John F. Kennedys Rede vor der American University in Washington D.C. am 10. Juni 1963

von Karl Jürgen Müller

Das Jahr 2023 darf nicht ausklingen, ohne erneut zu betonen, dass Politiker und Staaten grundlegende Aufgaben und Pflichten nicht nur haben, sondern auch erfüllen müssen. Der in unseren Ländern begangene Rechtsbruch durch Politik und Staat mittels der Berufung auf Konstrukte wie «Staatsräson», «Ausnahmezustand», «besondere Notlage» oder ähnliches bedeutet höchste Gefahr für einen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Hinter solchen Konstrukten verbirgt sich in der Regel nicht nur der Rechtsbruch und ein Rückschritt in absolutistische Verhältnisse, sondern auch eine immer aggressiver werdende Macht- und Kriegspolitik.

Die politische Ethik, so wie sie zum Beispiel von der Naturrechtslehre formuliert wurde1, weist Politik und Staat vornehmste Aufgaben und Pflichten zu: die Sicherung des inneren und äußeren Friedens. Politik und Staat sollen der Garant dafür sein, dass die im Staatsgebiet lebenden Menschen ihre Persönlichkeit gleichberechtigt in Freiheit und Würde entfalten und solidarisch zusammenleben und zusammenarbeiten können.
Davon haben sich unsere Politiker und unsere Staaten entfernt. Zu viele sind der Auffassung, die politische Ethik formuliere lediglich unrealistische Ideale. Die Realität zwinge Politik und Staat zur reinen Macht- und damit auch Kriegspolitik. Frieden sei nur eine wirklichkeitsfremde Utopie. Ethik und Moral hätten in der (Real-)Politik keinen Platz.
Der Blick in Geschichte und Gegenwart zeigt indes, dass es durchaus namhafte Politiker gab und gibt, die im Sinne der politischen Ethik handeln wollten und wollen und auch dementsprechend handelten und handeln. Sie sind dadurch zu Leuchttürmen, Orientierung gebenden Persönlichkeiten geworden – auch wenn ihnen gewalttätiger Widerstand drohte und droht und ihre Pläne nicht sogleich verwirklicht werden konnten und können.
An dieser Stelle soll an die Friedens-Rede des US-Präsidenten John F. Kennedy erinnert werden, die dieser am 10. Juni 1963 vor Hochschullehrern und Studenten der American University in Washington D.C. gehalten hat. Erinnert werden auch deshalb, weil wir heute, 60 Jahre später, bei Politikern der westlichen Hemisphäre nahezu vergeblich nach solchen Reden, geschweige denn Taten, Ausschau halten. – Vergleichbares können wir derzeit fast nur aus anderen Weltgegenden hören.

Kennedy, Chruschtschow und die Kuba-Krise

John F. Kennedy hielt seine Rede etwas mehr als ein halbes Jahr nach der Bewältigung der Kuba-Krise. Die Welt war haarscharf an einem Atomkrieg «vorbeigeglückt» («just lucked out»), nicht zuletzt, weil sich nicht die Scharfmacher in den USA und in der Sowjetunion durchsetzen konnten, sondern auf beiden Seiten diejenigen, die dafür plädierten, eine friedliche, eine Verhandlungslösung zu suchen und für das Gegenüber einen Gesichtsverlust oder gar eine demütigende Niederlage zu vermeiden.
Vor kurzem freigegebene Dokumente aus Moskau2 belegen, dass der US-Präsident schon vor der Kuba-Krise den Kontakt mit dem damaligen Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita Chruschtschow, gesucht hatte, und beide um eine Entspannung ihrer bilateralen Beziehungen und Abrüstung bemüht waren – Chruschtschow hatte schon in den Jahren vor der Kuba-Krise immer wieder von der Möglichkeit einer «friedlichen Koexistenz» der beiden Atommächte gesprochen.3
Kennedy selbst war es nicht vergönnt, seinen Worten vom 10. Juni viele politische Schritte folgen zu lassen. Nicht einmal ein halbes Jahr nach seiner Washingtoner Rede wurde er am 22.November 1963 ermordet – wohl auch wegen seiner Friedensbemühungen, wie mittlerweile zugängliche Dokumente belegen.4

«Das wichtigste Thema in der Welt: der Weltfrieden»

Die ausführliche Rede Kennedys gibt es auch in deutscher Übersetzung.5 Hier soll nur auf ein paar Kerngedanken verwiesen werden. Eingangs betont der US-Präsident, dass es ihm «um das wichtigste Thema in der Welt» geht: «den Weltfrieden». Danach definiert er, was er unter Frieden versteht:
«Welche Art Frieden streben wir an? Es geht hier nicht um eine Pax Americana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird. Auch geht es nicht um den Frieden des Grabes oder um die Sicherheit der Sklaven. Ich spreche von echtem Frieden, von der Art Frieden, die das Leben auf der Erde lebenswert macht, von der Art Frieden, durch die Menschen und Nationen wachsen, hoffen und für ihre Kinder die Grundlage einer besseren Zukunft legen können. Ich spreche nicht nur von Frieden für Amerikaner, sondern von Frieden für alle Männer und Frauen. Auch geht es nicht nur darum, dass in unserer Zeit Frieden herrscht, sondern für alle Zeiten.»

«Totaler Krieg ist sinnlos»

Kennedy sagt, warum ihm der Frieden gerade in seiner Zeit so wichtig ist:
«Ich spreche von Frieden, weil sich das Gesicht des Krieges verändert hat. Totaler Krieg ist in einem Zeitalter sinnlos, in dem Großmächte viele und relativ unbezwingbare Atomwaffen unterhalten können und sich weigern, ohne Einsatz dieser Waffen zu kapitulieren. Er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem die Explosion einer einzigen Atomwaffe nahezu zehnmal so stark ausfällt wie die Waffen aller alliierten Luftstreitkräfte des Zweiten Weltkriegs zusammen. Er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem die tödlichen Gifte, die bei einem atomaren Austausch freigesetzt werden, mit Wind, Wasser, Erde und Saatgut in die entlegensten Winkel dieser Erde gebracht und Generationen, die noch nicht einmal geboren wurden, davon in Mitleidenschaft gezogen werden würden.»
Hinzu kommt:
«Derzeit müssen wir zur Friedenssicherung jedes Jahr Milliarden von Dollars für Waffen ausgeben, die nur gekauft werden, damit wir sie niemals einsetzen. Der Erwerb eines solch ungenutzten Arsenals, das ausschließlich zu zerstörerischen, nicht jedoch zu konstruktiven Zwecken eingesetzt werden könnte, ist sicherlich nicht die einzige und schon gar nicht die effizienteste Methode der Friedenssicherung.»
Ein anderer, ein wirklicher Frieden sei deshalb «das notwendige rationale Ziel vernünftiger Menschen».

Krieg ist vermeidbar

Kennedy spricht sich dagegen aus, der Sowjetunion die alleinige Schuld am Unfrieden zu geben und mit Verweis auf die Sowjetunion von der Unmöglichkeit des Friedens zu sprechen. Statt dessen fordert er die Bürger seines eigenen Landes auf, über ihre eigene Haltung zum Frieden nachzudenken.
«Lassen Sie uns überlegen, wie wir zum Frieden an sich stehen. Zu viele Menschen unter uns glauben, dass es nicht möglich sei, in Frieden zu leben. Zu viele denken, dass dies unrealistisch sei. Dies ist jedoch eine gefährliche, defätistische Ansicht. Sie führt zu der Schlussfolgerung, dass Krieg unvermeidbar ist und dass die Menschheit dem Schicksal verfallen ist und von Kräften geleitet wird, die sie nicht kontrollieren kann. Wir müssen diese Ansicht nicht akzeptieren. Unsere Probleme wurden von Menschen verursacht, weshalb sie auch von Menschen gelöst werden können. Ein Mensch kann all das erreichen, was er sich vornimmt. Kein Problem, das mit dem menschlichen Schicksal in Verbindung gebracht wird, übersteigt menschliche Fähigkeiten. Menschen haben schon oft unter Einsatz ihrer Vernunft und ihres Geistes scheinbar unüberwindbare Probleme gelöst, und wir glauben, dass sie dazu auch in Zukunft in der Lage sein werden.»

Politik der vielen kleinen Schritte

Seine Ideen, so Kennedy, seien keine Phantasterei, sondern eine realistischer Betrachtungsweise der weltpolitischen Situation und der Tatsache konkurrierender Weltmächte:
«Ich beziehe mich hier nicht auf das absolute, grenzenlose Konzept von Frieden und Wohlwollen […]. Wir sollten uns statt dessen auf eine praktischere Art von Frieden konzentrieren, die sich eher erzielen lässt und die nicht auf einer plötzlichen Umwälzung der menschlichen Natur basiert, sondern auf einer allmählichen Evolution der menschlichen Institutionen, auf einer Reihe konkreter Maßnahmen und wirksamer Vereinbarungen, die im Interesse aller Beteiligten stehen. Für diese Art von Frieden gibt es keine einfache Lösung, die allein zu Erfolg führt, keine großartige Zauberformel, die von einer oder zwei Großmächten angewandt werden könnte. Echter Frieden muss das Produkt zahlreicher Nationen sein, die Summe vieler Maßnahmen. Er muss dynamischer und nicht statischer Natur sein, und er muss an die veränderten Herausforderungen jeder neuen Generation angepasst werden. Denn bei Frieden handelt es sich um einen Prozess, um eine Methode, Probleme zu lösen.»

«Streitpunkte auf gerechte und friedliche Weise beilegen»

Dem fügt er hinzu: «Bei solch einem Frieden wird es dennoch zu Streitigkeiten und Interessenkonflikten kommen, wie dies für Familien und Nationen eben einmal typisch ist. Für Weltfrieden, wie auch für den Frieden innerhalb einer Gemeinschaft, ist es nicht erforderlich, dass jeder Mensch seinen Nachbarn liebt. Es ist lediglich erforderlich, dass sie in der Lage sind, durch gegenseitige Toleranz zusammenzuleben und Streitpunkte auf gerechte und friedliche Weise beizulegen. Die Geschichte lehrt uns ja, dass Feindschaften zwischen Nationen nicht ewig andauern, und dies gilt auch für Menschen. Wie tief unsere Vorlieben und Abneigungen auch verwurzelt sein mögen, die Beziehungen zwischen Nationen und Nachbarn verändern sich im Laufe der Zeit und unter Berücksichtigung neuer Ereignisse oft auf überraschende Weise.
Lassen Sie uns daher beharrlich sein. Es muss nicht sein, dass Frieden nicht zu verwirklichen ist, und Krieg muss nicht unvermeidbar sein. Wenn wir unser Ziel genauer definieren, wenn wir dafür sorgen, dass es realisierbarer und greifbarer erscheint, dann können wir einen Beitrag dazu leisten, dass das Ziel von allen Menschen erkannt wird, dass es in ihnen Hoffnung hervorruft und dass wir uns unaufhaltsam immer weiter auf dieses Ziel zu bewegen.»

Respekt vor dem Gegenüber

Kennedy verneint nicht, dass er das politische System der Sowjetunion ablehnt. Aber er sagt auch:
«Trotzdem können wir den Russen auf Grund ihrer zahlreichen Errungenschaften zujubeln, in Wissenschaft und Raumfahrt, beim wirtschaftlichen und industriellen Wachstum, in der Kultur und bei mutigen Handlungen.»
Und er ergänzt: «[…] in der Kriegsgeschichte hat noch nie eine Nation dermaßen viel Leid ertragen müssen wie die Sowjetunion im Laufe des Zweiten Weltkriegs. Damals kamen mindestens 20 Millionen Menschen ums Leben. Unzählige Millionen Wohnhäuser und Bauernhöfe wurden niedergebrannt oder geplündert. Ein Drittel des Staatsgebiets, und hierzu zählten fast zwei Drittel seiner industriellen Basis, wurden in eine Öde verwandelt.»

Gemeinsame Interessen

Schließlich, und mit diesen Zitaten soll die Wiedergabe von Kennedys Friedens-Rede enden, sagt er:
«Sollte heutzutage noch einmal ein totaler Krieg ausbrechen, egal wie, dann wären unsere beiden Länder [USA und Sowjetunion] die Hauptangriffsziele. […] Alles, was wir aufgebaut haben, alles, wofür wir gearbeitet haben, würde in den ersten 24 Stunden zerstört werden. Und selbst im Kalten Krieg, durch den so viele Nationen – und darunter auch die engsten Alliierten dieser Nation – belastet und gefährdet werden, tragen unsere beiden Länder die schwerste Last. Denn beide Länder geben gewaltige Summen für Waffen aus, obwohl diese Gelder besser für die Bekämpfung von Unwissenheit, Armut und Krankheiten verwendet werden könnten. Beide Länder sind in einem gefährlichen Teufelskreis gefangen, in dem das Misstrauen, das auf einer Seite herrscht, auch auf der anderen Seite Misstrauen hervorruft. So führen neue Waffen dazu, dass auch auf der anderen Seite das Waffenarsenal vergrößert wird.
Kurzum, sowohl die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten als auch die Sowjetunion und ihre Alliierten haben ein tiefes, auf Gegenseitigkeit beruhendes Interesse daran, dass ein gerechter und ehrlicher Frieden herrscht und dem Wettrüsten Einhalt geboten wird. […]
Lassen Sie uns daher unsere Differenzen nicht ignorieren, aber wir müssen uns auch auf unsere gemeinsamen Interessen konzentrieren und darauf, wie wir diese Differenzen überwinden können. Und sollten wir nicht in der Lage sein, unseren Differenzen jetzt ein Ende zu setzen, so können wir zumindest einen Beitrag dafür leisten, dass auf dieser Welt eine sichere Grundlage für Vielfalt gelegt wird. Letzten Endes besteht unsere grundlegendste Gemeinsamkeit darin, dass wir alle auf diesem kleinen Planeten leben. Wir alle atmen dieselbe Luft. Uns allen liegt die Zukunft unserer Kinder am Herzen. Und wir alle sind sterblich.»

Der Kriegspolitik widersprechen

Alleine der Verweis auf die vor 60 Jahren gehaltene Friedens-Rede des US-Präsidenten John F. Kennedy wird keine Umkehr unserer heutigen Politiker und anderer Kriegsbefürworter bewirken. Im Gegenteil, derzeit gibt es jenseits und diesseits des Atlantiks noch immer zu viele Politiker und Vertreter anderer gesellschaftlicher «Eliten», die ernsthafte Friedensverhandlungen ablehnen und statt dessen einer Fortsetzung und Ausweitung des Krieges in der Ukraine – und nicht nur dort – das Wort reden. Beispiele sind Äußerungen des US-Präsident Biden vor dem US-Kongress am 6.Dezember, die Reden der deutschen SPD-Spitze auf ihrem Parteitag am 9. und 10. Dezember, der Gastbeitrag der grünen deutschen Außenministerin Baerbock für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 10.Dezember oder ein in der Wochenzeitung Zeit vom 14. Dezember veröffentlichter Aufruf von 70 deutschen Politikern und anderen Kriegsbefürwortern, den Krieg in der Ukraine nicht enden lassen zu wollen. Im Zentrum steht immer wieder die Propaganda-Lüge, Russland bedrohe die Freiheit Europas.
Das ist die gegenwärtige politische Realität in einem Westen, dessen «Eliten» uns «kriegstüchtig» machen wollen. Was uns Bürger aber nicht daran hindern sollte, darüber nachzudenken, ob Kennedy 1963 nicht recht hatte – ob er nicht auch heute rechte hätte. Bürger können der eskalierenden Kriegspolitik unserer «Eliten» widersprechen – und sie können die weltweiten Friedensinitiativen, die es auch heute gibt, auch aus der Politik, aufgreifen und unterstützen – auch wenn es der vermeintliche «Feind» ist, der sie formuliert.
Wir Bürger müssen den Kriegstrommeln nicht folgen. Umfragen bestätigen immer wieder6, dass dies auch tatsächlich so ist. Sehr gut, wenn dem passiven Nicht-Einverstanden-Sein friedensfördernde Aktivitäten folgen – jeder Mensch auf die ihm eigene Art. •

1 vgl. die wohl umfassendste Darstellung bei Johannes Messner. Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 7.Auflage, Berlin 1984
2 vgl. https://www.anti-spiegel.ru/2023/russland-bezweifelt-die-offizielle-version-des-kennedy-attentats/  vom 20.11.2023
3 vgl. kurz dazu den Eintrag bei Wikipedia zum Begriff «Friedliche Koexistenz»
4 vgl. zum Beispiel den sehr informativen Film von Oliver Stone aus dem Jahr 2021: «JFK Revisited – Die Wahrheit über den Mord an John F. Kennedy»
5https://www.jfklibrary.org/de/node/11881 
6 aktuell zum Beispiel: «Deutschland verliert an internationalem Einfluss. Umfrage der Körber-Stiftung zeigt die Sicht der Deutschen auf die Aussenpolitik»; https://koerber-stiftung.de/presse/mitteilungen/deutschland-verliert-an-internationalem-einfluss/  vom 27.11.2023

Dieser Beitrag erschien  auf www.zeit-fragen.ch im Dezember 2023.

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