentfernungsmesser, automatisierte Zielauffassung und Nachtsichtgeräte. Russische bzw. sowjetische Kampfpanzer sind deutlich kleiner und leichter, sie bewegen sich in der Gewichtsklasse von 46 Tonnen (T-72B3, T-80 und T-90M).

Die NATO müßte in der Ostukraine selbst Reparaturwerkstätten einrichten und die Ersatzteilversorgung sicherstellen, allerdings wären diese Werkstätten bevorzugte Ziele von russischen Marschflugkörpern und nach kurzer Zeit vernichtet. Die erste Schwierigkeit mit einem defekten schweren Panzer ist das Vorhandensein geeigneter Abschleppfahrzeuge auf dem Gefechtsfeld, was für die Wehrmacht seinerzeit ein ständiges Problem war. Man benötigte zwei bis drei 18-Tonnen-Halbkettenzugmaschinen im Gespann oder einen „Bergepanther“ für einen „Panther“ oder „Tiger“. Wenn diese Abschleppfahrzeuge nicht vorhanden waren, mußte der schwere Kampfpanzer aufgegeben werden, die meisten Totalverluste sind auf diese Weise zustande gekommen. Die in der Ukraine vorhandenen Abschleppfahrzeuge sind für Panzer der 46-Tonnen-Klasse ausgelegt, d.h. es müßten zwei Bergepanzer zusammengespannt werden. Nach dem Abschleppen müßten die NATO-Kampfpanzer mit der Eisenbahn auf Spezialtransportern über 1.000 Kilometer nach Polen geschafft, dort repariert, und wieder über 1.000 Kilometer zurück in die Ostukraine verbracht werden. Die Verfügbarkeit bzw. Einsatzbereitschaft würde dadurch natürlich drastisch herabgesetzt.

Die Frage, inwieweit ukrainische Panzerbesatzungen in einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen überhaupt halbwegs vernünftig an diesen Fahrzeugen ausgebildet werden können, ist offen. Eine vollständige Beherrschung der komplizierten Technik erscheint eher unwahrscheinlich.

Ein weiteres Problem ist, daß die NATO-Staaten diese Kampfpanzer nicht mehr oder nur noch in minimalen Stückzahlen produzieren und daher nur auf die vorhandenen Bestände zurückgreifen können. Von den 244 „Leopard 2“ der Bundeswehr sind derzeit aber höchstens 120 einsatzbereit.[11] Die deutsche Industrie hat keine einsatzfähigen „Leopard“ 2 oder „Leopard 1“ anzubieten, die Lieferzeit für generalüberholte alte Fahrzeuge aus Werksdepots beträgt etwa ein Jahr.

Die Russen haben in der Ukraine bisher über 7.500 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge vernichtet, die meisten durch Artillerie und Kampfhubschrauber. Kampfpanzer sind für das Gefecht der verbundenen Waffen konzipiert, d.h. für ein Zusammenwirken mit mit Luftwaffe, Luftabwehr, Artillerie, Infanterie und Pionieren (Beseitigung von Minen, Verstärkung von Brücken). Ohne diese Unterstützung laufen sie Gefahr, sehr schnell ausgeschaltet zu werden. All diese Voraussetzungen sind in der Ukraine, anders als 1943/44 bei der Wehrmacht, nicht oder nur in unzulänglichem Maße vorhanden.

Welchen militärischen Effekt die Lieferung westlicher schwerer Kampfpanzer an die Ukraine haben wird, ist daher mehr als ungewiß. Am Kriegsausgang werden sie höchstwahrscheinlich nichts ändern.

[1] Condoleezza Rice, Robert M. Gates, Time is not on Ukraine’s side, washingtonpost.com 7.1.2023; https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/07/condoleezza-rice-robert-gates-ukraine-repel-russia/

[2] Bombshell Admission: Ukraine is ‘Carrying Out NATO’s Mission’ Against Russia, Defense Chief Says, Sputnik International 7.1.2023; https://sputniknews.com/20230107/bombshell-admission-ukraine-is-carrying-out-natos-mission-against-russia-defense-chief-says-1106118578.html

[3] Guy Faulconbridge Russia is now fighting NATO in Ukraine, top Putin ally says, Reuters 10.1.2023; https://news.yahoo.com/putin-ally-patrushev-says-russia-083017713.html

[4] Foreign Minister Sergey Lavrov’s interview with the Great Game programme on Channel One, Moscow, December 28, 2022; The Ministry of Foreing Affairs of the Russian Federation, 28.12.2022; https://mid.ru/en/foreign_policy/news/1845915/

[5] Erich Vad: Was sind die Kriegsziele? Annika Ross, emma.de, 12. Januar 2023;

https://www.emma.de/artikel/erich-vad-was-sind-die-kriegsziele-340045

[6] Ukraine SitRep – Media Ignorance, Counter-Artillery War, Three Lost Armies, Moon of Alabama 17.1.2023; https://www.moonofalabama.org/2023/01/ukraine-sitrep-media-ignorance-counter-artillery-war-three-lost-armies-.html#more

[7] Ukraine is collapsing under the weight of Russian Offensives. Straight Calls with Colonel McGregor, 16.1.2023; https://www.youtube.com/watch?v=O5UQPjjRR-0

[8] NATO wonder weapons w/Brian Berletic from The New Atlas (Live), The Duran 17.1.2023

https://www.bitchute.com/video/FYRaNFY2zPw/

[9] Ukraine SitRep – Media Ignorance, Counter-Artillery War, Three Lost Armies, Moon of Alabama 17.1.2023; https://www.moonofalabama.org/2023/01/ukraine-sitrep-media-ignorance-counter-artillery-war-three-lost-armies-.html#more

[10] Nach den Maßstäben des Zweiten Weltkrieges zählte der „Panther“ wie der amerikanische M26 „Pershing“ und der sowjetische „Josef Stalin-2“ zu den schweren Panzern.

[11] Oberst bei Illner: „Die Lage der Bundeswehr ist prekär“; Elisa David, Tichys Einblick 20.1.2023; https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/medien/oberst-bei-illner-die-lage-der-bundeswehr-ist-prekaer/

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