Alfred de Zayas: NATO verdient die Bezeichnung «kriminelle Organisation»

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Von ALFRED DE ZAYAS | Was ist eine kriminelle Organisation? Der Durchschnittsbürger denkt sofort an lokale und internationale Drogenkartelle, Menschenhändlerringe, Gesellschaften für Kinderpornographie, Spielhöllen oder die Mafia. Vielleicht aufgrund eines künstlich geschaffenen Bildes, unterfüttert von westlichen Medien, wird die NATO nicht ohne weiteres als „kriminelle Organisation“ erkannt.

Ursprünglich war NATO keine kriminelle Organisation. Im Vertrag zur Gründung der NATO vom 4. April 1949 heißt es unter Artikel 5:

„Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle anzusehen ist, und sie kommen daher überein, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung der angegriffenen Vertragspartei oder den angegriffenen Vertragsparteien dadurch beisteht, dass sie unverzüglich einzeln und in Abstimmung mit den anderen Vertragsparteien die Maßnahmen ergreift, die sie für notwendig erachtet, einschließlich der Anwendung bewaffneter Gewalt, um die Sicherheit des nordatlantischen Raums wiederherzustellen und zu erhalten.“

Ursprünglich verfolgte die NATO ein legitimes Sicherheitsziel, das mit Kapitel VIII der UN-Charta (Art. 52–54) vereinbar war und regionale Vereinbarungen zulässt, sofern diese mit Ziel und Zweck der UN-Charta in Einklang stehen und dem UN-Sicherheitsrat untergeordnet sind. Gemäß Artikel 103 der Charta („Vorrangklausel“) hätte im Falle eines Konflikts zwischen irgendeinem Vertrags[bündnis] und dem der [NATO-]Charta die Charta den Vorzug.

Solange die Sowjetunion Westeuropa bedrohte und eine Expansion nach Westen plante, war es für die westlichen Staaten legitim, Maßnahmen der kollektiven Sicherheit zu ergreifen. Eine Folge des NATO-Vertrages war, dass die Sowjetunion als konkurrierendes Bündnis den Warschauer Pakt (1955–1991) organisierte, doch die Drohung der gegenseitig gesicherten Vernichtung durch Atomwaffen beide Lager davon abhielt, sich gegenseitig zu attackieren. Dies änderte sich 1989, als der friedliebende sowjetische Führer Michail Gorbatschow die sowjetischen Streitkräfte aus Mittel- und Osteuropa abzog und sich vom damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush und Außenminister James Baker zusichern ließ, dass sich NATO „keinen Zentimeter“ nach Osten bewegen werde.

Für einen kurzen Moment schien die Möglichkeit des Weltfriedens samt gegenseitiger Abrüstung realistisch. Dieser Traum wurde von US-Präsident Bill Clinton zunichte gemacht, weil er den Ratschlägen der Neokonservativen [Neo-Cons] mit den imperialistischen Plänen des Politikwissenschaftlers Zbigniew Brzezinski folgte: Dieser hatte die Idee einer unipolaren Welt[ordnung] – unter dem Hegemon USA, der im Wesentlichen die UNO ersetzen sollte – ausgeheckt. Clintons Entscheid die NATO, entgegen den verbindlichen Zusagen, nach Osten zu erweitern, wurde schon von George F. Kennan’s Essay in der New York Times vom 5. Februar 1997 als „verhängnisvoller Fehler“ scharf angeprangert.

Nach 1997 verwandelte sich die NATO schleichend von einem „Verteidigungsbündnis“ in einen geopolitischen Koloss zur Unterjochung des Restes der Welt. Bereits in den 1990er Jahren beteiligten sich NATO-Staaten an der Zerstörung der territorialen Integrität Jugoslawiens und 1999 bombardierte die NATO ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats Jugoslawien unter Verstoß gegen Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen.

Der Angriffskrieg der NATO im Jahr 1999 war die Generalprobe für das, was folgen sollte. Das brachte auch schwere Kriegsverbrechen mit sich, darunter die wahllose Bombardierung ziviler Ziele unter Einsatz von Waffen ohne Unterschied, wie durch abgereichertes Uran und Streubomben. Jugoslawien war nur der Auftakt zu einer Reihe von Überfällen gegen Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und andere Länder, in deren Folge Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit völlig ungestraft verübt worden sind. Der Internationale Strafgerichtshof, der im Wesentlichen im Dienste des „kollektiven Westens“ steht, hat es versäumt, diesen Verbrechen nachzugehen: Kein einziger westlicher Politiker oder Militärführer wurde jemals angeklagt.

Bei den Nürnberger Prozessen 1945–46 hatte die amerikanische Delegation geplant, 14 Organisationen als kriminell anzuklagen, die später auf sechs reduziert wurden: Reichskabinett, Führungskorps der NSDAP, Gestapo, SA, SS/SD sowie den Generalstab bzw. das Oberkommando der deutschen Wehrmacht. Ziel war es, diese Organisationen rückwirkend für kriminell erklären zu lassen, um Teilnehmer schon wegen ihrer bloßen Mitgliedschaft verurteilen zu können. Natürlich verstößt dieses Konzept gegen die Rechtsstaatlichkeit, da es eine Kollektivbestrafung darstellt und den Grundsatz der Unschuldsvermutung untergräbt.

Während das Nürnberger Urteil drei Organisationen per se als kriminell einstufte, wurden SA, Reichskabinett bzw. Wehrmacht als nicht kriminell erkannt. Das Nürnberger Urteil schuf einen (schlechten) Präzedenzfall, der auf NATO-Länder und NATO-Streitkräfte angewendet werden könnte. Dies ist jedoch nicht erforderlich, da die Verstöße der NATO-Streitkräfte gegen die Haager – und Genfer Konvention so gut dokumentiert sind, dass jedes Gericht mit entsprechender Zuständigkeit die Mitglieder der NATO-Streitkräfte auf der Grundlage der bestehenden Konventionen verurteilen könnte, ohne sich auf das Konzept einer kriminellen Vereinigung stützen zu müssen.

Unter dem Strich haben die NATO-Streitkräfte seit den 90er Jahren zwar Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, doch wichtig wäre inzwischen, dass die Weltöffentlichkeit die NATO als eine Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Menschheit begreift. Ihre ständigen Provokationen stellen die größte Gefahr für unser Überleben als Spezies dar. Auch wenn die NATO die Bezeichnung „kriminelle Organisation“ verdient, geht es nicht darum, Kriegsverbrecherprozesse zu führen, sondern die Bedrohung zu neutralisieren.

Der Artikel erschien zuerst über Global Times

Zum Autor: Alfred de Zayas ist Professor für Recht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und diente von 2012 – 2018 als unabhängiger UN-Experte für die internationale Ordnung. Er ist der Autor von zahlreichen Büchern, darunter seine letzte Neuerscheinung: „Building a Just World Order“ (Clarity Press, 2021).

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